Archiv für Juli, 2014

Unter Geiern … äh … Brasilianern

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Argentiniens Hauptstadt, gestern Abend: WM-Halbfinale. Ein Deutscher und seine Mannschaft. Viele Brasilianer und ihre Mannschaft. 

1.-16. Minute

Krawallende Glotze, kreischende Kinder, klingende Gläser, coole Caipis, Samba im Hintergrund. Alberne Schminke. Fingerfood ganz ok, Bier kalt und nicht von Quilmes. Schönes Spiel.

Die Brasilianer, als ob sie aus den Deutschen gleich einen Oliver-Kahn-Gedächtnisauflauf machen wollten: Luiz guckt, Hulk kratzt, Marcelo spuckt. Ich: nervös. CW, zu Hause: malt entspannt weiß-himmelblaue Papierstreifen. Und twittert.

11. Minute

Gol! GooooooooooooooooooooooooooooooolTomáßmuller.

17. Minute

A. (Name von der Redaktion geändert), der Brasilianer aus São Paulo, kommt rein, seinen fiebernden Dreijährigen auf dem Arm, seine unlustige Fünfjährige an der Hand und seine reizende Gattin an der Seite.

A. schaut auf den Fernseher. Ob das ein Scherz sei? BRA-GER 0:1? Ne Montage, oder sowas?

23. Minute

A. hat seine Plagen zu den anderen ins Kinderzimmer geschickt und will sich gerade mit seinem Bier setzen – da kommt Opa Klose. Null-zwo. A. lacht. Sein Sohn will noch eine von diesen Deutschlandfahnen haben, die einer zur Party mitgebracht hat.

24. Minute

Kroos. Das Dritte. Einfach so. Meine Frau heult. Wie Julio César und David Luiz. Im Gegensatz zu denen aber vor Rührung. Dass sie das noch erleben darf, sagt sie. (Im Viertelfinale ist sie noch Shoppen gewesen. Mit der Gattin von Hausherr CW!)

26. Minute

Kroos. Nochmal. Keine Wiederholung! Haha!

29. Minute

0:5. Ich finde, wir sollten jetzt gehen. Immerhin sind auch hier die Gastgeber Brasilianer.

Touristenführer Jogi Löw

Aber Merte hatte unrecht: Unter den letzten 16 war doch eine Karnevalsmannschaft.

Interessant: Einer, den ich nicht kenne, aber für einen Argentinier halte, stülpt die Nase über den linken Mittelfinger, hält sich den Zeigefinger an die Schläfe, legt die Stirn in Falten – und schweigt. Sehr ungewöhnlich für einen Argentinier. Klarer Fall: Die haben Angst! Jetzt schon! Ach, der Mann ist Bolivianer?! Ok, ok, ok: »Kannst du dich an Deutschland-Bolivien erinnern, WM 1994? Das 1:0?« Kann er. Will er nicht drüber reden. Fast ein Argentinier, irgendwie.

Halbzeit

Wir machen Späße. Mit den Brasilianern. Zum Aufheitern. So: »Hey, in der zweiten Halbzeit stellt sich Neuer in euer Tor. Zum Spaß. Haha!« Finden die nicht witzig.

Unser Gastgeber. Steht in der Küche. Im Glas: Cola. In der Hand: Veganerschnitte. Im Auge: eine Träne. Wir versuchen, zu trösten. Seelische Betreuung. Notfallseelsorge. Betreutes Fernsehen, sozusagen.

Zweite Halbzeit

Huy, die drücken. Ich twittere an CW: »Brasilien dreht das noch.« A., der Brasilianer, mantrat auf dem Teppich: »CincoGolesCincoGolesCincoGoles.«

69. Minute

Lahm. Und Schürrle. »Macht das halbe Dutzend voll«, würde Rubi wortmetzen. A. sitzt im Halbdunkel hinter dem Sofa und singt seinem Sohn melancholische Volkslieder aus Brasilien vor. Das Kind schwenkt die D-Fahne und grinst verzückt.

Ich lege mich fest: Brasilien dreht das Spiel nicht mehr.

70. Minute

Ich habe es geschafft. Ich habe den jüngeren Brasilianern von Zico, Sócrates und Pelé (kommt schon: Den kennt sogar ihr!) erzählt – jetzt sind sie wieder glücklich und lachen. Ach nee, es ist nur, weil Fred, der brasilianische Fußballer mit den sieben linken Füßen, endlich ausgewechselt wird.

79. Minute

Schürrle. Der alte Bruchwegboy! 0:7. Und A., der Brasilianer, so: »Deutscher Fußball ist geil.« Schon, A.! Eine deutsche Zuschauerin fragt: »Kommen wir jetzt ins Endfinale?«

90. Minute

Ja. Kommen wir.

Abpfiff

Beim Rausgehen treffe ich einen argentinischen Freund.

Bild 3 Brasilien

Ich frage: »Was steht an?« – Er: »Wir spielen gegen Holland.« – Ich: »So ein Zufall: Wir am Sonntag auch!«

*****

Weitere Text von Marc Koch

Die Geschichte des »Ooouh« und der beste Keks von Amsterdam

von KATHARINA HANDY (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Katharina Handy ist freie Journalistin und hat zwei Monate in Amsterdam gelebt und gearbeitet. Sie bloggt als Katrijn Mobiel.

