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Drei offene Rechnungen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Der gewöhnliche Argentinier weiß zwar nicht mehr, was er gestern auf der Arbeit gemacht hat – mutmaßlich: nichts (der Faule) bis nicht viel (der Fleißige), es ist ja Weltmeisterschaft, amigo. Aber an diesen Elfmeter von Rom, an den erinnert er sich. Er kann die Hanauer Schwalbe, Rückennummer 9 so detailgetreu schildern, als hätte sich Rudi Völler erst vor fünf Sekunden fallen lassen – hier, direkt vor unserem Argentinier mit dem Elefantengedächtnis. »Se tiró!« Ganz klarer Fall. »Er hat sich hingeworfen.«

 

Die Fußballfachwelt, die naturgemäß nur aus Argentiniern bestehen kann, ist sich weitgehend einig, dass der Sieg der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien glücklich bis unverdient war. Man muss nur schauen, welcher der beiden Kontrahenten die schwierigeren Aufgaben bis zum Finale zu lösen hatte. In der Vorrunde trifft Deutschland auf Jugoslawien, Kolumbien und Scheiche. Nach zwei Siegen und einem Unentschieden ist der Weg ins Endspiel schon so gut wie frei – es kommen nur noch die Niederländer (Achtelfinale), die Tschechoslowaken (Viertelfinale) und die Engländer (Halbfinale). Argentinien indes hat mit der Sowjetunion, Rumänien und Roger Milla eine sogenannte Todes- oder auch Hammergruppe erwischt, setzt sich aber durch. Um ins Finale zu kommen, muss das Team von Dr. Bilardo dann nacheinander den Rekordweltmeister Brasilien, das saustarke Jugoslawien und Gastgeber Italien ausschalten. Das gelingt, aber ganz offensichtlich soll Argentinien 1990 nicht Weltmeister werden.

Ich weiß übrigens noch, wie ich, damals zwölf Jahre alt, meine Eltern sofort und ohne Zeitlupe auf Völlers Schwalbe hingewiesen hatte: »Kein Foul von Roberto Néstor Sensini, Ball gespielt, muss er einfach sehen, der Schiri, stand doch gut.«

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Wir müssen auch über 2006 reden. Berliner Olympiastadion. Viertelfinale. Ich stehe mit meinem Schwiegervater, der mich noch nicht so gut kennt und deshalb glaubt, mich zu mögen, in der argentinischen Kurve. Wir gehen kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit in Führung, wir sind überlegen, Deutschland rennt nur hinterher, und dann wechselt Trainer José Pekerman in der 72. Minute Juan Román Riquelme aus. Unser Mittelfeldgenie ist der Mann des Spiels, es könnte Románs Turnier werden, er ist nämlich in der Form seines Lebens. Aber Pekerman nimmt ihn runter und bringt, nein, nicht den gerade 19 Jahre alt gewordenen Wunderknaben Lionel Messi. Es kommt Esteban Cambiasso, der später den letzten Elfmeter verschießen wird. Kollektives Kopfschütteln in der Kurve. Der Argentinier rechts neben mir will irgendetwas, ich spreche aber kaum Spanisch. »He Schwachkopf«, sagt er vielleicht und meint damit mich, »was macht dieser Idiot da? Die Muschel deiner Schwester, Alter! Die Hure, die mich geboren hat!«

Welche Schwester? Ich habe bloß einen Bruder! Und was heißt »concha«? Oh, ist dieser Kerl aufgebracht!

Fußball-WM 2006, 16. Juni in Gelsenkirchen Arena

In der 79. Minute wechselt der Trainer das dritte Mal, Hérnan Crespo geht raus, und jetzt kommt natürlich … nein … wieder nicht. Pekerman bringt statt Messi einen gewissen Julio Ricardo Cruz, einen Stürmer, der am Ende seiner Nationalmannschaftskarriere in 22 Länderspielen vier Tore geschossen haben wird. (Übrigens wird Cruz unmittelbar nach dem Ende der Partie vollkommen zu Recht von Torsten Frings eine gefaustet kriegen.)

 

Der Argentinier bufft mich jetzt an und wiederholt noch mal, was er gerade schon gesagt hat. Nur viel lauter.

Ich habe keine Schwester, Señor!

