Archiv für 2012

Pablos Götterspeise vom Grill

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo glaubt, ich hätte den Gott des Asados verhöhnt.

Bis gestern hatte ich nicht gewusst, dass über das Grillen in Argentinien höhere Mächte wachen, und ich weiß noch immer nicht, ob das nun eine bedeutende Glaubensrichtung hier zu Lande ist oder doch nur eine Ein-Personen-Religion, gewissermaßen die kleinste Kirche der Welt von Pastor Pablo.

Mein Nachbar missioniert jedenfalls.

Es begann damit, dass sich Pablo bei mir zum Grillen einlud. Ich solle alles vorbereiten und dürfe ihm im Gegenzug über die Schulter schauen, er werde mir seine Geheimnisse verraten, sagte er und schaute dabei sehr geheimnisvoll.

»Welche Geheimnisse, Pablo?«

»Große Geheimnisse, sehr große Geheimnisse.«

Bislang bin ich in meinem Leben ganz gut ohne Grillgötter und Grillgeheimnisse zurechtgekommen. Wenn mein Feuer nicht brannte, fluchte ich und warf mehr Anzünder hinein. Ich platzte also nicht gerade vor Neugier. Allerdings steht in jedem Argentinien-Reiseführer auch, es gebe nichts Tolleres, als ein Asado zu erleben.

Am Nachmittag rief mich Pablo an und erkundigte sich, wie weit ich sei.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte ich.

»Super«, sagte Pablo.

»Danke.«

»Kohlen?«

»Riesentüte.«

»Zeitung?«

»La Nación

»Olé brennt besser.«

»Keine mehr gekriegt.«

»Na gut.«

»Alles klar«, sagte ich.

»Ordentlich Fleisch gekauft?«

»Hatte noch was eingefroren.«

Stille.

Ein Fehler. Mein Fehler. Ich mache dauernd Fehler. Ich mache in meinem Leben das meiste falsch und den Rest nicht richtig. Ich bestreite das manchmal, aber es ist wohl so. Das Traurige ist, dass ich mir bei allem Mühe gebe.

Vor zwei Wochen war mein Laptop kaputt. Er ließ sich anschalten und zeigte mir dann Risse auf dem Bildschirm. Aber zu fühlen waren sie nicht. Ich brauchte schnell Hilfe und ging schräg über die Straße zu einem Laden, der auch Computer repariert. Das Wort auch scheint mir im Rückblick wichtig zu sein. Das Gespräch mit dem jungen Mann im Laden war angenehm, ich hatte ein gutes Gefühl. Wir waren uns sofort einig, dass es ein Virus ist. Er sagte: »Alles kein Problem, krieg ich hin, ich ruf dich an.« Dann kümmerte er sich weiter um einen grauen Schlauch, der wohl undicht war.

Es ist ja so: Ohne Vertrauen geht nichts in Argentinien. Wenn ich das Auto ins Parkhaus bringe, gebe ich den Schlüssel entweder ab oder lass ihn stecken. Wenn ich wiederkomme, steckt der Schlüssel oder er liegt draußen auf der Scheibe neben den Wischern. Manchmal steht das Auto auch anderswo. Es wird in Abwesenheit der Fahrzeughalter viel hin und her geparkt, weil oft fünf Autos hintereinander stehen, wobei links und rechts kein Platz ist. Es kann passieren, dass der zuerst eingeparkte Wagen auch zuerst abgeholt wird – dann müssen zunächst die anderen vier nacheinander umgesetzt werden.

Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, um mich damit abzufinden, dass ich das Auto samt Schlüssel zurücklasse. Die Parkhausmänner sehen nicht immer sehr vertrauenserweckend aus, für meinen Geschmack tragen sie die Haare zu lang. Wahrscheinlich bin ich da befangen. Ich hatte auch mal lange Haare, und das war keine angenehme Zeit – nicht für mich, nicht für die anderen. (Ich sah ein bisschen aus wie John Lennon, was ein Problem ist – außer, man ist John Lennon.)

Für Frauen wird natürlich eingeparkt – für hübsche sogar kompliziert. Das soll erstens Eindruck machen und zweitens sicherstellen, dass für die Dame auch wieder ausgeparkt werden muss.

Ich habe mir um meinen Laptop also überhaupt keine Sorgen gemacht.

