Archiv für September, 2012

Freie Gabel auf der Straße des Todes

von CHRISTOPH WESEMANN

Provinz Corrientes, Kilometer 452 der Ruta Naci0nal 14, einer Straße mit fürchterlichem Spitznamen. Buenos Aires ist eine Weltreise oder eben 650 Kilometer entfernt. Neben dem Sitz steht griffbereit der Mate, der – wie Argentinier glauben – auch den Appetit zügelt. Aber vor diesem Hunger, der einen rechts und links Rinder sehen lässt, wo keine sind, kapituliert er.

Zeit für eine Rast in der Parrilla.

Der Asador, der Grillmeister, verspricht in seinem Zelt »tenedor libre«, also »freie Gabel«, die argentinische Variante des »all you can eat«. Es gibt Chorizos, diese groben Würste, natürlich carne und pollo. Immer wieder köstlich, dass der Argentinier zwischen »Fleisch« und »Huhn« unterscheidet. Fleisch kommt nur vom Rind. Huhn ist kein Fleisch, sondern – Huhn.

Unser Asador hat inzwischen den Tisch gedeckt und die Getränke gebracht. Er bietet auch Salat an und verspricht eine Nachspeise. Aber was ist bloß mit den Kindern los? Sie verlangen Servietten – und bekommen eine Küchenrolle.

Mit dem Besen verscheucht der Asador die zwölf Hunde (geschätzt). Die 55 Fliegen (ebenfalls geschätzt), die auf dem noch rohen Fleisch vor dem Grill Starten und Landen üben, sind deutlich hartnäckiger. Die Grillstube wirkt ein bisschen schmuddelig und staubig, aber dass jetzt eine argentinische Großfamilie einkehrt, ist bestimmt ein gutes Zeichen. Die deutsche Großfamilie empfängt es wie ein Gütesiegel vom Hygieneamt.

Eine Stunde später wird man die argentinische Großfamilie an einer Tankstelle wiedersehen und feststellen, dass es eine uruguyaische Großfamilie ist. Das Oberhaupt wird sagen: »Uruguay ist das bombastischste Land der Welt. Und Uruguayer sind die geilsten Typen auf Gottes Erde.« Da muss man natürlich widersprechen. »Hör mal! Argentinien: der tollste Fußball, das beste Fleisch, die schönsten Frauen, die breiteste Straße der Welt und die längste Straße, der höchste Berg Südamerikas. Und jetzt kommst du, mein Freund.« Er fragt, in wie vielen Etappen man die 1300 Kilometer vom Norden in die Hauptstadt zurückzulegen gedenkt. Man flüstert: drei Tage. Riesengelächter. Brrrrrruuuuuuuuaaarrrrrr. Er macht‘s in einem Ritt, er fährt sowieso wie der Teufel höchstpersönlich. »Meine Frau schimpft immer mit mir, wenn ich 200 fahre«, sagt er, »aber sie schimpft auch, wenn ich 10 fahre. Also fahre ich 200.«

Noch zweimal wird er einen überholen und Sekunden später am Horizont verschwunden sein. Er muss wohl öfter halten, sei es, dass den Kindern von der Raserei schlecht wird, sei es, dass sein weißer Pickup zu viel Sprit schluckt. Die eigene Rennstrategie ist: ein gleichmäßiges Tempo von 140, zwanzig mehr als erlaubt, und wenige Boxenstopps.

Der Asador bringt das Fleisch. »Woher seid ihr?«, fragt er. »Frankreich?«
Also, bitte.
»Beckenbauer! Äh, wie nennt ihr ihn: Kaiser?«
Fußballwissen wird abgefragt. Daniel Passarella, den Namen schon mal gehört? Sag mal, wo spielt Carlos Tévez noch mal? Ach ja, stimmt, ein guter Stürmer. Warum ist Messi, als er 13 war, mit seiner Familie nach Barcelona ausgewandert? Unglaublich.

Irgendwas schlägt auf den Magen. Das Fleisch? Die Fliegen? Die Musik aus dem Lieferwagen draußen? Auf die Zunge und die Eingeweide verzichtet man jetzt doch. Und um den Asador nicht zu beleidigen, reicht man die unverzehrten Steakreste an die Hunde unterm Tisch weiter.

Die Toilette ist auf dem Hof. Damals, nach dem Mauerfall, wusste man nicht, wie das Westwasser aus dem Hahn kommt, weil es nichts zum Drehen gab. So ist das hier auch. Man fuchtelt mit den Händen herum und hofft auf ein Wunder. Tja, dann eben nicht.

Der Flan als Nachspeise schmeckt trotzdem.
»Von der Señora zubereitet?«
»Jaja, von der Mutter vom Dickerchen da.«

Der Junge, vielleicht 17 Jahre alt, hat die Statur eines Gewichthebers, er sieht aus, als hätte man Manfred Nerlinger den Schädel abgenommen und einen Indianerkopf raufgeschraubt. Seit einer halben Stunde schleppt er Kisten aus dem Transporter vor der Parrilla, meist drei auf einmal, ohne dass es ihn anstrengt.

Und dann geht es zurück auf die Ruta 14. Die Straße entlang der Grenzen zu Uruguay und Brasilien beginnt in der Provinz Entre Ríos, führt durch die Provinz Corrientes und endet nach 1127 Kilometern in der Provinz Misiones kurz vor den Wasserfällen von Iguazú hoch im Norden. Ruta 14 heißt: oft nur eine Spur in jede Richtung, viele Berge, viele Lastwagen, viele Baustellen, viele Polizeikontrollen, viele Unfälle.

Eine Strecke mit einem fürchterlichen Spitznamen: »ruta de la muerte«, »Straße des Todes«.

 

Tigerstaat

von CHRISTOPH WESEMANN

Stille.

Ein Ausflugslokal, kurz bevor der Río Cápitan in den Río Paraná fließt, der wiederum in den Río de la Plata fließt. Wir sind im Paraná-Delta, nördlich von Buenos Aires,  einem beliebten Erholungsgebiet der Porteños, der immer gestressten Hauptstädter. Das »Labyrinth aus mehr als 350 Inseln, Flüssen und Kanälen« ist halb so groß wie Belgien und eines der größten Süßwasserdeltas der Welt. Danke, Reiseführer.

Stilleunterbrechung: Zweimannjetskirockerbande.

Wieder Stille; unbeschreiblich nur, weil Stille nun mal stille ist.