Eine Minute später macht Miroslav Klose den Ausgleich, und ich tausche mit meinem Schwiegervater den Platz – nur für den Fall, dass der Argentinier meine wahre Identität entdeckt. Deutschland gewinnt das Elfmeterschießen, weil das Elfmeterschießen immer Deutschland gewinnt, seit Uli Hoeneß nicht mehr spielt. Mein Schwiegervater freut sich. Pekerman tritt unmittelbar nach dem Spiel zurück und nimmt alle Schuld auf sich, was für einen Argentinier eine beachtliche Leistung ist.

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Südafrika 2010. Viertelfinale. Eine wunderbare Mannschaft ist das, auf dem Papier: Ángel Di María, Lionel Messi, Gonzalo Higuaín, Carlos Tévez und auf der Bank Kun Agüero, jeder von ihnen vier Jahre jünger und gesünder und wilder als heute. Was für eine Offensive! Was fehlt, ist ein Trainer. Argentinien hat sich das Maskottchen Diego Maradona auf die Bank gesetzt und wird von Deutschland überrollt. Es sieht mitunter aus, als wäre eine Auswahl Best of Bolzplätze von Buenos Aires angetreten. Nullvier.

Unter einer Autobahnbrücke in Bajo Flores, einem Stadtteil von Buenos Aires

Eine Schmach. Eine Schande.

»Die ganzen Träume im Mülleimer, alles schon vorbei«, schreibt das Sportblatt Olé. »Das war ein Rausschmiss mit einer Tracht Prügel, mit einer historischen Tracht Prügel bedauerlicherweise«.

Aber wozu gibt es Brasilien?

Danksagung

von CHRISTOPH WESEMANN

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Danke, Sergio Romero, für die zwei gehaltenen Elfmeter. Verzeih, Chiquito1, dass ich dich unseren Lesern als »Fliegenfänger« vorgestellt habe.

Danke, mein Rosenkranz, du mit dem Anhänger der Jungfrau von Luján und dem anderen aus Quilmes, dass du dich wieder dreißig Mal hast beten lassen. Und knutschen, reiben, anpusten. Obwohl ich nicht einmal getauft bin.

Danke, mein Sohn, dass du beim Elfmeterschießen die Hände zum Gebet gefaltet hast und dich nach jedem Treffer von uns und jedem Fehlschuss von denen hast küssen lassen. Im Finale wirst du für Deutschland sein. Aber erwartest du ernsthaft, dass wir das letzte Spiel verlieren?

Danke, du Mann im Bus auf dem Heimweg, für das, was du sehr laut in dein Telefon gebrüllt hast: »Ich bin total verrückt geworden. Ich kann mich einfach nicht beruhigen. Du müsstest mich sehen, ich flenne wie ich Mädchen.«

Danke, du anderer Mann im Bus, dafür, dass du dich von hinten eingemischt hast: »Genau wie ich!«

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Fußballgucken auf der Plaza General San Martín im Zentrum von Buenos Aires

Anti-Brasilien-Plakat, frei übersetzt: Papa bleibt noch zu Besuch. (Der Papa ist Argentinien.)

Halbfinale 3

Halbfinale 4

halbfinale 5

Halbfinale 6

Gäste und Kellner eines Cafés in Buenos Aires bejubeln das gewonnene Elfmeterschießen.

Vorbeimarsch mit der Fahne am Bahnhof Retiro

Halbfinale 9

  1. Spitzname []

Warum Argentinien Weltmeister werden soll, werden muss und werden wird (wenn nichts dazwischenkommt)