Pablo hatte ein anderes Gefühl. »Du hast ihn doch nicht einfach dagelassen, oder? Und du hast bestimmt nichts, um zu beweisen, dass du da warst?«

»Doch!«

»Gut. Bin stolz auf dich. Zeig mal her!«

»Am Kühlschrank.«

»Das ist eine Visitenkarte, boludo

»Eine magnetische Visitenkarte.«

»Kein Name. Keine Adresse. Und lies mal, was drauf steht: Der Typ repariert Waschmaschinen, Mikrowellen und Kühlschränke.«

»Computer auch«, sagte ich. »An seiner Ladentür klebt ein Poster vom Pentium

»Wie heißt der Typ überhaupt?«

»Adriano. Glaub ich. Oder Andres. Irgendwas mit A.«

»Irgendwas mit A«, schrie Pablo. »Hallo Polizei, bitte Großfahndung: Gesucht wird irgendwas mit A, das Kühlschränke, Waschmaschinen und Mikrowellen repariert. Ach ja, und Laptops klaut. Aber mein deutscher Freund hat eine verdammt heiße Spur: eine Visiten … pardon … eine magnetische Visitenkarte.«

Ein paar Tage später lief ich durch die Avenida Corrientes. Sie ist berühmt für ihre Buchläden, ihre Theater und Opern, man nennt sie auch den Broadway von Buenos Aires. Ich beschloss, einem der Schuhputzer, die dort Tag für Tag auf dem Bürgersteig sitzen, einen Besuch abzustatten. Natürlich putze ich meine Schuhe auch selbst. Aber zum einen erzählt der Journalist Sebastian Schoepp in seinem wunderbaren Buch »Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann« von einem Erlebnis in Nicaragua:

Einmal erwischt Douglas mich dabei, wie ich meine Schuhe putze. »Warum gibst du die nicht einem der Schuhputzer, die überall draußen herumlaufen, der muss auch Geld verdienen, um zu überleben?

Zum anderen gebe ich in der Corrientes so viel Geld für Bücher aus, um dann immer aufs Neue schon beim Vorwort – überfordert von der Fülle unbekannter Wörter – auszusteigen, dass viel dafür sprach, umgerechnet 2,50 Euro einmal sinnvoller anzulegen.

»Zieh deine Schuhe aus, ich nehme die mit nach Hause.«

Ich schaute von meiner Zeitung auf. »Wissen Sie, was ich gerade verstanden habe?«

»Wie sollte ich?«

»Dass Sie meine Schuhe mitnehmen wollen. Witzig, oder?«

»Wie man’s nimmt. Ich hab’s ja gesagt. Die Dinger muss ich über Nacht behandeln. Sind morgen fertig. Dort drüben ist ein Schuhgeschäft. Gruß von Alfredo, kriegst einen schönen Rabatt.«

Natürlich ist mir zu Hause Pablo im Fahrstuhl begegnet.

»Schicke Schuhe. Neu?«

»Ja.«

»Bisschen zu grün vielleicht.«

Pablo hörte sich meine Geschichte bis zum Ende an. »Warte«, sagte er dann und drückte die Stopptaste des Fahrstuhls. »Erzähl sie mir noch mal. Du bist ja noch dümmer, als ich dachte.«

Ich habe dann gleich gemerkt, dass Pablo wegen des eingefrorenen Fleisches nicht so richtig Lust hatte, mit mir zu grillen. Immer wieder murmelte er etwas vom Wetter, ging hinaus auf die Terrasse und schaute minutenlang schweigend gen Himmel, kam in die Küche, roch am Fleisch, redete Unverständliches mit seinem Asadogott und ging wieder nach draußen.

»Pablo, ich gucke mal im Internet, wie das Wetter wird, ja?«

»Du glaubst dem Internet?«, fragte er und machte ein Geräusch, das wie pffffffff klang. Dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. »Che Augustin! Holabuendiaquetal? Geh mal schnell zum Fenster. … Ja, ich weiß, dass du viel zu tun hast. … Haben wir alle. … Die Señora an Tisch drei kann warten. … Ist sie wenigstens hübsch? … Siehst du, dann kann sie erst recht warten. … Ja, bei mir ist alles gut. … Nun sag mal, was ist mit Uruguay? … Echt? Hmmh. Wusst ich’s doch! … Du kannst die Speisereste in den Bärten erkennen? … Nicht mal ordentlich essen können die, hehe. … Du, die Señora mit den breiten Hüften wartet auf dich. Wir sehen uns. Hasta luego!«