Bald, in ein paar Wochen schon, erzählen Porteños, wird es hier laut sein und voll und unerträglich. Wohlhabende Hauptstädter haben im Delta ein Häuschen auf Stelzen, das sie entweder selbst bewohnen oder zu sagenhaften Preisen vermieten. Im Reiseführer steht: »Während der Gelbfieberepidemie, unter der Buenos Aires 1871 litt, diente das Delta vielen Städtern als rettender Hafen fern der Seuche.«

Der Ausflug durchs Delta beginnt in der Stadt Tigre. Tiger haben in der Provinz Buenos Aires nie gelebt, aber irgendein Tierbanause hat vor Jahrhunderten mal die Jaguare, die es gab, zu Tigern erklärt. Vielleicht war es auch ganz anders. Die Geschichte des Stadtnamens ist auch ein Labyrinth.

Rauf aufs Wassertaxi. An der Ostsee nennt man so was Barkasse. Schön eng ist’es drinnen. Was nicht lebt und Hunde kommen oben aufs Dach. Der Kapitän sitzt auf einem Barhocker und trägt Slipper an nackten Füßen, Sonnenbrille, Fünftagebart, einen Haarspoiler. Der Mate ist griffbereit.

Abfahrt. Die Haltestellen werden durchgebrüllt. Es geht immer ganz schnell: anlegen am Steg, Tau festbinden, Passagiere raus, der Taufestbinder hält den Señoras selbstverständlich die Hand. Weiter geht’s.

Die Kinder des Deltas fahren übrigens auch mit dem Schiff zur Schule, weil’s keine Straßen gibt. Supermarktschiffe bringen, was die Leute so brauchen.

Che, schau mal, das Museum des früheren Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento (1811 bis 1888). Sein altes Wochenendhaus steht in einem Glaskasten. Diesmal spicken wir nicht im Reiseführer, denn der Sohn hat Sarmiento, den großen argentinischen Helden, gerade im Unterricht durchgenommen. Los, Sohn, erzähl doch mal, was der Kerl so gemacht hat?

»Also, der war … äh, der hat … ich weiß nicht genau … er hat viel gearbeitet.«
Viel besser kann man’s nicht sagen.
Hast dir einen Fuffi verdient, Junge.

Hach, wäre es schön, wenn man begabt wäre, Natur zu beschreiben. Ist man aber nicht. Zurück nach Buenos Aires.

Und keiner nimmt den Feuerlöscher

von CHRISTOPH WESEMANN

Entweder sind sie sich ihrer Sache sehr sicher, oder sie sind übergeschnappt. Anders lässt sich die Reaktion der Regierung auf die Proteste am vergangenen Donnerstag nicht erklären. Da gingen allein in der Hauptstadt Buenos Aires zwischen 50 000 und 100 000 Menschen auf die Straße, um sich über die Politik der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und vor allem deren Herrschaftsstil zu beklagen. »Se va a acabar/se va a acabar/la dictadura de los K«, sangen sie, als wäre es schon beschlossen. »Sie wird enden, die Diktatur der Kirchneristen.«

In vielen anderen Städten dieses großen Landes wurde, angesteckt von den sonst nicht gerade geliebten Hauptstädtern, ebenfalls protestiert. In Mendoza sollen es nach Polizeiangaben 10 000 gewesen sein, in Córdoba 15 000. Es sind die größten Kundgebungen seit vier Jahren, und die Bürger waren nicht etwa einem Aufruf von Gewerkschaften oder Parteien gefolgt. Im Gegenteil: Die Opposition hat kurz vor Abmarsch Unterstützung signalisieren dürfen, gerade noch rechtzeitig, um sich nicht komplett lächerlich zu machen. Leute ohne Parteibuch hatten das kollektive Topfschlagen (cacerolazo) selbst und spontan organisiert. So etwas gelingt nur, wenn sich eine Menge Wut aufgestaut hat, wenn viele Fäuste vom dauernden Ballen schon schmerzen.

Und die Regierung? Sie reagiert so, wie es jedem vernünftigen Krisenmanagement widerspricht. Sie nimmt die Proteste nicht ernst, sondern macht sie lächerlich. Sie versucht nicht, das erste Feuerchen zu löschen, sondern legt selbst noch ein paar neue Brände. So verurteilte Kabinettschef Abal Medina die Protestierer als Leute, denen es wichtiger ist, was in Miami passiert als in San Juan«. Dass diese vermeintlich schlechten Patrioten wieder und wieder die Hymne gesungen hatten, störte ihn offenkundig nicht. Medina sprach von einer »Minderheit« und rief ihr zu, doch eine Partei zu gründen und Wahlen zu gewinnen. Mehr Arroganz geht kaum. In Juan, einer Stadt im Westen des Landes, hatte Cristina Kirchner am Donnerstagabend – parallel zu den Protesten – übrigens eine Lacostefabrik eröffnet. Die Präsidentin selbst sagte: »Ich werde nicht nervös, und die werden mich auch nicht nervös machen.«

Deutlich schlauer scheinen einige kirchneristische Gouverneure zu sein, auch wenn mancher, dem Lust auf die nächste Präsidentschaft nachgesagt wird, sicher auch die Gelegenheit genutzt hat, die Amtsinhaberin zu ärgern. Francisco Pévez, der die Provinz Mendoza regiert, also eine Art Ministerpräsident ist, nannte die Proteste »zweifellos eine Warnung«. Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, sagte, man müsse »den Menschen mit Respekt und Demut zuhören«.

Entscheidend ist nun, ob es die Unzufriedenen erst einmal bei diesem einen Wutausbruch belassen – oder ob sie wieder auf die Straße gehen. Schlagen sie weiter auf ihre Kochtöpfe, könnte es eine Regierung, die so auf Kritik reagiert, eines Tages hinwegfegen. Wie gesagt: Entweder sind sie sich ihrer Sache sehr sicher, oder sie sind übergeschnappt. Wobei das eine das andere ja nicht unbedingt ausschließt.

Das grosse Unwohlsein

von CHRISTOPH WESEMANN

Kurzer Nachklapp zur Topfschlagen-Geschichte von heute Morgen – auf dem iPad aus dem Kaffeehaus, wollte ich immer schon mal machen. Und ich versuche mal, ohne Umlaute, eszett und Akzentstriche auszukommen, all das kriege ich nicht hin.

