Argentinien vor der Stichwahl (1): Der Zickzack-Kandidat der Allmächtigen bleibt sich treu
von CHRISTOPH WESEMANN
Wie also hält es Daniel Scioli, der Mann, der Argentinien die kommenden vier Jahre regieren will, mit der Frau, die noch bis zum 10. Dezember regieren wird? Mehr Cristina Kirchner in den letzten Wochen? Oder doch weniger? Wobei die Frage streng genommen lauten müsste: Noch mehr, echt jetzt? Die scheidende Präsidentin ist ja bereits überpräsent, sie bricht, was die Anzahl ihrer Fernsehansprachen betrifft, alle Rekorde – die eigenen, wohlgemerkt. Anlässe für Volksreden gibt es genug, manchmal steigt das Kindergeld, oft ist etwas einzuweihen, wie jüngst zwei Schwimmhallen in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz, und ab und zu muss sich Kirchner auch einfach jemanden vorknöpfen. Gestern Abend hielt sie Ansprache Nummer 45 in diesem Jahr, es war die 164. seit ihrem Amtsantritt am 10. Dezember 2007. Zum Vergleich: Amtsvorgänger Néstor Kirchner, ihr 2010 verstorbener Mann, brachte es in seinen vier Jahren auf gerade einmal zwei.
Überdies hat sie bislang auch in der Präsidentschaftskampagne des Regierungskandidaten Daniel Scioli kräftig mitgemischt – da aber eher im Verborgenen. Kirchneristen, die etwas werden wollten im argentinischen Superwahljahr, ob Abgeordneter, Bürgermeister oder Gouverneur, wurden von ganz oben auf Gesinnungshärte geprüft. Kirchner sucht verlässliche Erben, sie will die Errungenschaften der zwölfjährigen Herrschaft in guten Händen wissen. Ihre Werkzeuge bei der Nominierung der Kandidaten waren lapicera y guadaña, wie man in Argentinien sagt, Kugelschreiber und Sense.
Selbst Scioli gab die Allmächtige ja ihren Segen – und bestellte auch gleich noch den Aufpasser: ihren ewigen Vertrauten Carlos Zannini, der Vizepräsident wird, wenn es der Spitzenmann in die Casa Rosada schafft. Scioli akzeptierte diesen Vorschlag und erzählte hinterher, der Chinese (Zanninis Spitzname) sei seine Idee gewesen. Falls das stimmt, dann hatte er die Eingebung aus vorauseilendem Gehorsam. Oder wollen wir wirklich glauben, dass der politisch so erfahrene Gouverneur der Provinz Buenos Aires aus freien Stücken ausgerechnet den Mann angeworben hat, der seit fast 30 Jahren die Familie Kirchner auf Engste begleitet?
Nein, Cristina Kirchner will die Kontrolle in den Ruhestand verlängern – und den Preis dafür hat am vergangenen Sonntag der frühere Motorbootrennfahrer bezahlt. Er gewann zwar die erste Runde der Präsidentschaftswahl knapp, muss aber nun dorthin, wo er keinesfalls hinwollte: in die Stichwahl. Er hatte ja ganz darauf gesetzt, direkt gewählt zu werden, entweder mit mehr als 45 Prozent oder aber mit 40 und dann zehn Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzieren. Die beiden Ziele verfehlte er klar, obwohl die Umfragen zumindest Variante zwei für möglich bis wahrscheinlich gehalten hatten. Doch nicht nur das. Er verspielte auch den großen Vorsprung vom August: Bei den Vorwahlen hatte er noch acht Punkte vor Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri und dessen zwei Bündnispartner im internen Kandidatenrennen gelegen. Nun sind sie fast gleichauf: Scioli bei 36,86 Prozent, Macri solo bei 34,33.