*****

»Je krijgt het meisje wel uit Nederland, maar Nederland niet uit het meisje.«1

»Ich soll was über die Niederlande und Argentinien schreiben«, habe ich meinem holländischen Kollegen über Skype erzählt. »Ooouh«, sagte er, und trotz des verpixelten Bildes konnte ich sehen, wie sich schmerzhafte Erinnerungen auf sein Gesicht zeichneten. »Neunzehnhundertachtundsiebzig«, sagte er dann mit bedeutungsschwangerer Stimme. Und weil er wie alle Experten sonst im Fernsehen vor einer Bücherwand saß, während ich mit ihm sprach, wusste ich, dass es sich wirklich um eine ernste Angelegenheit handelte. »Effe googelen … eben mal googeln«, dachte ich.

Bei der WM 1978 hatte Gastgeber Argentinien die Niederlande im Finale mit 3:1 nach Verlängerung geschlagen. Argentinien wurde Weltmeister, die Niederlande … äh,  Zweiter.

 

Kaum hatte der glücklose Michael Umaña in der Nacht auf den 6. Juli 2014 den letzten Elfmeter für Costa Rica versemmelt, kaum stürmte der Oranje-Kader auf den Rasen von Salvador – da twitterte schon ein Freund aus Amsterdam: »Bin gespannt, ob Máxima das Halbfinale bei Willy im Wohnzimmer gucken darf.« Wenig später ging ein Bild durch die Netzwerke, das die Königin und den König der Niederlande Rücken an Rücken im Ehebett zeigt, mit dem Hashtag #NEDARG.

 

Máxima kam 1971 in Buenos Aires auf die Welt. Sie ist gebürtige Argentinierin. Irgendwann hat sie sich den niederländischen Thronfolger geangelt.

Es war der Sommer von 1998. Die Fußball-WM war in Frankreich und ich irgendwo in einem Sommercamp in Mecklenburg. Ach ja, und die Niederlande spielten ihr Viertelfinale gegen Argentinien. Zum Ende der regulären Spielzeit stand es 1:1, als Verteidiger Frank de Boer einen traumhaften Pass auf Stürmer Dennis Bergkamp platzierte, der dann in der 90. Minute das entscheidende Tor schoss.

Ach guck, da haben die Niederländer auch schon mal gegen Argentinien gespielt?

 

Das ist es, was mich am Fußball so stört. Jedes Mal werden die Legenden beschworen, der Geist von neunzehnhundert-(bitte selbst ergänzen), die Rückennummer von (da fällt euch schon wer ein) und die verwandtschaftlichen Beziehungen von (zum Beispiel Máxima). Dabei gibt es eigentlich, eigentlich, EIGENTLICH nur drei vier fünf Gründe, weshalb die Niederländer heute ins Finale kommen:

1. Ihr König ist zur Hälfte ein Deutscher.
2. Die Niederländer haben den weltweit größten Privatbestand an orangefarbenen Devotionalien.
3. Das Wort des Jahres 2013 in den Niederlanden war »Selfie«.
4. Die Niederländer können zwei Kinder, zwei Einkaufstaschen, einen Rucksack und eine Ehefrau auf einem Fahrrad transportieren.
5. Diese Pommes (mit Majo und Erdnuss-Soße).

Pommes

Einen hab ich aber noch (bester Keks). Und den hier (bestes Sonntagsdate). Nicht zu vergessen, das hier (#partylikeaninsider).

Hipper

  1. Du kriegst das Mädchen zwar aus Holland, aber Holland nicht aus dem Mädchen. []

Van Gaal, der Rasputin von Máxima

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Ich habe neulich mit Holländern Fußball gespielt.

Ja!

Na und??!!

Was gucken Sie denn jetzt so indigniert?

Erstens fehlte bei denen ein Mann, und zweitens sagt meine Frau immer, ich solle mich mehr bewegen, anstatt für umsonst für ein unterklassiges Fußballblog zu schreiben. Außerdem sind die Argentinier, zu denen mich der Hausherr CW manchmal mitnimmt, damit er nicht der schlechteste Spieler auf dem Platz ist, eigentlich zu schnell für einen Mann in meinem Alter.

 

Es war auch nicht teuer, wir hatten so eine cancha gemietet. Das sind kleine Fußballplätze, die man in dieser wunderbaren Stadt an jeder Ecke finden kann, sogar unter Autobahnbrücken und sogar als Ausländer (was zum Beispiel bei Handyverträgen oder städtischen Mietfahrrädern völlig ausgeschlossen ist.)

Und ich hatte ein lustiges Trikot. Was da drauf steht, ist natürlich gar nicht mein Name. Das ist spanisch und heißt: »Ihr werdet verlieren.« Klingt aber holländisch. Gut, oder!!?