Was gestern Abend geschehen ist, nennt die Zeitung „La Nacion“ heute „ein klares Signal der Warnung“ an die Regierung und „eine Demonstration des Unwohlseins“. Argentinien habe die schwersten Proteste gegen den Kirchnerismus seit der Landwirtschaftskrise im Jahr 2008 erlebt. „Fast im ganzen Land“ habe es grosse Proteste gegegen. Ausgangspunkt war Buenos Aires. Der cacerolazo auf der Plaza de Mayo habe auch die Leute in den Provinzen angesteckt und auf die Strasse geschickt. Wie viele Leute in der Hauptstadt unterwegs waren, weiss auch die Zeitung nicht genau. Die Hauptstadtpolizei, die allerdings nicht der Kirchner-Regierung untersteht, spricht von 200.000 Teilnehmern. „La Nacion“ schreibt denn auch gleich im naechsten Satz, andere Beobachter gingen von 60.000 Menschen auf der Plaza de Mayo aus. (Auch an dieser Zahl habe mittelschwere Zweifel.)

Was ich besonders interessant fand gestern Abend, waren die Abstinenz (oder Unsichtbarkeit) von Parteien und der Verzicht auf Ansprachen jeder Art. Es sang das Volk: Nationalhymne, Parolen, Nationalhymne, Parolen, das war’s. Zur Nachahmung dringend empfohlen.

Topfschlagen der Tausenden

von CHRISTOPH WESEMANN

(Ich komme gerade vom Topfschlagen, also vom Cacerolazo-Protest gegen die Regierung und die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner auf der Plaza de Mayo. Das wird jetzt ein Schnellschuss. Ich wollte es multimedial aufhübschen, aber es ist spät geworden, und die Technik macht mir Probleme und ich mache der Technik Probleme.)

Cacerolazo

Es sind nicht die Armen, die Abgehängten, die sich am Donnerstagabend auf der Plaza de Mayo zu Tausenden versammelt haben. Wer in Argentinien wenig hat, besitzt doch immerhin etwas: die Gunst der Präsidentin. Cristina Fernández de Kirchner sorgt für sie. Erst gestern hat sie versprochen, dass die staatliche Unterstützung pro Kind um mehr als 25,9 Prozent erhöht wird – von derzeit 270 Peso im Monat auf 340. Verkündet hat sie’s natürlich per Ansprache ans Volk – es war Nummer zwei in diesem Monat und Nummer 18 in diesem Jahr. In den vergangenen drei Jahren hat sie mehr als 50 Reden gehalten, die die staatlichen Radio- und Fernsehsender live übertragen mussten. Ihr Mann Nestor hatte das in vier Jahren übrigens nur zweimal getan. Cristina Kirchner meldet sich spontan zu Wort und lässt das laufende Programm unangekündigt unterbrechen. Darf sie das? Der argentinische Regierungschef, ob männlich oder weiblich, hat dieses Recht. Er soll es aber  behutsam nutzen – für Krisen, Katastrophen und Ereignisse, die das Volk verunsichern oder erschüttern.

Es sind auch nicht die Reichen gekommen. Dass die Reichen am meisten zu verlieren hätten, ist ein weitverbreiteter Irrtum. Reiche gewinnen, deshalb sind sie reich. Gekommen sind die, die etwas besitzen, aber nicht so viel, dass es zu schwer wäre, es ihnen zu nehmen. Es sind die Gutfrisierten und die Gutgekleideten da, viele elegante Männer, noch im Büroanzug mit Krawatte, die Gebildeten, viele Studenten und Schüler, manch vornehme Dame, auch Kinder. Mittelschicht? Man sollte mit dem Begriff vorsichtig sein, weil er zu Vergleichen mit Deutschland verführt, die zwangsläufig hinken, auch, weil Wohlstand hier etwas anderes ist. Aber mir fällt auch gerade kein besserer Begriff ein.

Was eint diese Menschen? Es ist ein Allerlei, eine Art Mischung aus Angst vor dem eigenen Abstieg und der Sorge um das Land. Glaube ich. Ich bin erst zwei Monate hier und taste mich langsam heran an das politische Geschehen. Vieles ist noch angelesen statt schon erlebt. Deshalb halte ich mich auch zurück, in diesem Protest vor dem Präsidentenpalast den Beginn von etwas Größerem zu erkennen. Ja, es waren so viele Leute da, dass die Plaza de Mayo nicht genug Platz für alle bot und die Menge noch die anliegenden Straßen blockierte. Ja, es hat sich etwas entladen. Aber wie viel davon war über Facebook angeleiertes Ich-muss-dabei-sein-Happening? Wie viel Eventprotest? Ich weiß es nicht. Aber dieser große Platz ist ein kleiner Fleck in dieser Stadt und damit auch nur ein winziger Ausschnitt der politischen Wirklichkeit in einem Land, das fast achtmal so groß ist wie Deutschland. Und ihre Anhänger, ja Verehrer hat diese Präsidentin nach wie vor.

Es geht natürlich um die Inflation, die irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent galoppiert und die Löhne auffrisst, es geht um steigende Steuern, aus denen die Präsidentin ihre Wohltaten für die ärmeren Schichten bezahlt, es geht immer auch um Kriminalität. In jedem Wahlkampf der jüngeren Zeit ist innere Sicherheit ein wichtiges Thema gewesen. Die Leute verbarrikadieren sich zu Hause und leben in einer Art Gefängnis. Terrassen und Fenster sind vergittert, die Türen alarmgesichert, Eingänge von Kameras überwacht. Wer es sich leisten kann, zieht gleich in eine »gated community«. Unabhängig davon, wie sicher und unsicher das Leben hier ist – Angst lässt sich nicht einzäunen, nicht wegsperren. Vielleicht wächst das Gefühl der Unsicherheit eher, wenn man in einem Hochsicherheitstrakt lebt.

Der stärkste Kleber, der den Protest der Mittelschicht zusammenhält, scheinen mir aber die Präsidentin selbst und ihre Regierung zu sein. Es ist das Gefühl, dass Politiker regieren, als wäre der Staat ein Familienbetrieb und ihr Privateigentum. Mitglieder der Nachwuchsorganisation »La Cámpora«, angeführt vom Präsidentensohn Máximo, sollen, so hört man, reihenweise in Ministerien einziehen und Schaltstellen besetzen. Jung sind sie, gut ausgebildet und machthungrig.