von CHRISTOPH WESEMANN

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  • Argentinien ist die einzige Mannschaft des Turniers, die bisher alle Spiele gewonnen hat.
  • Die WM 2014 ist argentinisch: Die Trainer von Kolumbien, Chile und Costa Rica kommen aus Argentinien. Das Freistoßspray, das die Welt verblüfft, weil die Mauer schnell steht, hat natürlich auch ein Argentinier erfunden. Es wird bei uns schon seit 2008 benutzt.
  • Argentinien ist sowieso eine große Entdeckernation. Der Kugelschreiber! László József Bíró war zwar Ungar und hat den Stift in Budapest entwickelt, ist aber später vor den Nazis in seiner Heimat nach Argentinien geflohen. Ihm zu Ehren nennen wir den Kugelschreiber nicht »bolígrafo«, wie die Spanier, sondern »birome«. Bírós Geburtstag, der 29. April, ist der »Tag der Erfinder«. Aber bei uns hat jeder Depp und jeder Narrenverein, ja sogar der Hund, einen Ehrentag. Außerdem haben Argentinier der Menschheit ganz viele andere Sachen geschenkt, zum Beispiel Dulce de leche (das außer uns keiner mag), Alfajores (die ein Nicht-Argentinier nach zwei Wochen nicht mehr sehen kann) und … ähm … ganz viele andere Sachen. Meistens entdecken wir Dinosaurier. Aber die waren dann auch die größten der Welt.
  • Ich höre gerade über meine Kopfhörer, dass Costa Ricas Trainer Kolumbianer ist. Das erklärt die Niederlage im Viertelfinale gegen Holland.
  • Argentinien hat den besten zwölften Mann der Welt: Papst Franziskus.
  • Ezequiel Lavezzi, genannt El Pocho, ist der heißeste Spieler des Turniers. Sagen unsere Frauen. Die Facebookseite der sogenannten »Bewegung, damit El Pocho Lavezzi ohne Trikot spielt« hat mehr als 384 000 Fans. Ein Hashtag auf Twitter heißt #quehariasconlavezzi – was würdest du mit Lavezzi anstellen.
  • Noch mal El Pocho: Lavezzi ist auch der frechste Spieler. Er hat beim Spiel gegen Nigeria seinen Trainer Alejando Sabella mit einer Trinkflasche angespritzt. Chuck Norris soll vor dem Fernseher gezittert haben.

 

  • Pelé, die lebende Marionette der Reichen, Schönen und Mächtigen, ärgert sich am meisten über einen argentinischen Weltmeister.
  • Das Halbfinale wird am Nationalfeiertag gespielt, dem Día de la Independencia, Tag der Unabhängigkeit von Spanien (9. Juli 1816).
  • Unser Trainer ist kein Umfaller.

 

 

  • Argentiniens Fans singen die witzigste WM-Hymne. Auf Deutsch, frei übersetzt, heißt der Text: »Brasilien, sag mir, wie’s sich anfühlt, wenn dein schlimmster Feind in deiner Hütte feiert./Und auch wenn’s lange her ist, werden wir’s niemals vergessen, das schwöre ich dir:/Wie du 1990 von Diego schwindelig gespielt wurdest und Caniggia dich abgeschossen hat. Seitdem heulst du nun schon./Und jetzt wirst du erleben, wie uns Messi den Pokal bringt. Maradona ist viel größer als Pelé.«
  • Unser Supertrainer wird  Fifa-Boss Sepp Blatter bei der Siegerehrung demonstrativ den Handschlag verweigern, so wie der legendäre César Luis Menotti 1978 bei der Heim-WM dem Militärdiktator Jorge Rafael Videla. Vielleicht.
  • Wir sind das bescheidenste Volk auf Erden. Keiner ist bescheidener als ein Argentinier. Wir hätten gern unseren Rivalen Brasilien im Endspiel 14:3 zerlegt, begnügen uns nun aber mit einem Triumph über Deutschland.
Public Viewing

Public Viewing am Congreso, dem argentinischen Parlament

Weltpokal im Foyer des Parlaments

 

Der unvollendete Nachruf

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

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Buenos Aires, Freitag, 4. Juli 2014

11.45 Uhr. Deutschland könnte heute gegen Frankreich ausscheiden. Ich brauche einen Text. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass Deutschland ausscheidet. Ich kann nur nicht auf das Ende warten. Aber auch seriöse Zeitungen haben ja für jede halbwegs bedeutende Persönlichkeit einen vorbereiteten Nachruf im Stehsatz – damit sie vom Tod niemals überrascht werden. Und wie sollte das kein Tod sein: ein Ausscheiden dieser hochbegabten Truppe im Viertelfinale, nach diesen schwachen Partien gegen Ghana, die USA und Algerien?

Nach dem Abpfiff muss ich meine drei Kinder bewachen und die zwei argentinischen Schulfreunde des Sohnes, die sich zum Spielen angemeldet haben. Fünf Kinder zwischen zweieinhalb und neun Jahren, ganz oder weitgehend sozialisiert in Argentinien: Da werde ich nicht an Deutschlands Nachruf denken, höchstens an meinen eigenen. Also schreibe ich jetzt vor und veröffentliche mit dem Abpfiff. Erster! Wenn das Ergebnis stimmt.