Pablo legte sein Telefon beiseite und sagte: »Bestellen wir uns eine Pizza. Asado fällt aus. Regnet nachher.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Augustin, alter Freund von mir, absolut zuverlässig. Arbeitet als Kellner im 22. Stock, feinster Blick über unsere herrliche Stadt.«

»Und?«

»Er sieht Uruguay, also nicht das ganze Land oder vielleicht doch, ist ja nicht so groß. Die Küste sieht er jedenfalls. Und wenn Augustin im 22. Stock über den Río de la Plata nach Uruguay schauen kann, gibt’s bald Regen in Buenos Aires. Ist so. Sehr altes Wettergesetz. Die Wäsche kannst du schon mal abnehmen. Übrigens, welches Land liegt am dichtesten am Himmel?«

»Argentinien?«

»Nee, mein Lieber, Argentinien ist ja der Himmel.«

»Dann wohl Uruguay.«

Ja, Humor haben sie, die Argentinier. Neulich war ich mit der Einjährigen im Kinderkrankenhaus. Sie hatte Fieber und sollte Urin abgeben. Die Schwestern erzählten etwas von aseptisch und schickten mich über die Straße zur Apotheke, um einen Becher zu kaufen. Als ich zurück war, ermahnten sie mich, beim Wasserholen sozusagen Abstand zum Brunnen zu halten, wegen aseptisch. War sicher alles nett gemeint und medizinisch vorbildlich. Wenn das keimfreie Gefäß aber leer bleibt, weil Vaters ballistische Kenntnisse nicht ausreichen, um den weiblichen Strahl aufzufangen, hätte es auch der ausgewaschene Joghurtbecher getan, den die Bolivier neben uns gereicht bekamen.

Ich hatte mittlerweile Kohlen und Kohlenanzünder im Verhältnis 2:1 gemischt. Das Feuer brannte noch nicht, da begann ich schon, die Steaks auszupacken und den fettigen Chorizos Schnittwunden zuzufügen. Pablo versuchte noch immer, in die Wolken zu schauen, wurde aber von Minute zu Minute unruhiger. Er ging jetzt auf und ab, kam zu mir und lief wieder weg, fummelte an seinem Telefon herum und blätterte in La Nación, drehte noch eine Runde. Und wenn er sich einen Augenblick nicht bewegte, nicht mit sich selbst sprach, nicht getrieben war, stach ich mit der Gabel tief ins Fleisch hinein. Das wirkte.

»Waaaaaas machst du da?«, schrie er irgendwann.

»Ich grille, und ich gucke, ob das Fleisch schon durch ist.«

»Du grillst nicht, du entweihst unser Fleisch, unser heiliges argentinisches Fleisch, das beste Fleisch der Welt, unseren Stolz.«

»Oh bitte, Pablo!«

»Ich sag dir: Der Asadogott sieht alles. Du bist hier nur Gast!«

Pablo nahm mir das Grillbesteck ab und schob mich beiseite. Dann zog er seinen Pullover aus. Er stand vor mir im Unterhemd und versuchte, mich auf seine vielen Brusthaare neidisch zu machen. Was ihm auch gelang.

»Showtime«, sagte er und klatschte in die Hände. »Es ist das erste und das letzte Mal, dass ich dir meine Geheimnisse zeigen werde. Und pssssst! Kein Wort zu niemandem!«

Es hat nicht geregnet an diesem Abend. Und ich habe alles wiederbekommen: erst meine Schuhe, die wie neu aussehen, dann nach einer Woche den Laptop. Ich weiß nicht, was genau kaputt war. Aber ein Virus war es nicht. Sogar das Wasserholen bei der Einjährigen hat geklappt. Mit Katheter.