Man darf nicht vergessen, dass die Kirchners das Land schon fast zehn Jahre regieren: erst Nestor (2003 bis 2007), dann Cristina. Ihre zweite und letzte Amtszeit endet im Herbst 2015. Doch schon jetzt wird diskutiert, ob an der Verfassung geschraubt werden soll, die keine dritte Amtszeit zulässt. Würde die Verfassung geändert, was nicht auszuschließen ist, könnte Kirchner bis 2019 regieren. Argentinien stünde dann 16 Jahre am Stück unter Herrschaft einer Familie. Auch gegen diese Aussicht richtete sich der Protest am Donnerstag. »Cristina, geben Sie das Land zurück«, stand auf einem Plakat. Auf einem anderen: »Finger weg von der Verfassung.«

Der Eindruck ist, dass es die Präsidentin übertreibt – und nicht mehr merkt. Die Kritik an ihren vielen Ansprachen hat sie in einer Ansprache (Nr. 18) am Mittwoch mit Witzchen zu kontern versucht. Auch das ist kein gutes Zeichen. Mit »Clarín« und »La Nación«,  zwei der wichtigsten Zeitungen im Land, befindet sie sich im Krieg. Warum? »Clarín miente.« – »Clarín lügt.«. Eine ältere Dame hatte ein Schild dabei, auf dem stand: »Clarín lügt vielleicht – Cristina ganz sicher.« Es schaukelt sich allmählich hoch. Diese unsäglichen Hitler-Bart-Karrikaturen gibt es inzwischen auch von der argentinischen Präsidentin. Und selbst mit Hugo Chavez, der Venezuela mehr und mehr autoritär regiert, wird sie schon verglichen – auch auf der Plaza de Mayo: »Wir wollen kein Argenzuela, wir wollen Argentinien.«

Ich habe gestaunt, womit man Cacerolazo-Krach machen kann. Es muss gar kein Kochtopf sein. Es reichen Münzen in Plastikflaschen. Es reicht ein Verkehrsschild. Oder der Sperrzaun vor dem Präsidentenpalast. Es wurde viel gesungen und getanzt, gehüpft und geklatscht und gelacht. Es war nie aggressiv. Viele hatten ein Trikot der Nationalmannschaft angezogen, viele auch eine argentinische Fahne mitgebracht. Immer wieder erklang der Ruf: »Argentina! Argentina!«

Im Präsidentenpalast brannte übrigens noch Licht.

Nachtrag: »Clarin« spricht von Tausenden, die im ganzen Land gegen die Regierung protestiert hätten, und zeigt ein paar schöne Cacerolazo-Bilder aus der Luft. Ich hatte ja auch meinen Hubschrauber dabei – aber die Technik.

Mein Sohn und der Kussismus

von CHRISTOPH WESEMANN

Heute ist hier »Der Tag des Lehrers«. Und was wünscht der sich? Schulfrei. Kriegt er. Und eine Kolumne. Beim Schreiben wie damals getrödelt und zu spät fertig geworden »Der Tag des Lehrers« war am Dienstag.

Ich sollte die Klassenlehrerin meines Sohnes nicht »die Maus« nennen. Ich weiß das. Vor allem sollte ich sie nicht vor meinem Sohn »die Maus« nennen. Auch das weiß ich. Es rutscht mir aber hin und wieder raus. »Na, ist die Maus wieder gesund?«

In Berlin ist es einfacher gewesen. Die Klassenlehrerin hieß Frau Hartmann, war viel älter als ich, und einen Vornamen hatte sie nicht. Jetzt heißt die Klassenlehrerin Isabella, ist viel jünger als ich, und einen Nachnamen hat sie nicht.

Natürlich küsse ich sie auch.

Wenn mein Sohn von der Schule erzählt, erzählt er von Marce, Laura und Flo. Am Anfang habe ich das für Promiskuitätchen eines Sechsjährigen gehalten. Dann stellte sich heraus: Marce, Laura und Flo sind auch Lehrerinnen. Ich duze mich mit allen, und ich habe sie alle schon geküsst.

Der Kuss auf die Wange, un beso, ist der Handschlag der Argentinier. Geküsst wird, sobald ein Hauch Vertraulichkeit besteht – Frauen tun es mit Männern, Frauen tun es mit Frauen, Männer tun es mit Männern. Wenn die Fußballer der Boca Juniors gerade mit viel Aufwand und wenig Glanz ein Spiel gewonnen haben, beglückwünschen sie sich gegenseitig mit Schmatzer. Und im Supermarkt kann eine Riesenschlange sein – sobald ein Kollege vorbeihuscht, steht die Kassiererin auf, geht drei Schritte und holt sich ein Küsschen ab. Und kein Kunde kritisiert das.

Mein Sohn lernt schnell, er findet sich in Buenos Aires mittlerweile wunderbar zurecht, ich weiß nicht, woran er sich orientiert, aber er tut es. Für mich sieht die Hauptstadt überall gleich aus: viele enge und sehr lange Einbahnstraßen nacheinander, dann eine breite Avenida, wieder viele enge und lange Einbahnstraßen nacheinander, dann wieder eine breite Avenida. Ich verfahre mich sogar mit Navigationsgerät. Immerhin habe ich die Stimme, die mir alles vorsagt, nach drei Wochen am Steuer ein bisschen leiser gestellt.

Im Küssen aber bin ich meinem Sohn deutlich überlegen. In Berlin hatte ihn Frau Hartmann zum Abschied nicht mal umarmen dürfen, und Frau Hartmann war auch deshalb eine wunderbare Lehrerin, weil sie das verstand. Auch nach zwei Monaten in Buenos Aires leistet er noch Widerstand, wenn Isabella küssen will. Wäre er hier in den Kindergarten gegangen, wäre das wahrscheinlich anders. Dort wird der Widerstand gebrochen. Wenn ich meine Töchter abgebe, werden sie – wie alle Kinder – als »meine Liebe«, »oh Schönheit« oder »Wunderhübsche« begrüßt. Die Dreijährige ist längst Profi und tritt, weil sie weiß, was kommt, und es die Sache beschleunigt, der Erzieherin gleich mit nach oben gerecktem Mund entgegen. Dann holt sie sich ihren beso ab.