Ein paar hübsche Ideen, ringsum Wörter und Wortspiele, und dann ruht hier gleich der deutsche Männerfußball.

12.05 Uhr. Mir geht diese Weltmeisterschaft ja mitunter sehr auf die Nerven. Mich nervt das demonstrative Gottangebete der brasilianischen Spieler. Mich nervt, dass man im Fernsehen wenig vom Spiel sieht, weil schon wieder eine Superzeitlupe von Neymars verzerrtem Gesicht eingespielt wird. (Und Neymar, darum natürlich wissend, verzerrt das Gesicht.) Viele Spieler scheinen sehr auf das Bild bedacht zu sein, das die Kameras von ihnen einfangen. Wenn Mario Götze eingewechselt wird, sieht er aus, als käme er nicht vom Aufwärmen, sondern geradewegs aus der Maske, und wolle weiter zum Fotoshooting. Frisuren sind auch wichtig geworden. Es wird getönt, gescheitelt und haargesprayt wie nie. Jeder hat seine Rolle. Selbst Thomas Müllers Empörung über einen nicht gegebenen Einwurf wirkt immer ein bisschen zu empört. Er ist der letzte deutsche Volkfußballspieler.

12.15 Uhr. Eine Idee reicht auch.

12.22 Uhr Die verkleideten und geschminkten Zuschauer nerven mich übrigens noch mehr als die winkenden. Sind die nächsten zwei Weltmeisterschaften – Russland 2018 und Katar 2022 – vielleicht auch eine Chance für den Fußball? Weil alle Tribünenspaßvögel – der Goudaaufdemkopfbalancierer, der Perückte, der Federschmuckträger – wegbleiben. Scheichs verkleiden sich ja wohl eher nicht noch mal.

12.29 Uhr. Ich könnte kritisieren, dass Joachim Löw bei diesem Turnier mit vier Innenverteidigern auf 1986 gemacht hat, weil er unbedingt und egal wie Weltmeischter werden wollte. Jedes Mittel war ihm recht, um nicht für alle Zeiten der Bundestrainer zu sein, der mit der goldensten Generation, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat, ohne Titel bleibt.

Übrigens, eine üble WM muss das gewesen sein, für Fußballästheten, damals vor 28 Jahren in Mexiko, aus deutscher Sicht, meine ich. Die Deutschen rumpelten, grätschten und mauerten sich durchs ganze Turnier. Teamchef Franz Beckenbauer sagte am Abend vor dem Endspiel gegen Argentinien zu seinem Assistenten Vogts: »Stell dir das mal vor, Berti. Mit dieser Trümmertruppe stehen wir im Finale. So schlecht ist der Fußball geworden.« Solche Sätze konnte der Franz also schon damals sagen. Ich dachte viele Jahre, Beckenbauer wäre erst 1990 – mit dem WM-Triumph in Italien – cool geworden.

12.36 Uhr. Ich könnte auch über Höwedes schreiben, der, sobald er schwitzt, aussieht wie Al Bundy. Höwedes schwitzt immer, schon in den ersten Minuten, er arbeitet ja Fußball nicht nur, er sieht dabei auch noch aus, als schöbe er schon die dritte unbezahlte Überstunde an diesem Tag.

Mir fällt gerade auf, dass mir nicht einfällt, wie Höwedes mit Vornamen heißt. Google sagt: Benedikt. Sieht der schwitzende Benedikt Höwedes wirklich aus wie Al Bundy? Vielleicht bilde ich mir das auch ein, weil ich in meinem Leben ein bisschen zu oft Al Bundy und viel zu oft Benedikt Höwedes gesehen habe. Außerdem: Wenn ich bei Höwedes bin, bin ich wieder bei Löw. Ohne Löw kein Manndecker als linker Verteidiger.

Der neue deutsche Fußball wurde in Argentinien in jüngster Zeit sehr bewundert. Für das Stürmische, Wilde, Leidenschaftliche und zugleich Leichte der Jahre 2006ff.; für die kurzen und schnellen Pässe, die in den besten Augenblicken eine Präzisionsarbeit waren, ohne je nach Herstellung am Fließband auszusehen. Es waren Künstler am Werk, keine Schrauber und Schweißer. Das passte überhaupt nichts ins Bild, das der Argentinier vom fútbol alemán hatte. Jahrzehntelang hatte man am Río de la Plata von »El Panzer«gesprochen. Die Deutschen zerstörten den schönen Fußball der anderen; und sie taten es mit deutscher Gründlichkeit.