Gänsehaut unterm Brustfell

von CHRISTOPH WESEMANN

Ist das nun ein gutes Zeichen? Der Protest gegen die Politik der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird professioneller und organisierter – ein bisschen jedenfalls. Gewiss, es gibt noch immer keine Tribüne, auf der sich ein Gewerkschafter heiser schreien oder ein Kirchenmann predigen könnte. Wieder wehen keine Parteifahnen. Die Suche nach einem charismatischen Gegenspieler zur Amtsinhaberin ist bislang erfolglos geblieben, so wie die Opposition insgesamt nicht genug glänzt, als dass der Volkszorn sie unbedingt dabeihaben müsste. Und die Plakate, die sind nach wie vor handgemalt. Manche Tafel wird noch bekritzelt, als am Donnerstagabend der 8N-Protest längst begonnen hat. Vieles ist noch immer wie am 13. September, als das Land den größten Wutausbruch seit vier Jahren erlebte.

Aber die fliegenden Händler sind da. Sie verkaufen die argentinische Fahne, andere blauweißblaue Winkelemente und Getränke. Und irgendwo auf der Avenida 9 de Julio, der angeblich breitesten Straße der Welt, steht auch ein Grill. Es gibt Choripán, also grobe Wurst im Brot.

Eine halbe Million soll es sein, die sich um den Obelisken zum kollektiven Topfschlagen versammelt hat. Nach Angaben der Stadt, die freilich von Mauricio Macri regiert wird, einem Gegner der Präsidentin, sind 700 000 Porteños auf der Straße, um mit Kochtöpfen und Pfannen gegen Korruption, Inflation, Kriminalität und eine dritte Amtszeit Kirchners Lärm zu machen. Auch vor der Haustür der Präsidentin ist es nicht ruhig. Im noblen Stadtviertel Olivos, wo Cristina Kirchner wohnt, haben sich 30 000 Menschen versammelt. Und in den Provinzen? Auch dort ist was los, mal mehr, mal weniger. Córdoba, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, meldet 40 000 Teilnehmer, Río Grande, die größte Stadt von Feuerland, »bis 100«.

Der Hauptstadtbürgermeister Macri behauptet, es seien landesweit zwei Millionen gewesen. Diese Zahl mag übertrieben sein. Wer weiß das schon? Aber die Wut auf Cristina und ihre Leute ist längst Massenware. Die Zeitung La Nación spricht heute von einem »historischen Protest«. Clarín, die meistgelesene Zeitung des Landes, titelt: »Gigantischer Protest gegen die Regierung«. Auf 17 Seiten widmet sich das Blatt dem Thema des Tages. Und ein bisschen Poesie gibt’s auch. Clarín schwärmt von der »Nacht der kurzen Hosen«.

Oh ja, es ist warm, fast heiß am späten Donnerstag. Und viel Haut liegt bloß. Mancher aber hat es wohl nach Feierabend nicht mehr nach Hause geschafft, um sich umzuziehen. Ärzte und Krankenschwestern sind noch in Dienstkleidung unterwegs.

Apropos viel Haut: Vor der Fußball-WM 2010 verkündete der pummelige Nationaltrainer Diego Maradona, er werde nackt den Obelisken umrunden, wenn er mit seiner Mannschaft den Titel hole. Die Welt sollte noch heute dankbar sein, dass es anders gekommen ist und ihr dieser Anblick erspart blieb. Aber der 1936 errichtete Obelisk, der die wichtigsten Daten der Stadt auf seinen Seiten trägt, ist ein mythischer Ort. Die Triumphe der Nationalmannschaft wurden hier gefeiert. Und Evita Perón ließ sich von Millionen bejubeln, als sie 1951 Vizepräsidentin werden sollte und vielleicht auch wollte, aber nicht durfte. Die Massen feierten die Nationalheilige am 67 Meter hohen Wahrzeichen – und Juan Perón, der Präsident, war nur ein Statist und schaute deshalb finster. Er hatte doch Evita erschaffen! Er hatte doch diese unbedeutende Schauspielerin aus Los Toldos geheiratet und zur Primera Dama gemacht.

Ich habe in den vergangenen Wochen zwei Romane des großen argentinischen Erzählers Tomás Eloy Martínez gelesen, erst seinen Welterfolg »Santa Evita«, dann »Der General findet keine Ruhe«. Martínez berichtet wieder und wieder von großen Aufmärschen. Seitdem frage ich mich, ob Argentinier leichter zu mobilisieren sind als etwa Europäer, Deutsche sowieso. Natürlich steht hier auch mehr auf dem Spiel, ist der eigene Wohlstand gefährdeter, sind die Kontinuitäten schwächer. Argentinien hat in 53 Jahren – zwischen 1930 und 1983 – sechs Staatsstreiche erlebt, auch das prägt und macht aufmerksamer, wenn sich jemand mal wieder am Land vergreift und es wie einen Familienbetrieb zu führen versucht.