Van a perder

Als jemand, der seinerzeit die Aufnahme in die Ajax-Schule nur haarscharf verpasst hat, schätze ich ja den eleganten Angriffsfußball nach ausführlichem Kurzpass-Vorspiel. Die Älteren erinnern sich: 1972, Finale Europacup der Landesmeister: Ajax Amsterdam, 2:0 gegen Inter. Der Sieg des totalen Fußballs. Der Tod des Catenaccio. Seitdem war das 4-3-3-System in Holland heilig.

Dann kam van Gaal. Dieses sympathische Feierbiest. Der sich von seinen Kindern siezen lässt (was ich CW für seinen Nachwuchs auch mal empfehlen sollte!). Der seine Spieler nicht mit Namen, sondern mit Nummern anspricht. Und verlangt, dass sie tun, was er sagt. Der perfekte Pädagoge also. Ein Mann mit Prinzipien. Einer, der irgendwie nicht nach Argentinien passt. Dachten wir.

Doch der alte Aloysius hat es drauf: Da muss er mit einer Truppe zur WM, die es – na ja, sagen wir mal – nicht so richtig gut kann, das Fußballspielen. Und dann kicken die sich locker durch dieses Turnier. Wie das jetzt? Weil van Gaal den Argentinier in sich entdeckt hat! Er wechselt das System, wie es ihm gerade passt: Stundenlang lässt er 5-3-2 spielen. Das braucht nicht nur kein Mensch, das kapiert auch kein Gegner. Aber zehn Minuten vor Schluss: Heißa, die Waldfee, 4-3-3, Robben rennt fünftausend Meter in einer halben Minute, trifft und Holland gewinnt.

Dazu kommt, und auch das ist ja argentinisch gedacht, dass van Gaal schon mit einem 1:0 zufrieden ist. Früher waren argentinische Fußballer da anders: »Fußball ohne Tore ist wie ein Tag ohne Sonne«, hat der sehr große Don Alfredo di Stéfano immer gesagt. Aber der ist dann ja auch Spanier geworden.

Apropos Waldfee und Nationalitätenwechsel: Die Holländer haben sich ja vor ewigen Zeiten eine Argentinierin ins Königshaus geholt. Wahrscheinlich, damit das Protestantenvolk mal ein bisschen lockerer wird. Kein Festhalten an sogenannten »ewigen Wahrheiten«. Und schon gar nicht am 4-3-3. Wenn Holland demnächst Republik wird, ist Máxima schuld!

Wenn Argentinien nicht Weltmeister wird, allerdings auch.

*****

Weitere Texte von Marc Koch im Argentinischen Tagebuch:

Das Wunder von Salzburg

von AXEL SCHERM (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Axel Scherm bloggt im Moment wenig, musiziert aber viel.

*****

Was lag näher, als auf den Tag genau 60 Jahre nach dem Wunder von Bern das Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft in einer ehemaligen k.u.k.-Stadt im Fernsehen anzusehen. Nein, Ungarn war mir zu weit weg. Nachdem allerdings Österreich bei uns gleich um die Ecke liegt und es sich fügte, dass die Liebste beruflich derzeit in Salzburg weilt, das Wetter herrlich und die weiteren Aussichten am Wochenende nicht minder herrlich waren, fuhr ich am Freitag gegen Mittag mit dem Motorrad in die Mozartstadt.

Bis Straubing auf der Autobahn, dann die zugegeben wenig malerische B 20 bis Braunau. Kurz vor der Grenze musste ich tanken und auf meine Frage, ob es denn die Deutschen heute Abend schaffen würden, antwortete mir die fröhlich-sympathische Tankwartin in breitestem Niederbayrisch, dass dies wohl eine schwierige, aber durchaus lösbare Aufgabe sei.

In Braunau schweiften meine Gedanken kurz in Richtung eines nicht von Mercedes Benz legitimierten Werbespots einer schwarzhumorigen Filmhochschule ab, und ich verfuhr mich. Manchmal sollte man einfach nicht an der falschen Stelle rechts abbiegen.

Aber ich lag gut in der Zeit, und weil die Sonne brannte und die Wolken quollen, genehmigte ich mir an einer Tankstelle eine Trinkpause. Vier kernige Bierdimpfl saßen dort um einen ebenso kernigen Holztisch, prosteten mir zu und versprachen mir, dass der Traum vom Halbfinale heute Abend wohl ausgeträumt sein dürfte. Ich prostete mit meiner Wasserflasche zurück, beglückwünschte die Herren zur erfolgreichen WM-Qualifikation und fuhr die Yamaha bei der anschließenden Flucht in den roten Bereich.

Die Liebste bewohnt während ihres Aufenthaltes in Salzburg eine nicht sehr noble, aber äußerst zentral gelegene Ferienwohnung. Sogar einen Tiefgaragenplatz hatte sie mir organisiert. Aus lauter Freude darüber, aber hauptsächlich, weil ich beim Absteigen an den ungewohnten Seitenkoffern hängengeblieben war, warf ich die Maschine erst einmal um, besser, ich lehnte sie an die Wand und versah Spiegel und Koffer mit malerisch blauen Streifen der Tiefgaragenwandfarbe. Ein Omen: Wir würden die Franzosen niederwalzen!