Mein Sohn findet sich wahrscheinlich auch deshalb besser zurecht in der Stadt, weil er ist, was ich als Kleinstadtjunge nie war: Schulbuskind. Um 7.15 Uhr klingelt es an der Tür, woraufhin ich zur Sprechanlage mit Videoübertragung taumele, die hier »portero electrico« heißt. (Der nichtelektrische Pförtner heißt Luis und schläft zu dieser Zeit natürlich noch.)

»Wir sind schon fast fertig, Daniel Martín«, rufe ich, lege auf und sehe, dass mein Sohn noch die Schlaf- statt der Schuluniform trägt. Eine Schuluniform ist eine tolle Sache, weil die Kleiderwahl am Morgen entfällt. Aber wenn sich der Trainingsanzug mit dem aufgestickten Schulemblem in der Wohnung versteckt, hätte man doch gern die Wahl, irgendein Kleidungsstück aus dem Schrank zu zerren. Und dienstags, mittwochs und donnerstags, wenn kein Sport auf dem Stundenplan steht, gehört zur Uniform noch eine Art Arztkittel, der »guardapolvo blanco« heißt, also »weißer Staubfänger«.

Dann steigt mein Sohn mit Freude in den orange-weißen Schulbus. Er ist immer das zweite Kind, das abgeholt wird. Die Fahrt zur Schule dauert 45 Minuten. Den Rückweg nachmittags schafft Daniel Martín manchmal in knapp unter einer Stunde.

Ich würde meinen Sohn öfter abholen, damit er früher zu Hause ist. Ich brauche aber schon zur Schule, obwohl ich keine zehn Kinder einladen muss, länger als Daniel Martín. Es gibt so viele Staus, das Dauergequatsche im Radio fördert auch nicht meine Konzentration, und wenn ich Schleichwege nehme, drehe ich kurz vor Montevideo, Uruguay, um und höre wieder auf die Stimme der Navigation.

Ganz am Anfang hatte ich ein anderes Bild von den schulbusfahrenden Porteños. Die ersten Tage habe ich meinen Sohn von der Schule abgeholt. Mit mir warteten ein paar Männer auf das Ende des Unterrichts. Und sie erzählten sich Witze, die eindeutig gegen das Reinheitsgebot verstießen. Welche bedauernswerten Kinder, dachte ich, haben solche Väter? Waren aber gar keine Väter. Waren die Busfahrer.

Mittlerweile weiß ich, dass sie zu den zuverlässigsten Kräften im Land gehören und die Eignungstests sehr streng sind. Um zu begreifen, was Männer wie Daniel Martín leisten, muss man nur einmal eine Stunde in einem argentinischen Café mit Spielecke verbracht haben. In Deutschland hinge an der Eingangstür das blaue Schild mit den weißen Ohrenschützern. Daniel Martín verteilt Bonbons, wenn’s ihm mit dem Durcheinandergequassel in seinem Bus zu bunt wird. Dann halten alle für eine Weile die Klappe. Ich wünschte, das ginge mit den Radioleuten auch.

Ich mag die Art der Porteños. Es geht lockerer und weniger förmlich zu als in Deutschland. Niemand siezt mich, und ich duze mittlerweile auch Polizisten, wenn ich irgendwo im Halteverbot stehe und verschwinden soll. Eigentlich sieze ich nur noch die Señoras, die mich manchmal nach dem Postamt fragen und die ich ein paar Tage später unterwegs nach Montevideo wiedersehe.

Ich mag es, dass sich die Leute Zeit für Zärtlichkeiten nehmen, obwohl doch so oft irgendwas drängt, ich sehe die Freude, mit der sie Kindern begegnen und ihnen an der Ampel über den Kopf streicheln. Sie geben ihnen das Gefühl, das Kostbarste auf der Welt zu sein.

Da ist die Oma, die meinen Sohn an die Hand nimmt und mit ihm in die Bäckerei geht, um drei »medialunas« zu kaufen, weil er Hunger hat und diese argentinischen Croissants natürlich längst liebt. Da ist der Kinderarzt Santiago, den mein Sohn Santi nennen darf. Er untersucht den Hustenden, er horcht und horcht und horcht, eine Ewigkeit lang. Und Santiago entdeckt, was deutsche Kinderärzte schon zweimal nicht entdeckt haben: eine Lungenentzündung.

Ich habe meinen Sohn an die heißen Nachmittage in der Berliner U-Bahn erinnert, als niemand aufstand, um einem erschöpften Erstklässler  einen Platz anzubieten. Hier wäre so etwas undenkbar.

In seinem Hausaufgabenheft stehen an jedem Freitag Sätze wie diese: »Du bist ein wundervoller Junge. Ich liebe dich. Bis Montag. Deine Isabella.« Frau Hartmann hat gestempelt, oft eine Sonne, manchmal eine Wolke, und am Montag schrieb sie ins Hausaufgabenheft: »Prima!« Meistens. Am Anfang. Zum Schluss selten.

Ich habe das »Prima!« die ersten zwei Monate auf meinen Sohn bezogen und ihn für ein Genie gehalten, dann aber gemerkt, dass ich gemeint bin: weil ich das Datum in seinem Hausaufgabenheft eingetragen hatte. Oder später eben auch nicht mehr. Wenn Frau Hartmann nicht »Prima!« schrieb, schrieb sie: »Datum!«

Isabella malt die Sonne selbst.

Die andere Seite der argentinischen Kinderliebe ist, dass Eltern einiges abverlangt wird. Ich kriege fast jeden Tag Hausaufgaben: Mal soll ich etwa basteln, dann ein Bild malen, mal auch nur ein Foto mitbringen. Neulich musste ich mir für das Kindergartengruppenbuch eine Geschichte ausdenken. Ich habe mich sehr angestrengt. Weil die Erzieherin sehr hübsch ist, sollte es eine gute Geschichte werden. Und weil die Erzieherin sehr hübsch ist, wurde es eine schlechte Geschichte. Die Erzieherin sieht das freundlicherweise bis heute anders.