Damit die Präsidentin es auch versteht, erklingt am Donnerstag wieder und wieder die argentinische Version vom 89er »Wir sind das Volk!« – natürlich nicht gerufen, sondern gesungen: »Oleeleeee, olala! Si este no es el pueblo/El pueblo dónde está?« – »Wenn das hier nicht das Volk ist, wo ist das Volk denn dann?«

 

Und dann die Nationalhymne, vorgetragen vom Großen Gemischten Chor Buenos Aires: Männer haben Tränen in den Augen und bekommen eine Gänsehaut. Die besten Männer der Welt! Argentinische Männer! Männer mit so viel Brustfell, dass es sich vom Hemd nicht einsperren lässt und immer auf einen offenen Knopf besteht.

Wie ist das nun mit dem professioneller gewordenen Protest? Gemach. Noch um halb neun – 30 Minuten nach Beginn des Protestes – haben sich Autos über die Avenida Corrientes in Richtung Obelisk gequält. Sie fuhren mitten durch den Aufmarsch, obwohl der schon seit Wochen angekündigt war. Erst dann sperrten zwei Polizisten die Zufahrt. Rund um den Obelisken war indes gar keine Polizei zu sehen. Es blieb, wie der Argentinier sagt, »bien tranquilo«, angenehm ruhig. Besondere Vorkommnisse: keine.

(Ich habe gerade ein paar Probleme mit dem Computer und bastele deshalb nach und nach Bilder und ein Gesangsstück rein. Dauert ein bisschen.)

 

Eine neue Runde Topfschlagen

von CHRISTOPH WESEMANN

Wichtiger Tag heute: Wir haben 8N, und das Kürzel meint mehr als den 8. November, es steht auch für einen weiteren Aufstand der Mittelschicht. Im ganzen Land wird es am Abend Proteste gegen die Regierung geben. Man knüpft an die Cacerolazos vom 13. September an, als allein in Buenos Aires Hunderttausend auf der Straße waren, um mit Kochtöpfen und Pfannen Lärm zu machen. Diesmal könnten es noch mehr werden, zumal optimales Demowetter ist: Der argentinische Frühling spielt schon mal Sommer und hat die Heizung aufgedreht, vorerst noch auf mittlere Stufe, also 33 Grad, was hier als humane Temperatur empfunden wird. Die Hitze geht übrigens auch nicht schlafen.

Protestiert wird gegen allerlei, es hat sich offenbar ein bisschen was angesammelt: Korruption, Kriminalität, Inflation, eine mögliche Verfassungsreform, die es Präsidentin Cristina Kirchner erlauben würde, 2015 ein drittes Mal zu kandidieren, und die Wirtschaftspolitik insgesamt, die zunehmend auf Kontrolle und Importbeschränkungen setzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht Argentinien schon »auf dem Weg in die Planwirtschaft«.

Und dann ist da noch der 7. Dezember, 7D genannt. Bis zu diesem Tag hat die Clarín-Gruppe noch Zeit, sich von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern zu trennen. So will es ein vor drei Jahren erlassenes Mediengesetz, das Meinungsmonopole verhindern soll. Nun ist Clarín einerseits der finanzstärkste Medienkonzern des Landes und hat anderseits auch die lautesten Journalisten, wenn es darum geht, die Regierung zu kritisieren.

Es ist kurios. Clarín will, was die Regierung nicht will: alles behalten. Und die Regierung will, was Clarín nicht will: viel wegnehmen. Und beide behaupten, dasselbe zu wollen: mehr Meinungsfreiheit und mehr Demokratie. Das ist Argentinien.

Protestiert wird übrigens auch vor den argentinischen Botschaften und Konsulaten – wie hier in Sydney.

 

Die Fünfpesokomödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Erste Szene

Buenos Aires, Kreuzung Libertador/Bullrich, gegen 17 Uhr; Vater und sein Sohn (sechseinhalb) im Auto, Mann mit grüner Plastikflasche, deren Deckel ein kleines Loch hat

Die Ampel ist rot.

VATER. Verdammt!

SOHN. Was denn, Papa?

VATER. Der Typ will die Autoscheibe putzen.