12.56 Uhr. Argentinische Männer haben mir, dem Deutschen in Buenos Aires, oft Fußballkomplimente gemacht. Das war mir unangenehm. Argentinierinnen haben mir schöne Augen gemacht. Dagegen habe ich mich nicht gewehrt, obwohl ich ja schon ewig verheiratet bin. Und: weil. Natürlich dachten die Frauen an Jogi Löw und Oliver Bierhoff, aber man darf nicht alles im Leben hinterfragen. Verdammt schöne Augen!

Hätte Deutschland den Titel geholt, hätte ich in Buenos Aires eine Weile mit dem Weltmeischtertrainerdialekt gesprochen. Español badense. Hola, cómo eschtás? Haschta luego!

13.12 Uhr. Haha, das ist gut. Eine Idee! Me guschta mucho. Weiter! Weiter! Weiter! Jetzt habe ich einen Lauf und …

Fernseher: »Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooool! Gooooooooooooooooooool para Alemania! Gooool de Mats Uuuuuummmmmmmmmeeeeeelts!«

Hmmmh.

14.45 Uhr. Nach 95 Minuten ist Schluss. 1:0 für D.

14.46:30 Uhr. Der Text liegt jetzt in der Schublade »Nachrufe, noch zu überarbeiten«.

Der argentinische WM-Hit: Warum Brasilianer seit 24 Jahren heulen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wir sind alle noch ein bisschen erschöpft von unserem epischen 1:0 im Achtelfinale gegen die Schweiz gestern. Deshalb lassen wir heute die Seele baumeln und hören ein paar Versionen des argentinischen WM-Hits »Brasil, decime que se siente«. Fußball und Musik gehören in Argentinien naturgmäß zusammen, und die Musik wiederum soll bitteschön tanzbar sein. Argentinier tanzen wirklich gern, und nicht nur, wenn sie betrunken sind. (Dann natürlich auch.) Irgendeine Feier beginnt, die Musik wird aufgedreht – und die Tanzfläche ist sofort voll. Die ganz Jungen tanzen, die ganz Alten tanzen und die ganz Dazwischenen auch. So bleibt es, bis die Musik abgedreht wird. Kein Stimmungsmacher muss bitten und betteln, dass ein paar Leute aufstehen und mitmachen.

Beim Fußball wird leidenschaftlich gesungen, und mitunter kommt Großes dabei heraus: etwa die Nationalhymne, vorgetragen in der U-Bahn von Río de Janeiro vor dem Gruppenspiel gegen Bosnien-Herzegowina.

 

Genau so halte ich mich übrigens über Wasser, wenn bei Schul- oder Kindergartenfesten mal wieder die Hymne gefordert ist. Diesen elendig langen Text kann sich ja der größte Patriot nicht merken.

Nun aber zu »Brasil, decime que se siente« – so klingt das:

 

Das Lied spielt mit der großen südamerikanischen Fußballfeindschaft zwischen Brasilien und Argentinien. Das eine Land hat fünf WM-Titel, das andere demnächst drei; dem einen verdankt die Welt Pelé, dem anderen Diego Maradona (der wiederum das Tor das Jahrhunderts geschossen hat und überhaupt viel toller war). Das vorerst letzte Duell bei einer Weltmeisterschaft gewann vor 24 Jahren übrigens Argentinien. Das Siegtor in der 82. Minute schoss Claudio Caniggia (Spitzname: Cani) nach einem wunderbaren Solo von Diego.

 

Der schlechte Verlierer klagte hernach über Betrug – und das nur, weil unser Masseur dem Brasilianer Branco eine Trinkflasche gereicht hatte, die Schlaf- oder Brechmittel (vielleicht auch beides) mit ordentlich Alkohol enthielt. Argentiniens Nationaltrainer Carlos Bilardo sagte Jahre später: »Ich sage nicht, dass dies nicht passiert ist.«

Zurück zum WM-Gasserhauer. Die Melodie von »Bad Moon Rising« der amerikanischen Rockgruppe Creedence Clearwater Revival wird in Argentinien gern für Stadiongesänge benutzt – und kommt auch hier wieder zum Einsatz.