All das habe ich meinem Sohn erzählt, um ihm zu erklären, dass es in seiner neuen Heimat anders zugeht.
»Jaja, weiß ich doch alles«, hat er gesagt. »Aber als du so alt warst wie ich, wolltest du von deiner Lehrerin geküsst werden?«
»Natürlich nicht.«
»Siehst du, Papa.«
Ich dachte an »die Maus« und schrie: »Aber meine Lehrerin sah auch anders aus.«

 

Mein Sohn-Kolumnen aus alten Zeiten:

Mein Sohn und der Datschaismus

Mein Sohn und der Willismus

Mein Sohn, der Gausbub

Mein Sohn und der Sandalismus

Mein Sohn und der Miauismus

Mein Sohn und der Kapitalismus

Pablo, der Russe und eine fernsehsüchtige Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Neulich hat mein Nachbar Pablo geklingelt und mich um einen Kochtopf gebeten. Um genau zu sein, hat er gesagt: »Dodó, rück mal einen Kochtopf raus. Am besten einen großen. Ich will Spaghetti machen. Kriegst du vielleicht auch wieder.«

»Können Sie bitte …«, »Würdest du vielleicht …«, »Ich hätte gern …« – so reden nur Ausländer. Porteños sind Freunde klarer Befehle. Und den Spitznamen hat sich Pablo für mich ausgedacht, weil mein Spanisch angeblich klingt wie das von Dodó, dem Assistenten von »Inspektor Clouseau«. Wenn ihm mein Akzent zu französisch wird, also ungefähr nach jedem dritten Satz, den ich sage, zitiert Pablo den Zeichentrickdetektiv: »¡No digas si, Dodó, di oui!« – »Sag nicht si, Dodó, sag oui.« Er findet das wahnsinnig witzig.

Nur seinen Freunden stellt er mich nicht als Dodó vor. Da bin ich, seit ich ihm erzählt habe, dass ich eine Weile in der Ukraine gelebt hätte, »el ruso«. Klar ist das geografisch und historisch ein wenig ungenau. Aber Europa, und erst recht dessen Osten, liegt auch nicht gerade um die Ecke. Und wie viele Deutsche wiederum können Venezuela von Ecuador unterscheiden?

Vorgestellt werde ich übrigens so:

»Daniel, findest du nicht auch, dass der Russe wie ein Franzose Spanisch spricht?«
»Also wenn du mich fragst, Pablito, schlimmer als Dodó.«
»Das habt ihr doch geprobt, oder?«, frage ich.
Und dann rufen zwei Porteños gemeinsam: »¡No digas si, Dodó, di oui!«

Weil es mit meinem Spanisch nicht schnell genug vorangeht, bin ich dazu übergegangen, die Zeit, die ich schon in Buenos Aires lebe, zu verkürzen, und Wörter, die ich nicht kenne, zu umschreiben. Neulich wusste ich nicht, was »Zitronenpresse« heißt, wollte aber unbedingt eine kaufen.
»Ich brauche so ein Ding, um Saft aus einer Zitrone zu machen«, sagte ich zum Verkäufer und bewegte meinen Arm wie anno siebenundachtzig, als mir auf dem Rummel der Einarmige Bandit mein ganzes Taschengeld abgenommen hatte.
»Exprimidor?«, fragte der Verkäufer.
»Kann sein.«
»Exprimidor!«, sagte er und spielte für einen Augenblick auch an einem unsichtbaren Einarmigen Banditen.
»Ja!«, rief ich. »Verzeihung, ich lebe erst seit zwei Wochen hier und lerne die Sprache noch.«
»Erst zwei Wochen? Mann, dein Spanisch ist toll.«
»Danke.«

Wenn ich weiter so schleppend lerne und deshalb meine Ankunft in Buenos Aires noch mehr vorverlegen muss, kaufe ich bei dem Mann bald einen Mixer und bin eigentlich noch gar nicht da.

Auch für die Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat Pablo einen Spitznamen. Er nennt sie immer nur: la Señora Botox. Pablo mag nichts an ihr. Es stört ihn alles, und keineswegs bloß das, was inzwischen ziemlich vielen auf die Nerven zu gehen scheint: die aufgespritzten Lippen, die langen Reden, die schwarzen Kleider, die sie aus Trauer um ihren vor fast zwei Jahren verstorbenen Mann noch immer trägt, natürlich paillettenbesetzt, die Tränen, die sie seinetwegen weint. Pablo fühlt sich auch von ihrer Politik, den immer neuen Gesetzen, gegängelt und kontrolliert.

Angesichts einer Inflation von 20 bis 30 Prozent ist es zum Volkssport geworden, Peso in Dollar umzutauschen, wogegen Cristina, die oberste Argentinierin, aus fiskalpolitisch verständlichen Gründen etwas hat. Zum offiziell festgelegten Wechselkurs von viereinhalb Pesos für einen Dollar kriegt man ohnehin nichts mehr. Also tauscht man auf dem Schwarzmarkt an der Straßenecke für 6,35 Pesos »blue dollar« oder reist ins Ausland. Oder man bedrängt den Nachbarn, der Ausländer ist, doch endlich mal Dollar aus der Heimat zu besorgen. Mein Glück ist, dass mich bislang niemand aus Deutschland besucht hat, ich weiß aber nicht, wie lange ich Pablo noch hinhalten kann, zumal das mit dem Ausland gerade wieder schwieriger geworden ist: Wer nämlich dort mit seiner Kreditkarte bezahlt oder auch nur für die nächste USA-Reise im Internet einen Mietwagen bestellt und die Kosten von seinem Pesokonto abbuchen lässt, dem nehmen die Banken neuerdings zusätzlich 15 Prozent ab.

Es wäre wirklich hilfreich für mein Verhältnis zu Pablo, wenn endlich jemand zu Besuch käme.

Die Präsidentin hat in diesem Jahr bereits 17-mal, insgesamt 15 Stunden, elf Minuten und 38 Sekunden, im Fernsehen zu ihrem Volk geredet. Laut Verfassung soll die TV-Ansprache des Staatsoberhauptes eine Ausnahme sein, eine Sache für den Ernstfall. Und die staatlichen Sender müssen übertragen, obwohl Cristina eine Quotenkillerin ist. Als sie neulich zum »Tag der Industrie« um kurz vor halb elf – nachts, wohlgemerkt – zu reden begann, lief in jedem zweiten argentinischen Haushalt ein öffentlicher Kanal. Die Sender unterbrachen das Programm, um die Präsidentin zu zeigen, und eine Viertelstunde später schauten nur noch 36 Prozent zu. Frau Kirchner sprach eine Stunde und vier Minuten. Pressekonferenzen und Interviews gibt sie selten bis nie.