Der Anstoß rückte immer näher, die Liebste hatte bereits gekocht, aber vorher musste noch ein echtes Männerprojekt angegangen werden: Die Haltestange des Duschvorhangs, ein billiges Alu-Teleskop, war in der Nacht zerbrochen und samt blauem Duschvorhang mit lautem Gepolter in die Badewanne gestürzt. Ein weiteres Omen?

Jedenfalls dengelte ich unter Zuhilfenahme einer Schöpfkelle und eines Messers eine Kerbe in den einen Teil der zerbrochenen Stange, schob diesen dann in den anderen Teil, suchte und fand die in die hintersten Ecken des Badezimmers gerollten Gummistöpsel und klemmte Teleskop und Vorhang wieder an die vorgesehene Stelle in die Stöpsel. Jetzt konnte es endlich losgehen.

Axel und Schürrle

Nach zwölf Minuten allerdings war alles schon wieder vorbei. Mats Hummels traf. Klose traf nicht. Müller nicht. Schürrle nicht. Auch kein anderer. In der Pause beömmelten sich Mehmet Scholl und Matthias Opdenhövel in gewohnter Weise, und in einer Schalte nach Berlin unterhielten sich eine handwerklich einwandfrei geschminkte Franzi van Almsick mit einem gewohnt smarten Arne Friedrich und dem Trikotzerreißer Robert Harting, der seinem Image als Bundeshüne mit Fremdwörtern entgegenzuwirken suchte, die nie ein Mensch jemals zuvor gehört hatte.

Mir schmeckte ein Stiegl-Paracelsus-Zwickl-Bier. Es könnten auch zwei gewesen sein. Die Liebste hatte einen Wachauer Marillenbrand erstanden, der dafür vorgesehen war, jedes deutsche Tor mit einem Stamperl zu begießen. Es blieb bei einem Schnaps. War auch gut so, ich musste ja auf der Hut vor den Bierdimpfln sein. Zum Glück stand mein Moped gut versteckt in der Tiefgarage.

Der unvollendete Nachruf

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

*****

Buenos Aires, Freitag, 4. Juli 2014

11.45 Uhr. Deutschland könnte heute gegen Frankreich ausscheiden. Ich brauche einen Text. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass Deutschland ausscheidet. Ich kann nur nicht auf das Ende warten. Aber auch seriöse Zeitungen haben ja für jede halbwegs bedeutende Persönlichkeit einen vorbereiteten Nachruf im Stehsatz – damit sie vom Tod niemals überrascht werden. Und wie sollte das kein Tod sein: ein Ausscheiden dieser hochbegabten Truppe im Viertelfinale, nach diesen schwachen Partien gegen Ghana, die USA und Algerien?

Nach dem Abpfiff muss ich meine drei Kinder bewachen und die zwei argentinischen Schulfreunde des Sohnes, die sich zum Spielen angemeldet haben. Fünf Kinder zwischen zweieinhalb und neun Jahren, ganz oder weitgehend sozialisiert in Argentinien: Da werde ich nicht an Deutschlands Nachruf denken, höchstens an meinen eigenen. Also schreibe ich jetzt vor und veröffentliche mit dem Abpfiff. Erster! Wenn das Ergebnis stimmt.

Ein paar hübsche Ideen, ringsum Wörter und Wortspiele, und dann ruht hier gleich der deutsche Männerfußball.

12.05 Uhr. Mir geht diese Weltmeisterschaft ja mitunter sehr auf die Nerven. Mich nervt das demonstrative Gottangebete der brasilianischen Spieler. Mich nervt, dass man im Fernsehen wenig vom Spiel sieht, weil schon wieder eine Superzeitlupe von Neymars verzerrtem Gesicht eingespielt wird. (Und Neymar, darum natürlich wissend, verzerrt das Gesicht.) Viele Spieler scheinen sehr auf das Bild bedacht zu sein, das die Kameras von ihnen einfangen. Wenn Mario Götze eingewechselt wird, sieht er aus, als käme er nicht vom Aufwärmen, sondern geradewegs aus der Maske, und wolle weiter zum Fotoshooting. Frisuren sind auch wichtig geworden. Es wird getönt, gescheitelt und haargesprayt wie nie. Jeder hat seine Rolle. Selbst Thomas Müllers Empörung über einen nicht gegebenen Einwurf wirkt immer ein bisschen zu empört. Er ist der letzte deutsche Volkfußballspieler.

12.15 Uhr. Eine Idee reicht auch.

12.22 Uhr Die verkleideten und geschminkten Zuschauer nerven mich übrigens noch mehr als die winkenden. Sind die nächsten zwei Weltmeisterschaften – Russland 2018 und Katar 2022 – vielleicht auch eine Chance für den Fußball? Weil alle Tribünenspaßvögel – der Goudaaufdemkopfbalancierer, der Perückte, der Federschmuckträger – wegbleiben. Scheichs verkleiden sich ja wohl eher nicht noch mal.