 

Gesungen wird also:

Brasil, decime qué se siente tener en casa a tu papá.

Te juro que aunque pasen los años, nunca nos vamos a olvidar…

Que el Diego te gambeteó, que Cani te vacunó, que estás llorando desde Italia hasta hoy.

A Messi lo vas a ver, la Copa nos va a traer, Maradona es más grande que Pelé.

Ich versuche mich mal an einer Übersetzung:

Brasilien, sag mir, wie es sich anfühlt, wenn dein schlimmster Feind wild in deiner Hütte feiert.

Und auch wenn’s lange her ist, werden wir es niemals vergessen, das schwöre ich dir:

Wie du 1990 von Diego schwindelig gespielt wurdest und Caniggia dich abgeschossen hat. Seitdem heulst du nun schon.

Und jetzt wirst du erleben, wie uns Messi den Pokal bringt. Maradona ist viel größer als Pelé.

Auch den Nationalspielern scheint das Lied zu gefallen, wie man im nächsten Video sehen wird. Mal ehrlich: Ist es vorstellbar, dass irgendetwas die deutschen Kicker so ausflippen lässt? Doch nicht mal der WM-Titel, oder?

 

 

 

Funkhaus Europa hat mit unseren Freuden vom Blog Argifutbol einen Hörbeitrag über argentinische Fangesänge veröffentlicht.

 

WM-Gezwitscher (5)

von CHRISTOPH WESEMANN

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(Wenn Argentinien heute nicht brillant spielt, ist das meine Schuld. Ich muss den Ort wechseln, an dem ich die Partie gucke. #Aberglaube)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Flohristen: Wie César Luis Menotti, der verrückte Bielsa, Tata Martino und der Papst Argentinien zum Weltmeister machen

von CHRISTOPH WESEMANN

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Mit dem FC Barcelona hat Leo Messi in dieser Saison nichts gewonnen, nicht die Champions League, nicht die Meisterschaft, nicht einmal den Königspokal. Selbst Weltfußballer ist ein anderer Spieler geworden. Bislang hatten so genannte Experten die Schwächephase des Argentiniers mit anhaltendem Verletzungspech, gesundheitlichen Problemen oder schlaflosen Nächten nach der Geburt seines erstes Sohnes Thiago erklärt. Nun aber sind dem Argentinischen Tagebuch über verschiedene Kanäle Dokumente zugespielt worden, die eine andere Deutung nahelegen.

Alles war offenbar nur ein großer Bluff.

Vieles spricht dafür, dass es einen argentinischen Geheimplan gegeben hat, um Messi vor der Weltmeisterschaft in Brasilien eine Krise anzudichten und auf diese Weise die Konkurrenz zu täuschen. Das ganze Ausmaß des Betrugs ist bislang nur zu erahnen. Fest steht aber: Drei bekannte argentinische Fußballtrainer sind darin verstrickt. Und Spuren führen auch in den Vatikan.

Ein Heer von Investigativjournalisten hat die Dokumente über Wochen ausgewertet. Dem Argentinischen Tagebuch ist es nun möglich, die Geschehnisse der vergangenen eineinhalb Jahre zu rekonstruieren.

Bar von Messis Eltern in Rosario

Die Bar von Messis Eltern in Rosario (mit dem Schatten des Flohs)

Die Beteiligten

Trainer

  • Marcelo Bielsa, geboren 1955 in Rosario (Argentinien), argentinischer Nationaltrainer von 1998 bis 2004, Spitzname: El Loco Bielsa, Der verrückte Bielsa
  • Gerardo Martino, geboren 1962 in Rosario (Argentinien), zuletzt beim FC Barcelona, Spitzname: Tata, Väterchen
  • César Luis Menotti, geboren 1938 in Rosario (Argentinien), argentinischer Nationaltrainer von 1974 bis 1982, Weltmeister 1978, Ex-Kettenraucher, Spitzname: El Flaco, Der Dünne
  • Diego Simeone, geboren 1970 in Buenos Aires (Argentinien), Ex-Nationalspieler, Trainer von Atlético Madrid, Spitzname: Cholo, Mestize
  • Carlo Ancelotti, geboren 1959 in Reggiolo (Italien), seit 1976 Trainer, aktuell bei Real Madrid, Spitzname: Carletto
  • Carlos Bilardo, geboren 1939 in La Paternal (Argentinien), Studium der Gynäkologie, argentinischer Nationaltrainer von 1983 bis 1990, Weltmeister 1986, Spitzname: Doctor