Ich hätte die Rede fast verschlafen, wenn mich nicht ein ungeheurer Lärm geweckt hätte. Er schien von draußen zu kommen. Ich taumelte aus dem Bett, um nachzuschauen, was los sei. Auf dem Weg zum Balkon wurde der Lärm klarer: Ich erlebte zum ersten Mal cacerolazo, den berühmten Protest der argentinischen Mittelschicht gegen die Politik, populär geworden in der großen, auch blutigen Staatskrise Ende 2001, als zwei Tage geplündert wurde und 28 Menschen starben.

Auf dem Balkon über meinem stand Pablo und schlug auf einen Kochtopf. Als er mich im Schlafanzug entdeckte, schrie er: »Hast du nicht mitbekommen, dass bei Facebook aufgerufen wurde, die Rede der La Señora Botox zu stören?«
»Pablo, ist das mein …«
»Ich verstehe dich nicht, ist so laut hier. Wir haben es satt …«
»… Kochtopf?«
» … sie ständig im Fernsehen zu sehen.«
»Wolltest du nicht Spaghetti kochen?«
»Die haben einfach meine Serie unterbrochen.«
»Paaaaaabloooooooooo, ist das mein Kochtopf?«
»Ja natürlich, denkst du denn, ich nehme für diese Frau meinen, Doooooooodóóóóóóóóóóóóóó?«

Die Spanisch-Klassenarbeit

von CHRISTOPH WESEMANN

Andere in meinem Alter haben mindestens drei Zertifikate, und natürlich von Eliteuniversitäten irgendwo an der Ostküste der Vereinigten Staaten oder aus einem englischen Städtchen, wo Internatsschnösel gern mal betrunken in eine olle Uniform steigen. Mein Zertifikat stammt aus einer Seitenstraße von Buenos Aires: Fiatautohaus, ein paar Frisöre, Cafés, Kioske, Computerramsch, Eisenwarenhandlung – und dazwischen meine Sprachschule. Und wenn Sie sich fragen, warum ich Journalist bin: auch deshalb.

Heute habe ich meinen vierwöchigen Spanischkurs beendet. Mein alter Lehrer Joaquín war übrigens nach drei Wochen mit mir als Schüler ausgefallen. Hatte sich angeblich erkältet. Aber es ist ja alles psychosomatisch heutzutage. So hatte ich – mit einer Polin und einer Belgierin – seit Montag Unterricht bei Estefana. Ich habe mich ein bisschen mehr angestrengt, was ich damit erkläre, dass Joaquín mir ähnlich sieht und Estefana Shakira.

Zum Abschluss gab es eine eineinhalbstündige Klassenarbeit. Und? Sieg für Deutschland. 87 Punkte (von 100). Polen (85) und Belgien (65) ohne Chance.

Besonders viele Punkte gab es für meine Kurzgeschichte. Beachten Sie bitte das Wortspiel am Ende; das ist muy porteño. Wenn ein Tag mierda ist, aber man das Wort nicht aussprechen will, sagt man hier miercoles, also Mittwoch. Mit Wörterbuch und mehr Zeit hätte ich die Erzählung noch ausgeschmückt, ich habe sie Estefana trotzdem als Werk auf dem Niveau von »Hundert Jahre Einsamkeit« angekündigt. Auch diese Unbescheidenheit ist übrigens: muy porteño.

Hace dos meses que estoy en Buenos Aires. Y mi vida es otra – por las porteñas. Toda la semana pasada salía de mi casa a las 9. Y siempre muchas mujeres me esparaban a mí y me saludaban. Estaban las chicas más lindas con los cuelos más perfectos (muy graaaaaaaandes.) Me amaban. La unitad de ellas lloraban por mí. Y una chica me dijo ayer: »¡Hazme un niño!«
Le dije: »Me gustaría. Pero hay un problema: mi jefa.«
»Mi amor, hay muchos problemos en mi país«, me explicó. »Y para todos problemas hay una solución.«
Le dije que me haría islamico y así podría tener más de una esposa. Me contestó que quería estar juntas conmigo a pesar de eso. La mire y a su culo también. En ese momento me dí cuenta del quilombo en mi cabeza. De repente hacía calor. Quería decirle algo – pero escuché una voz conocida:
»Mi gordito, ya son las 6 de la mañana. Tenés que despertarte. Los niños tienen hambre. Y en el balde hay mucha basura.«
»¿Oh, es miercoles hoy?«, le pregunté.

Die Übersetzung:

Ich bin seit zwei Monaten in Buenos Aires. Und mein Leben ist hier anders – wegen der porteñas. Die ganze vergangene Woche habe ich das Haus um 9 Uhr verlassen. Und immer warteten Frauen auf mich und begrüßten mich. Es waren die schönsten Mädchen mit den perfektesten Hintern (sehr grooooooß). Sie liebten mich. Die Hälfte von ihnen weinte auch meinetwegen. Gestern hat mir ein Mädchen gesagt: »Mach mir ein Kind!«
»Würde ich gern, aber es gibt ein Problem: meine Chefin.«
»Mi amor, in meinem Land gibt es viele Probleme«, erklärte sie. »Und es gibt für alle Probleme eine Lösung.«
Ich sagte ihr, ich wäre Muslime und könnte deshalb mehrere Frauen haben, und sie antwortete, sie würde mit mir von nun an zusammensein wollen. Ich schaute sie an und auch ihren Po. In diesem Augenblick bemerkte ich das Chaos in meinem Kopf. Und eine Hitze war das auf einmal. Ich wollte ihr gerade etwas sagen – aber ich hörte eine vertraute Stimme: »Mein Dickerchen, es ist schon sechs Uhr. Du musst aufwachen. Die Kinder haben Hunger. Und der Mülleimer ist auch voll.«
»Oh, ist heute Mittwoch?«, fragte ich.

Noch am Mittwoch hatte ich versucht, Estefana für einen Freund in Deutschland zu begeistern. Sie war prinzipiell interessiert, stellte aber drei Fragen: Ist er blond? Hat er Geld? Ist er Single?

Ich habe zum Wohle der deutsch-argentinischen Liebe alle drei Fragen bejaht (also gelogen) und danach Estefana herunter gehandelt: Wenn der Freund Geld hat, braucht er nicht mehr blond zu sein. Sollten demnächst im Großraum Berlin zwei oder auch drei Banken überfallen werden, bitte ich darum, dicht zu halten.

Ich warte jetzt im Kommentarbereich, dass Sie mich anständig einsauen. Macht man hier so.

(Erwachsen werde ich demnächst. Vielleicht.)