Mann mit Spriteflasche nähert sich. Nickt.

VATER (lehnt mit den Händen ab). No. Gracias. No. Verdammt!

Mann grinst und nickt, bespritzt die linke Hälfte mit Flüssigkeit und beginnt zu wischen.

SOHN. Die Scheibe ist doch gar nicht schmutzig.

VATER (sucht Geld und findet einen 5-Peso-Schein). Hmmh.

SOHN. Du darfst die Scheibe nicht runtermachen.

Vater. Sagt wer?

SOHN. Pablo. Mama. Du.

Mann geht ums Auto und putzt die rechte Hälfte.

VATER. Ehe mir der Kerl die Scheibe einschlägt, lass ich sie lieber runter und bezahle fünf Peso.

SOHN. Er könnte dich auch erschießen.

VATER (öffnet das Fenster). Erschießen?

SOHN (baut mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole). Der schießt durch die Scheibe. Dann bist du tot. Und wir wissen nicht, was wir machen sollen.

Mann beendet seine Arbeit, empfängt die fünf Peso und bedankt sich. Geht ab.

Die Ampel springt auf Grün.

VATER. Weiter geht‘s.

Vorhang.

 

 

Die Nominierten

von CHRISTOPH WESEMANN

Heute, 21 Uhr, wieder Fußball mit den Jungs; das vorläufige Aufgebot ist gerade reingekommen:

 

Der überfragte Pablo

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo ist mein Wirklichkeitserklärer. Wenn ich etwas über Argentinien oder Buenos Aires wissen will, gehe ich nicht mehr zu Google, sondern zu Pablo. Die Trefferquote ist in Ordnung. Manchmal fühle ich mich sogar wie ein Argentinier. Das politische Geschehen zum Beispiel kann mir Pablo exakt so erklären, dass ich es nicht verstehe. Klar, er hat auch Wissenslücken. Ich habe ihn mal nach Bettina Wulffs Vergangenheit gefragt, das war eher nicht so ergiebig. Und ja, manche Antwort scheint mir ein bisschen kurz geraten. Andererseits, Freunde, ich schreibe Kolumnen, in meinem Scherzzeugkasten ist kein Platz für Komplexität.

Neulich sollte mir Pablo sagen, warum sich der Verkehr in Buenos Aires an vielen Stellen staut. Ich weiß nicht, welche Antwort ich mir erhofft hatte – jedenfalls nicht die, die mir Pablo gab. Er sagte: »Viele Autos.« Danach habe ich erst mal mich selbst gefragt, ich wollte von mir wissen, ob ich vielleicht nerve. Meine Antwort an mich war: Nein.

Manchen Fragen kann ich nun einmal nicht ausweichen. Wenn ich in Buenos Aires unterwegs bin, sehe ich einen Supermarkt nach dem anderen, und alle sind in chinesischer Hand. Der Fleischverkäufer, die Kassiererin, der Mann an der Obstwaage – alle Chinesen. Und sie sprechen das Castellano, das südamerikanische Spanisch, besser als ich. Dazu gibt es noch viele chinesische Restaurants in Buenos Aires. Ich sehe überall Chinesen. Warum? So etwas beschäftigt mich.

Pablo sagte: »Viele Chinesen.«
»Hmmh.«
»Das ist die Antwort, Nachbar. Es gibt einfach viele Chinesen. Einskommairgendwas Milliarden.«

Strichmännchen

Eine andere Frage, die mich verfolgt, ist: Warum fahren Argentinier zwischen zwei Spuren und machen so das Überholen unmöglich? Ich muss zweimal pro Woche in die Avenida Rivadavia, die angeblich längste Straße der Welt. Meine Navigation prophezeit mir die Ankunft in 16 Minuten. Die erste Viertelstunde verbringe ich damit, mich über die Leute zu erregen, die hupen, obwohl das überhaupt nichts bringt. Danach beginnen die Kinder, mich unter Druck zu setzen. Wenn sich nichts bewegt, obwohl die Ampel grün ist, rufen sie: »Hup doch mal!«

Inzwischen gelingt es mir, diesen Satz fünfmal zu ignorieren.