Am 22. November wählen die Argentinier noch einmal, sie müssen sich dann zwischen diesen beiden, fast gleich alten Männern – Scioli ist 58 Jahre alt, Macri 56 – entscheiden. Sieben Millionen Wähler, die am Sonntag für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten gestimmt haben, suchen in den nächsten drei Wochen noch einmal neu. Wobei: Sie müssen gar nicht suchen, sie werden schon gefunden. Begehrt sind vor allem die 21 Prozent, die den antikirchneristischen Peronisten Sergio Massa in der ersten Runde unterstützt haben – umgerechnet mehr als fünf Millionen Wähler. Wer von diesem Riesenbatzen das große Stück bekommt und noch einmal seine Stimmen vom ersten Durchgang einsammelt, wird gewinnen.
Am wenigsten muss man sich um Massa sorgen; als Stimmenbeschaffer kann er im Grunde alles werden, was er will, außer natürlich Präsident und Vize. Schwer zu ködern wird er sein. Massa ist jung, gerade einmal 43 Jahre alt, und hat noch Zeit. Er muss nicht jetzt ein wichtiges Amt erobern, er könnte sich auch daran machen, den zerstrittenen Haufen zu befrieden, der sich Peronismus nennt, um dann als großer Anführer 2019 ein neuen Anlauf zu nehmen. Dafür allerdings müsste Scioli die Stichwahl verlieren – sonst ist er der starke Peronist.
Massa scheint eher geneigt, Macri zu helfen, jedenfalls lassen das seine Äußerungen in dieser Woche vermuten. »Ich will nicht, dass Scioli gewinnt«, sagte er und erklärte die Präsidentin zur ersten Verliererin der Abstimmung: »Das Volk hat am Sonntag gesagt, dass es keine Kontinuität will.« Kirchner war mal, es ist schon ein paar Jahre her, seine Vorgesetzte und Massa ihr Kabinettschef. Er ist dann weitergezogen und Bürgermeister der Stadt Tigre vor den Toren von Buenos Aires geworden, er hat sich politisch verändert und vom Kirchnerismus losgesagt – Peronist aber ist er bis heute geblieben. »Cristina muss weg, sie geht, am 11. Dezember ist sie Rentnerin«, sagte er. »Ich würde den Kirchneristen raten, dass sie sich darum kümmern, ihre Papiere zu ordnen und ihre Amtsgeschäfte abzuwickeln.«
Das alles klang wie die Bewerbung um einen Posten im Kabinett des Präsidenten Mauricio Macri. Doch wie gesagt, Massa ist Peronist – genauso wie Scioli und offiziell auch Cristina Kirchner. Schon der Heilige des Peronismus, sein Gründer Juan Domingo Perón, hat Gegner vor falschen Schlüssen gewarnt, als er das Innenleben dieser weltweit einmaligen politischen Bewegung beschrieb. »Wir Peronisten sind wie die Katzen«, lautet eines seiner unsterblichen Zitate. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Und selbstverständlich hat Massa, als er sich in dieser Woche einmauerte, nicht vergessen, eine Fluchttür einzubauen. Er sagte nämlich auch: »Wenn Scioli doch Präsident werden will, muss er aufhören, der Kandidat des Kirchnerismus und ein Angestellter von Cristina zu sein.«
Zu den Kuriositäten des Wahljahres gehört, dass die Präsidentin wieder unheimlich beliebt ist; das war nicht immer so in den vergangenen Jahren. Auf den ersten Blick erscheint deshalb die Mehr-Kirchner-Strategie durchaus naheliegend, ja vielversprechend: Scioli hängt sich an die populäre Staatschefin, die noch häufiger im Fernsehen redet als bislang, und lässt sich von ihr in die Casa Rosada schleppen. Wählen aber wird er wohl Variante zwei: weniger Kirchner, viel weniger, so wenig wie möglich. Er dürfte auf größtmöglichen Abstand zur Amtsinhaberin gehen. Prognose: Nach diesem Wochenende kennt er sie nur noch flüchtig, und spätestens zwei Tage vor der Stichwahl, also am 20. November, hat er ihren Namen noch nie gehört. Und der Chinese, der von ihr ausgesuchte Vizekandidat Carlos Zannini, wo steckt der eigentlich gerade? – Scioli: »Wer?«
»Jedes Mal, wenn Cristina eine Fernsehansprache hält, verlieren wir 700 000 Stimmen«, hat einer von Sciolis Unternehmerfreunden gerade gesagt. Das ist übertrieben, es zeigt aber das Problem: Der Kandidat wird als Marionette wahrgenommen und erscheint deshalb jenen Wählern unattraktiv, die einen Wechsel wollen. Die Kirchnerallianz Frente para la Victoria, für die Scioli antritt, wurde zwar auch bei der Wahl vom 25. Oktober die stärkste Kraft – aber schon wieder stimmten sechs von zehn Argentiniern für die Opposition.