 

Komische Nudel

von CHRISTOPH WESEMANN

Schau an, Heino wirbt für argentinische Pasta:

Ach nein, das ist ja der argentinische Imitationskünstler Martín Bossi, der mir bislang nicht aufgefallen war, was wohl daran liegt, dass ich viele derer, die er imitiert, für schlecht erfunden gehalten habe. Aber diese Leute gibt’s hier wirklich.

Ich sage nur: Daniel Augostini.

(Und nein, Martín Bossi imitiert natürlich nicht Heino. Dessen Musik wäre selbst den dulcigen Argentiniern zu lebrig-süß. Bossi imitiert den »farbigen Nordamerikaner« Dani Carlo.)

Mit Gene Hackman in Escobar

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Abschleppwagenfahrer Claudio ist Ende dreißig und noch nie im Urlaub gewesen. Im Sommer 2013, wenn er nach 17 Jahren endlich sein Haus fertiggebaut hat, soll es so weit sein. Vielleicht Mar del Plata. Die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mag er nicht. Von seinem Lohn, erzählt er, bleibe zu wenig übrig, weil die Steuern stiegen und stiegen. Ganze Familien lebten in Argentinien seit Generationen von Staatshilfe – also auch auf Kosten des Abschleppwagenfahrers. Wie einst Evita Perón verteilt Kirchner das Geld an die Armen und Bedürftigen. Die Präsidentengattin Evita hat so seinerzeit den Staatshaushalt ruiniert. Und die Präsidentengattin Cristina, die Präsidentin geworden ist? »Alle Leute, die arbeiten, hassen sie«, sagt Claudio. Er hat eine 17 Jahre alte Tochter.

Man lernt diesen Abschleppwagenfahrer übrigens kennen, indem man nach Escobar fährt, weil die Kinder den »Bioparque Temaiken« besuchen wollen.  Escobar ist ein Städtchen in der Provinz Buenos Aires, 60 Kilometer weit weg von der Haustür, also eineinhalb Stunden entfernt. (Wenn Sie auf Staus stehen, fahren Sie bitte spätestens um zwölf Uhr los. Zu früh natürlich auch nicht.) Wenn Sie glauben, noch ein bisschen Zeit zu haben, weil zwei der drei Kinder mit dem Bus ihrer Russisch-Sprachschule unterwegs sind und sicher länger brauchen, halten Sie doch bei diesem amerikanischen Schnellrestaurant am Ortseingang von Escobar.

Ja, es ist ein bisschen kompliziert, einen Parkplatz zu finden, aber nehmen Sie einfach den mit dem Verbotszeichen auf dem Asphalt, der ist ja frei. Jetzt schnell rein, Stau macht hungrig, puuuh, ist das voll und laut und eng. Und als man endlich bestellen will, kommt der Sicherheitsmann. Schwarze Uniform. Man hat ihn schon beobachtet, wie er ums Auto herumgeschlichen ist, um zu gucken, ob jemand drin sitzt. Jetzt sucht er drinnen, und natürlich findet er den Fahrer.

Sein Blick sagt: Netter Versuch, Fremder. Er sieht aus wie der gr0ßartige Schauspieler Gene Hackman. »Nächste Straße rechts rein«, sagt er. »Dort gibt’s genug Parkplätze.«

Doch das Auto will nicht weg. Die Lenkung ist blockiert. Gene Hackman ist gleich zur Stelle, hält sich aber mit Ratschlägen zurück. Ah, auf der anderen Straßenseite poliert ein junger Escobarer seinen Renault. Tachchen. VW-Autohaus, VW-Vertragswerkstatt, irgendeine Mechanikerbude mit einem Kerl im Blaumann – noch was geöffnet im hübschen Escobar am Sonnabendnachmittag? Glaubnicht-Kopfschütteln. Anruf bei Papa. Weiter den Renault polieren. Schulterzucken. Ein Papa ohne Idee. Die Schwester telefoniert. Gelbe Seiten? Gibt’s doch nur für Buenos Aires!

Aber unser junger Freund kommt mit zum Parkplatz, will mal gucken und wartet geduldig, bis man – nee, das ist der Tank – den Motorhaubenvoröffnerhebel im Wageninneren gefunden hat. Er zupft an ein paar Kabeln und murmelt was mit »agua hidráulica« – man versteht also schon mal mehr als bei deutschen Mechatronikern. Man selbst könnte jetzt schon wieder was essen. Außerdem ist es wirklich eine Affenhitze auf diesem Parkplatz. Tja, aber wenn man sich als Mann jetzt absetzt und die Frau samt Baby am Auto zurücklässt – nein, das wäre nicht so gut. Argentinien, das ist – auch mit einer Präsidentin – noch immer ein Land des machismo.

Gene Hackman flirtet mit dem Baby und schleppt dann seinen Kollegen ran. Ein Paar gesellt sich auch dazu. Die junge Frau hat eine Freundin in Frankfurt und präsentiert ihre Deutschkenntnisse: »Wie geht es dir? Ich heiße Isabella. Wie heißt du? Ich habe Langeweile. Herzlich willkommen!« Ein Abschleppwagen muss her, der das Auto zurück nach Buenos Aires bringt. Isabellas Freund telefoniert mit seiner Schwester. Sie findet – die Welt ist eine Google – im Internet eine Firma und gibt die Telefonnummer durch. Der Bruder verhandelt minutenlang und drückt am Ende den Preis.

Gene Hackman hat Feierabend, ist umgezogen und geht trotzdem nicht nach Hause. Er holt vom Kiosk gegenüber noch ein paar Telefonnummern von Abschleppdiensten. Zu spät. Aber das Baby liebt ihn längst.

»Der Abschleppwagen kommt in 20 Minuten«, sagt Isabellas Freund. Das Paar aus Escobar verabschiedet sich. Gene Hackman bleibt, bis der Wagen aufgeladen ist, steckt für alle Fälle Claudios Visitenkarte ein und bringt den Deutschen – sicher ist sicher – noch zum Taxistand. Ach, man muss ja jetzt zum »Bioparque Temaiken«, wo zwei Kinder mit 30 argentinisierten Russen wilde Tiere gucken.

Dreimal ruft er »17!«, was so viel bedeutet wie: Das ist der Fahrpreis. Lass dich nicht abzocken.

Zum Abschied nach zweieinhalb Stunden ein Kuss auf die Wange.

Danke.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)