In der rechten Spur schleichen die Taxifahrer auf der Suche nach Kunden, in der linken Spur wird zweitereihegeparkt, um schnell etwas einzukaufen, wobei auch das nicht schnell geht. Man biegt ab, ohne zu blinken, und schaltet das Warnblinklicht ein, bevor man hält. Ich könnte rückwärts laufen und wäre nicht langsamer. Nach 35, 40 Minuten brauche ich die Kinder nicht mehr als Anstifter. Ich lasse die Hupe kaum noch los. Und soll mir bloß keiner sagen, das bringe nichts. Es bringt was.

Dass Argentinier auf zwei Spuren fahren, würde mich wahrscheinlicher weniger beschäftigen, wenn’s nicht ansteckend wäre.

Ich habe zunächst Señor G. gefragt, einen Paraguayer, den ich zufällig getroffen hatte und der schon lange in Buenos Aires lebt. Er schien sich über meine Frage sehr zu freuen. Er hat jedenfalls weit ausgeholt und mir zwanzig Minuten lang erklärt, warum der Argentinier zu den eher unsympathischen Wesen auf dem Kontinent gehöre. Weitere zehn Minuten hat er sich abfällig über Porteños, die Hauptstädter, geäußert.

Um sowohl das Verhältnis Argentiniens zu mir als auch zu Paraguay nicht zu belasten, halte ich es für sinnvoll, den Monolog zu zensieren. Zitiert werden dürfen folgende zwei Sätze von Señor G.: »Argentinier wollen sich immer, in allen Lebenslagen, alle Optionen offenhalten. Sie sind Opportunisten.«

Mit diesem Recherchematerial habe ich mich zu Pablo begeben. Um den erhobenen Datensatz, also die Antworten, vergleichen zu können, achtete ich darauf, ihm die Frage genau so zu stellen, wie ich sie Señor G. gestellt hatte: gleiche Wörter, gleicher Tonfall.

»Du meinst diese Linien auf der Straße, diese weißen Striche, ja?«, fragte Pablo.
»Bitte beantworte nur meine Frage.«
»Das sind doch bloß Empfehlungen.«

Und so wie gefahren wird, wird auch gesprochen. Ich spreche ja nach wie vor ein sehr sauberes Oberschichtenspanisch. Ich habe zwar den Wortschatz eines Zweijährigen, halte mich aber an alle grammatischen Regeln. Über das Nichts kann ich druckreif reden.

In der Spanischschule habe ich gelernt, dass der Porteño das s vor Konsonanten und auch am Ende eines Wortes oft verschluckt, vernuschelt und verschweigt. Ich höre das auch die ganze Zeit. Ich gehe ins Café und bestelle drei Croissants. Ich sage: »Tres medialunas!«
Antwort des Kellners: »Bueno. Tre medialuna.«

Kein Porteño versteht, was ich mit dem fehlenden S von ihm will. Pablo sagt jedes Mal: »Weiß echt nicht, was du meinst, Krietoff.«

 

Revolution im Kindergarten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich frage mich, was aus der Einjährigen wird. Wenn ich sie nachmittags vom Kindergarten abhole, liegt sie mit drei anderen Mädchen im Gruppenraum und hört Musik. Und sehr oft spielt die Erzieherin dasselbe Lied. Ich habe die Melodie und die Stimme gleich gemocht und jetzt endlich gefragt, wer da singt. Es singt Ismael Serrano, ein sehr politischer Liedermacher aus Spanien, der auch in Argentinien populär ist. Und das, was die Einjährigen hören, ist sein 95er-Protestlied »Atrapados en azul« (»Gefangen in blau«).

Blau sind die Uniformen der spanischen Polizei. Gleich in der ersten Zeile kommt Francos Diktatur um die Ecke, als die Uniformen noch grau waren – »andere Zeit, andere Farbe«. Sonst hat sich nicht viel verändert. Ein Lied über Staatsgewalt gegen Leute, die anderer Meinung sind. Das wird ein aufmüpfiges Kind werden.

Und die Erzieherin sieht so harmlos aus.

(Hier ist der Text zum Mitsingen – und hier die englische Übersetzung.)

Mein Sohn und der Pferdekotismus

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn hat es nicht immer leicht in seiner argentinischen Schule. Wenn er die Wahrheit sagt und sich nicht aus Imagegründen zum Märtyrer stilisiert, dann ist er in seiner Klasse der einzige Fan des Fußballklubs Boca Juniors. Weil die Schule in einer vornehmeren Gegend von Buenos Aires liegt, ist sie Hoheitsgebiet von River Plate, dem Verein der Mittelschicht, dessen Fans sich auch »Millionäre« nennen und die Anhänger des großen Feindes »Bosteros« rufen. Die Bosteros haben früher im Stadtviertel La Boca die Straßen von der »bosta«, dem Pferdekot, befreit.