Der Gouverneur hat bereits im Wahlkampf versucht, in diesem feindlichen Lager zu punkten, indem er von Tag zu Tag ein bisschen mehr Neuanfang versprach und ein bisschen weniger Kontinuität. Monatelang hatte er den Ultrakirchneristen gegeben und die Präsidentin gepriesen. Mitten in der Kampagne rückte er davon ab und war nun wieder, was er schon gewesen war, bevor er Ultrakirchnerist wurde: ein undogmatischer Peronist mit breitem Profil. Aber wer sollte und wollte bei all diesen Häutungen noch durchsehen? Eine Strategie war das jedenfalls nicht, dieser Zickzack, eher ein Fürblödhalten der Leute, und natürlich hat es nicht funktioniert.
Scioli wird diesen Weg trotzdem weitergehen. Er hat keine Wahl. Er braucht die Stimmen aus dem Oppositionslager, weil Kirchnerismus allein nicht reicht für einen Sieg gegen Macri. Riskant bleibt es allemal. Es ist nicht absehbar, wie die Präsidentin und ihre Freunde auf die Trennung reagieren werden. »El candidato es el proyecto«, heißt noch immer das inoffizielle Wahlkampfmotto. »Der Kandidat ist das Projekt.« Nichts ist wichtiger als das Erreichte; es zählt ausschließlich, was Néstor und Cristina Kirchner seit 2003 geschaffen haben. Nichts anderes steht zur Wahl und muss verteidigt werden – von jedem Kandidaten, und erst recht von dem, der Präsident werden will.
Was werden die kirchneristischen Stammwähler (30 Prozent) machen, wenn Scioli nun das Projekt vergessen lassen will und einen Dreiviertel-Macri gibt, also fast so viel Wechsel verspricht wie der angeblich rechte Rivale, der den Neoliberalismus der neunziger Jahre auferstehen lassen würde? Wählen sie den Überläufer mit Parteibuch dennoch? Oder wird er bestraft? Begeistert hat Scioli die standfesten Kirchneristen nie. Er gehört nicht zu ihnen, er war politisch schon überall, weil er wie jeder gute Peronist anpassungsfähig ist. »Es lo que hay«, sagten sie aber bislang. Frei übersetzt: Das ist nun mal der, der da ist, was willste machen.
Sicherheitshalber hat Cristina Kirchner ihr Erbe in den vergangenen Monaten wetterfest gemacht. Ihrem Nachfolger wird es fast unmöglich sein, die vom Kirchnerismus verstaatlichten Unternehmen wie YPF und Aerolíneas Argentinas abermals zu privatisieren; im Nationalparlament werden viele Vertraute sitzen, und eine Mehrheit hätte Macri dort ohnehin nicht. Man könnte also vielleicht auch ihn vier Jahre werkeln lassen. Kirchner darf ja 2019 wieder antreten.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass es so kommt. Ausgeschlossen aber auch nicht.
Bis zur Stichwahl am 22. November sind es noch 23 Tage. Es sieht nicht danach aus, dass die Präsidentin bis dahin zum Wohle Sciolis öfter den Mund hält und sich zurücknimmt. Sie soll ja – es ist nur ein Gerücht – bereits einen Unterhändler losgeschickt haben, der Sergio Massa eine Einladung zum Kaffeetrinken überbrachte. Der Peronist mit den fünf Millionen Wählerstimmen hat angeblich angenommen und auch gleich einen Termin vorgeschlagen: den 11. Dezember. Den ersten Tag nach Kirchners Abschied von der Macht.
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4. November 2015 @ 12:19
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