12.29 Uhr. Ich könnte kritisieren, dass Joachim Löw bei diesem Turnier mit vier Innenverteidigern auf 1986 gemacht hat, weil er unbedingt und egal wie Weltmeischter werden wollte. Jedes Mittel war ihm recht, um nicht für alle Zeiten der Bundestrainer zu sein, der mit der goldensten Generation, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat, ohne Titel bleibt.

Übrigens, eine üble WM muss das gewesen sein, für Fußballästheten, damals vor 28 Jahren in Mexiko, aus deutscher Sicht, meine ich. Die Deutschen rumpelten, grätschten und mauerten sich durchs ganze Turnier. Teamchef Franz Beckenbauer sagte am Abend vor dem Endspiel gegen Argentinien zu seinem Assistenten Vogts: »Stell dir das mal vor, Berti. Mit dieser Trümmertruppe stehen wir im Finale. So schlecht ist der Fußball geworden.« Solche Sätze konnte der Franz also schon damals sagen. Ich dachte viele Jahre, Beckenbauer wäre erst 1990 – mit dem WM-Triumph in Italien – cool geworden.

12.36 Uhr. Ich könnte auch über Höwedes schreiben, der, sobald er schwitzt, aussieht wie Al Bundy. Höwedes schwitzt immer, schon in den ersten Minuten, er arbeitet ja Fußball nicht nur, er sieht dabei auch noch aus, als schöbe er schon die dritte unbezahlte Überstunde an diesem Tag.

Mir fällt gerade auf, dass mir nicht einfällt, wie Höwedes mit Vornamen heißt. Google sagt: Benedikt. Sieht der schwitzende Benedikt Höwedes wirklich aus wie Al Bundy? Vielleicht bilde ich mir das auch ein, weil ich in meinem Leben ein bisschen zu oft Al Bundy und viel zu oft Benedikt Höwedes gesehen habe. Außerdem: Wenn ich bei Höwedes bin, bin ich wieder bei Löw. Ohne Löw kein Manndecker als linker Verteidiger.

Der neue deutsche Fußball wurde in Argentinien in jüngster Zeit sehr bewundert. Für das Stürmische, Wilde, Leidenschaftliche und zugleich Leichte der Jahre 2006ff.; für die kurzen und schnellen Pässe, die in den besten Augenblicken eine Präzisionsarbeit waren, ohne je nach Herstellung am Fließband auszusehen. Es waren Künstler am Werk, keine Schrauber und Schweißer. Das passte überhaupt nichts ins Bild, das der Argentinier vom fútbol alemán hatte. Jahrzehntelang hatte man am Río de la Plata von »El Panzer«gesprochen. Die Deutschen zerstörten den schönen Fußball der anderen; und sie taten es mit deutscher Gründlichkeit.

12.56 Uhr. Argentinische Männer haben mir, dem Deutschen in Buenos Aires, oft Fußballkomplimente gemacht. Das war mir unangenehm. Argentinierinnen haben mir schöne Augen gemacht. Dagegen habe ich mich nicht gewehrt, obwohl ich ja schon ewig verheiratet bin. Und: weil. Natürlich dachten die Frauen an Jogi Löw und Oliver Bierhoff, aber man darf nicht alles im Leben hinterfragen. Verdammt schöne Augen!

Hätte Deutschland den Titel geholt, hätte ich in Buenos Aires eine Weile mit dem Weltmeischtertrainerdialekt gesprochen. Español badense. Hola, cómo eschtás? Haschta luego!

13.12 Uhr. Haha, das ist gut. Eine Idee! Me guschta mucho. Weiter! Weiter! Weiter! Jetzt habe ich einen Lauf und …

Fernseher: »Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooool! Gooooooooooooooooooool para Alemania! Gooool de Mats Uuuuuummmmmmmmmeeeeeelts!«

Hmmmh.

14.45 Uhr. Nach 95 Minuten ist Schluss. 1:0 für D.

14.46:30 Uhr. Der Text liegt jetzt in der Schublade »Nachrufe, noch zu überarbeiten«.

Die hochspekulative Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

*****

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten und plaudern über Fußball und den Rest.

CW. Wann spielt der nächste Weltmeister sein Viertelfinale? Sonnabendmittag? (Erbitte argentinische Anstoßzeit.)

MC. Freitag um fünf.

CW. Hahaha. Jetzt auch Kolumbianer, he?

MC. Klar! Oder Belgier. Alle anderen können gehen.

CW. Du warst ja auch schon Holländer, Chilene und Franzose.

MC. Nur für einzelne Spiele. Es muss verhindert werden, dass der hässliche Fußball Weltmeister wird. Um jeden Preis.

CW. Ein Idealist. Ein Schöngeist. Wie putzig! Ich komme gleich zum Streicheln vorbei.

MC. Aber zieh Dir vorher ein sauberes Trikot an!

CW. Argentinien hat alle Spiele gewonnen. Ich darf nicht waschen. Bringt Unglück.

MC. Wir brauchen übrigens einen Plan.

CW. Fürs Leben?

MC. Nein. Vielleicht doch. Ja, bestimmt. Ich meine aber: fürs Viertelfinale. Wir müssen reagieren, wenn Deutschland, Brasilien und Argentinien rausfliegen. Wer macht wen fertig?