In der 1 c gibt es noch einen Jungen, der auch den Arbeiterklub Boca mag. Aber der zählt nicht so richtig, weil er auch Einwanderer ist, jedenfalls unterhält er sich mit meinem Sohn auf Russisch – auch über Boca, also vor allem über Boca.

Tja, und die Mädchen in seiner Klasse, die sind natürlich auch keine Hilfe. Die machen nur Hüpfgummi, sagt er.

Am Sonntagnachmittag ist Superclásico in Buenos Aires. River empfängt im »Monumental«, sieben Minuten entfernt von unserer Wohnung, die Boca Juniors. Wenn das Spiel nicht unentschieden endet, muss ich meinem Sohn für Montag eine Krankschreibung besorgen.

Das andere Problem hat mit dem Essen zu tun. Ich schmiere meinem Sohn jeden Morgen zwei Pausenbrote: die Butter schön dick, eine große Scheibe Salami, hin und wieder Käse, echt deutschtümelnd, aber eben auch nahrhaft. Dazu bekommt er einen Apfel (schon entkernt und geviertelt), und manchmal überrasche ich ihn auch.

»Die haben wieder alle mein Essen angeguckt«, hat er gestern gesagt.
»Dein Brot?«
»Nee, das kennen sie ja schon.«
»Was dann?«
»Den Joghurt.«
»Natur, mein Junge, bio, sehr gesund.«

Gelegentlich frage ich ihn, was die anderen Kinder zum Essen in die Schule mitbringen, also auch die Riverfans. Kekse, sagt er.

Ich bin unnachgiebig. Keine Kekse. Bisweilen diskutieren wir das Thema, bis Daniel Martín um kurz nach sieben mit dem Schulbus kommt. Dann verabschiede ich mich, kaufe mir am Kiosk eine Zeitung, fahre zu meinem Stammcafé und bestelle bei Sofia, der netten Kellnerin, mein Frühstück: vier Croissants mit süßer Butter und eine Cola.

»Also wie immer«, sagt Sofia.

Mein-Sohn-Kolumnen:

Mein Sohn und der Kussismus

Mein Sohn und der Datschaismus

Mein Sohn und der Willismus

Mein Sohn, der Gausbub

Mein Sohn und der Sandalismus

Mein Sohn und der Miauismus

Mein Sohn und der Kapitalismus

SMS vom River-Fan

von CHRISTOPH WESEMANN

Was sich ein Fan der Boca Juniors aber auch bieten lassen muss, wenn er sich mit ein paar Jungs zum Fußballspielen verabredet, die unbegreiflicherweise einen anderen Verein in der Stadt mögen.

Dabei weiß jeder, der objektiv ist, dass das wirklich ruhmreiche Stadion die »Pralinenschachtel« ist.

Der Berg ruft

von CHRISTOPH WESEMANN

Was sich der Mann in den Kopf gesetzt hat, kriegt er dort so leicht nicht mehr heraus. Zweimal hat er bereits versucht, im Geländewagen den Hügel zu bezwingen und den Atlantikstrand von Mar de las Pampas zu erreichen, einem Städtchen im Süden der Provinz Buenos Aires, 100 Kilometer entfernt von der argentinischen Sommerhauptstadt Mar del Plata.

Die Weibchen der Familie – meiner, nicht seiner – verachten ihn längst. Ach, Naturschutzhysterikerinnen! Doch er gibt nicht auf. Er lässt Luft aus allen vier Reifen und wagt es noch einmal. Zwei Tage hat es geregnet, der Sand ist nass – wann, wenn nicht jetzt, soll er den Berg bezwingen? Und siehe da: Im dritten Versuch schafft er’s. Guter Junge!

Ich will es ihm nachtun und habe schon die Finger am ersten Ventil, werde aber zurückgehalten und begnüge mich deshalb mit einem abgewandelten Homer-Simpson-Heldengehupe: Ar-gen-ti-na!- Ar-gen-ti-na! Ar-gen-tina!

Proleten müssen doch zusammenhalten.

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)