CW. Puh.

MC. Als der authentische Argentinier, der Du ja bist, müsstest Du natürlich Deinen Jungs umgehend in den Rücken fallen. Wenn sie gegen Belgien am Sonnabend verlieren …

CW. … dann war mir das spätestens vor einer Woche längst klar.

MC. Zu spät! Viel zu spät! Du hast nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

CW. Ich habe nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

MC. Gut so. Ich nehme an, Brasilien machst Du dann gleich mit fertig.

CW. Ehrensache.

MC. Dann bin ich der deutsche Stammtisch. Wir sollten überlegen, wie wir das anpacken. Es soll ja originell werden.

CW. Was können wir, was die anderen nicht können? Was haben wir, was die anderen nicht haben? Wie sind wir? Und wie sind die anderen nicht?

MC. Wir sind schnell. Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie. Mehr?

Rumpelfußball reloaded

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Die zugegeben attraktive Dienstkleidung der Argentinier war noch kein bisschen beschmutzt, da hatten die Kommentatoren von Canal 7 schon die Erklärung parat: Der Boden im Stadion von São Paulo sei viel zu hart. Keineswegs liege es an den begnadeten argentinischen Fußballern, wenn der Umgang mit dem Spielgerät bisweilen etwas ungewöhnlich wirke. Wenn man zum Beispiel mal wieder nicht wusste, ob der Mann in weiß-himmelblau jetzt stoppen oder einen weiten Pass spielen wollte.

Dazu muss man wissen, dass Canal 7 das hiesige Staatsfernsehen und gleich nach Mate und Fernet-Cola eine der übelsten argentinischen Erfindungen ist. Zwischen Videoclips mit Regierungspropaganda senden sie ein bisschen Fußball und reden den schön, sofern es sich um das eigene Team handelt. Natürlich auch den Grottenkick gegen die Schweiz.

 

Nach diesem Spiel schickte der Hausherr CW, der von Fußball noch mehr versteht als von Marketing, eine SMS: »Noch dreimal so eine Scheiße, und wir haben den Pokal!«

Das klang irgendwie erschöpft. Aber Erschöpfte neigen ja dazu, große Dinge gelassen auszusprechen – unser MC Merte in der Eis-Eis-Tonne kann sozusagen ein Lied davon singen:

 

Und schon sind sie wieder da, die alten Geister.

Mit freundlicher Genehmigung von Härringers Spottschau (c)                              zum Vergrößern aufs Bild klicken

Keine zehn Tage ist es her, dass die Holländer gemeinschaftlich mit den Chilenen die Erfinder des schönen Fußballs getötet haben. Und schon ist er wieder salonfähig: der Rumpelfußball. (Es lohnt sich übrigens, Wikipedia nach »Rumpelfußball« zu fragen. Ich konnte nicht glauben, was ich da gesehen habe. (Grüße an die Kameraden von heftig.co!)

Hauptsache gewonnen ist wieder schick: zur Not auch mit einem »0,5 : 0«, wie Brasiliens Heulboje Neymar Junior gerade erklärt hat. Thomas Müller brandredet für »irgendwie gewinnen«, und das Fachblatt für den langen Ball in die Spitze lobt den »Schrottfußball«. Solange er erfolgreich ist. Die Rehabilitation des Rumpelfußballs feiert fröhliche Urständ.

Nur noch eine Frage der Zeit, wann die Fachpresse eine Wildcard für Griechenlands Finalteilnahme fordert.

Doch während wir dem Spirit von Mexiko, Chile und den USA nachtrauern und uns fit machen, Kolumbien und Belgien in die nächste Runde zu singen, kommt plötzlich Zuspruch von einer Seite, von der wir es nie erwartet hätten: von IHM. Dem, den sie hier für den ALLERGRÖSSTEN halten. ER also spricht zu uns: »Ich aber sage Euch: Wir können nicht immer nur der Sportclub Messi sein!« Und dann liest ER dem Übungsleiter Alejandro Sabella mal so richtig die Leviten.

ER will auch keinen Rumpelfußball. Dass ich das noch erleben darf!

Gracias, Diego!

*****

Härringers Spottschau hat uns freundlicherweise erlaubt, seinen Cartoon zu benutzen. Vielen Dank!

 

Im Hafen von Alcúdia: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche

von WACHO CHORRO (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Stammleser Wacho Chorro bloggt bei den Borrachos Bornheim. Sein erster Beitrag im WM-Tagebuch steht hier.

*****

Das nenne ich Glück: Die Weltmeisterschaft genieße ich auf den Balearen, fernab der unsäglich deutschen TV-Kommentatoren. Die spanischsprachigen Vertreter der Zunft leben das Spiel und vor allem die Tore geringfügig mehr. Geguckt werden die Partien der Albiceleste, unserer weißhimmelblauen Nationalelf, im El Bodegón, einer argentinischen Bar im Hafen von Alcúdia. Da fast alle Argentinier hier in der Tourismusbranche arbeiten, wechselt die Besetzung natürlich von Spiel zu Spiel. Aber die Stimmung ist trotzdem jedes Mal prächtig, wie mein jüngster Lauschangriff beweist:

 

 

Foto

Wir schenken uns diesmal 117 Minuten Erinnerung an das Achtelfinalspiel gegen die Schweiz und beginnen gleich mit dem Tor von Ángel Di María nach schönem Dribbling von Leo Messi. Welch Erlösung!

 

Die Kumpels reißt es so heftig hoch, dass ihre Stühle nebenan beim Souvenir-Laden zwei große Ständer umwerfen. Also gehen wir hinüber und bitten um Entschuldigung – nein, natürlich nicht. Nicht jetzt. Später vielleicht. Wenn wir’s vor Freude über den Einzug ins Viertelfinale nicht vergessen. Die Kumpels sind sowieso schon anderweitig beschäftigt, sie rennen wie die Irren herum, und die Händler gucken da gleich noch finsterer. Es droht eine Eskalation. Ich muss etwas tun. Wacho, zeig dich von deiner besten Seite!

Meine körperliche Erscheinung beruhigt augenblicklich die Lage.

Die Partie kann wohl regulär beendet werden, aber die letzten Minuten haben es in sich. Die Schweiz greift an und trifft nur den Pfosten. Eine alte argentinische Gaucho-Regel besagt übrigens: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche. Hören wir mal, ob sie stimmt:

 

Wir werden danach noch zu einer Freifahrt mit der Touri-Bimmelbahn durch den Ort eingeladen – zum Leidwesen der anderen Passagiere. Aber ein Ende unseres Ausnahmezustands ist ja absehbar: Nur noch drei Siege, und wir sind durch! Welt-meis-ter! ¡Vamos Argentina, carajo!

Bimmelbahn

Der argentinische WM-Hit: Warum Brasilianer seit 24 Jahren heulen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wir sind alle noch ein bisschen erschöpft von unserem epischen 1:0 im Achtelfinale gegen die Schweiz gestern. Deshalb lassen wir heute die Seele baumeln und hören ein paar Versionen des argentinischen WM-Hits »Brasil, decime que se siente«. Fußball und Musik gehören in Argentinien naturgmäß zusammen, und die Musik wiederum soll bitteschön tanzbar sein. Argentinier tanzen wirklich gern, und nicht nur, wenn sie betrunken sind. (Dann natürlich auch.) Irgendeine Feier beginnt, die Musik wird aufgedreht – und die Tanzfläche ist sofort voll. Die ganz Jungen tanzen, die ganz Alten tanzen und die ganz Dazwischenen auch. So bleibt es, bis die Musik abgedreht wird. Kein Stimmungsmacher muss bitten und betteln, dass ein paar Leute aufstehen und mitmachen.

Beim Fußball wird leidenschaftlich gesungen, und mitunter kommt Großes dabei heraus: etwa die Nationalhymne, vorgetragen in der U-Bahn von Río de Janeiro vor dem Gruppenspiel gegen Bosnien-Herzegowina.

 

Genau so halte ich mich übrigens über Wasser, wenn bei Schul- oder Kindergartenfesten mal wieder die Hymne gefordert ist. Diesen elendig langen Text kann sich ja der größte Patriot nicht merken.

Nun aber zu »Brasil, decime que se siente« – so klingt das:

 

Das Lied spielt mit der großen südamerikanischen Fußballfeindschaft zwischen Brasilien und Argentinien. Das eine Land hat fünf WM-Titel, das andere demnächst drei; dem einen verdankt die Welt Pelé, dem anderen Diego Maradona (der wiederum das Tor das Jahrhunderts geschossen hat und überhaupt viel toller war). Das vorerst letzte Duell bei einer Weltmeisterschaft gewann vor 24 Jahren übrigens Argentinien. Das Siegtor in der 82. Minute schoss Claudio Caniggia (Spitzname: Cani) nach einem wunderbaren Solo von Diego.

 

Der schlechte Verlierer klagte hernach über Betrug – und das nur, weil unser Masseur dem Brasilianer Branco eine Trinkflasche gereicht hatte, die Schlaf- oder Brechmittel (vielleicht auch beides) mit ordentlich Alkohol enthielt. Argentiniens Nationaltrainer Carlos Bilardo sagte Jahre später: »Ich sage nicht, dass dies nicht passiert ist.«

Zurück zum WM-Gasserhauer. Die Melodie von »Bad Moon Rising« der amerikanischen Rockgruppe Creedence Clearwater Revival wird in Argentinien gern für Stadiongesänge benutzt – und kommt auch hier wieder zum Einsatz.

 

Gesungen wird also:

Brasil, decime qué se siente tener en casa a tu papá.

Te juro que aunque pasen los años, nunca nos vamos a olvidar…

Que el Diego te gambeteó, que Cani te vacunó, que estás llorando desde Italia hasta hoy.

A Messi lo vas a ver, la Copa nos va a traer, Maradona es más grande que Pelé.

Ich versuche mich mal an einer Übersetzung:

Brasilien, sag mir, wie es sich anfühlt, wenn dein schlimmster Feind wild in deiner Hütte feiert.

Und auch wenn’s lange her ist, werden wir es niemals vergessen, das schwöre ich dir:

Wie du 1990 von Diego schwindelig gespielt wurdest und Caniggia dich abgeschossen hat. Seitdem heulst du nun schon.

Und jetzt wirst du erleben, wie uns Messi den Pokal bringt. Maradona ist viel größer als Pelé.

Auch den Nationalspielern scheint das Lied zu gefallen, wie man im nächsten Video sehen wird. Mal ehrlich: Ist es vorstellbar, dass irgendetwas die deutschen Kicker so ausflippen lässt? Doch nicht mal der WM-Titel, oder?

 

 

 

Funkhaus Europa hat mit unseren Freuden vom Blog Argifutbol einen Hörbeitrag über argentinische Fangesänge veröffentlicht.

 

Argentinische Ruuuuuuudiiiiiiibildung

von MARCO MICHEL (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Glückwunsch, mein Lieber,

Deine Argentinier haben es tatsächlich ins Achtelfinale geschafft. Damit war nicht unbedingt zu rechnen – bei dieser hammerstarken Gruppe, in die Euch die Fifa, nun ja, angeblich gelost hat. Eure Gegner haben es verdient, gewürdigt zu werden.

Iran: laaaaaaaaaange Fußballtradition; man kann die Bolzplätze in und um Teheran kaum noch zählen.

Bosnien: alle Ex-Jugos können bekanntlich kicken.

Nigeria: sowieso schwer im Kommen, der schwarze Kontinent.

Aber eine Frage, amigo: Was habt Ihr denn für einen Trainer? Hat der schon mal was von einem Friseur gehört? Weiß der, dass es auch kürzere Krawatten gibt? Und Kollegen, erfolgreichere als er, die gar keine tragen?

Alejandro Sabella Telam

Argentiniens Nationaltrainer Alejandro Sabella                           Foto: Télam

Ihr müsst wahrscheinlich Belgien schlagen. Die zeigen in der ersten Halbzeit oft gar nix, geraten sogar manchmal absichtlich – wie gegen Algerien – in Rückstand, um dann souverän 2:1 zu gewinnen. So spielen Spitzenteams! Vorsicht! Ihr Argentinier neigt ja angeblich mitunter zum Größenwahn.

Wieso kümmert sich nicht Diego Maradona um die Mannschaft? Von der WM 2010 in Südafrika ist ja kaum mehr übriggeblieben als Euer ewiger Held auf der Trainerbank; der hellgraue, glänzende Anzug; die farblich darauf abgestimmte Krawatte, die – wie mir erst jetzt auffällt – ebenfalls ein bisschen phallisch gebunden war; und der Vollbart, natürlich ergraut. Ton in Ton, sagt man wohl. Vor allem aber trug Diego zwei Uhren! Und da heißt es immer, Pünktlichkeit werde in Argentinien als Unhöflichkeit betrachtet.

Unvergessen auch, wie Euer Dickerchen nach einem Freundschaftsspiel unseren Thomas Müller für einen Balljungen hielt und dessen Rauswurf aus der Pressekonferenz forderte. So eine Verwechslung kann passieren. Erstens hatte Müller nur 70 Minuten gespielt, und zweitens sehen für Argentinier sowieso alle Deutschen gleich aus.

 

Übrigens habe ich mich richtig erschrocken, als Diego gegen Iran auf der Stadionleinwand eingeblendet wurde: schwarzer Kapuzenpulli, wie ihn die Autonomen bei uns in Kreuzberg beim Tanz in den Mai tragen, schwarze Sonnenbrille, abgemagert, eine junge Frau im Arm (wahrscheinlich deshalb abgemagert), griesgrämig wie unser Ruuuuuuuuuuuuudiiiiiii damals auf Island.

 

Diego hat schon mal besser ausgesehen, meine ich. (Noch häufiger sah er natürlich viel, viel, viel, viel, viel, viel, viel schlechter aus, wie erinnern uns gut.) Jedenfalls verließ er das Stadion vor dem Abpfiff, und prompt erzielte Lionel Messi mit einem Traumtor das 1:0.

In der Nachspielzeit!

Gegen Iran!

Laaaaaaaaaaaange Fußballtradition!

Irgendein unbedeutender Fußballfunktionär (82) konstruierte dann noch einen Zusammenhang und faselte etwas von: »Der Pechvogel war weg, und wir haben gewonnen, die Hure, die ihn geboren hat!« Und Diego knurrte »armer Narr« zurück, rempelte verbal ein bisschen gegen die Fifa und streckte seinen Mittelfinger aus.

 

Also, Umgangsformen habt Ihr bei Euch da unten, Mann oh Mann! Unser Jogi ist uns ja schon unheimlich, wenn er mal aufstampft.

Abrazo fuerte desde Berlin!1

PS: Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque will allen Ernstes weitermachen. Da war ja König Juan Carlos einsichtiger.

  1. Feste Umarmung aus Berlin []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

Themen

Suchen

Suchbegriff eingeben und «Enter»


Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)