Spieler

  • Lionel Messi, geboren 1987 in Rosario (Argentinien), Star des FC Barcelona und Kapitän der argentinischen Nationalmannschaft, viermaliger Weltfußballer, Spitzname: La Pulga, Der Floh
  • Cristiano Ronaldo, geboren 1985 in Funchal, Madeira (Portugal), zweimaliger Weltfußballer, Spitzname: CR7

Sonstige Beteiligte

  • Jorge Mario Bergoglio, geboren 1936 in Buenos Aires, Papst seit 2013, Spitzname: Franziskus
  • Stallbursche Pepe, keine weitere Informationen vorhanden
  • Taschendiebe von der Plaça Catalunya, keine weiteren Informationen vorhanden

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26. Februar 2013

Mexikanische Zigaretten und die große Grillplatte

Buenos Aires • César Luis Menotti, genannt El Flaco (Der Dünne), Gerardo Tata (Väterchen) Martino und Marcelo Bielsa, bekannt als El Loco (Der Verrückte), treffen sich zufällig bei einem Pferderennen in der argentinischen Hauptstadt. Sie haben sich lange nicht gesehen, umarmen einander wie Freistilringer und küssen sich auf die Wange. Es wird das letzte Treffen ohne angeklebte Bärte, verspiegelte Sonnenbrillen und alberne Hüte sein. Die drei berühmten Trainer, die wie Leo Messi aus der Hafenstadt Rosario stammen, vertiefen sich in ihre Wetthefte und tauschen sich kurz über das 14. Rennen aus. Oder tun sie bloß so? Ist das alles schon Täuschung?

Die Galopprennbahn in Buenos Aires

Keine halbe Stunde später hocken sie im Heu eines Pferdestalls neben der Rennbahn. Den Stallburschen Pepe hat Menotti zum Zigarettenholen ans andere Ende der Stadt geschickt. Nur dort gibt es diese seltene mexikanische Marke, die er früher so gern geraucht hat.

»Also, ich habe überhaupt keine Lust auf die WM in Brasilien«, sagt Martino.

»Spätestens im Viertelfinale ist sowieso wieder Schluss, Messi hin oder her«, sagt Bielsa.

»Oder wie 2002 in der Vorrunde, mein lieber Marcelo«, sagt Menotti und kneift die Augen zusammen. »Aber falls einer von euch glaubt, dass Argentinien diesmal den richtigen Trainer hat, würde ich mich an dieser Stelle verabschieden.«

Stille. Schweigen. Minutenlang.

»Sabella?«, fragt Martino plötzlich.

»So heißt der, glaube ich«, sagt Menotti. »Ich schlage also vor, dass wir einen Plan machen. Von unserer Elf wird immer viel zu viel erwartet. Ich sage immer: Das Geheimnis des Fußballs ist Zeit, Raum und Täuschung.«

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Zwei Tage später sitzen die Drei in Menottis Lieblingssteakrestaurant. Die große Grillplatte wird bestellt: zwei Hände voll Innereien, sechs Blutwürste, drei Choris, ein Kilogramm Vacío, ein Riesenklumpen Rinderfilet, ein halber Meter Matambre und 500 Gramm Rumpsteak für jeden.

»Ich habe nachgedacht«, sagt Menotti. »Jemand muss bis zur WM dicht an Leo dran sein. Quasi rund um die Uhr. Aber ich war ja schon Trainer von Barça.«

»Und mich wollen sie vielleicht nicht«, sagt Bielsa.

»Nein, ganz sicher.«

Die beiden schauen zu Martino, der gerade seine zweite Blutwurst aufschneidet.

»Ich … tja … warum eigentlich nicht?«

»Gut, Tata, dann lege ich ein gutes Wort für dich ein; bereite schon mal deine Familie auf den Umzug vor. Ist ja nur für ein Jahr«, sagt Menotti und greift nach seinem Feuerzeug mit dem Konterfei von Che Guevara.

»Flaco, Rauchverbot!«

»Ein Menotti geht nicht nach draußen, Loco.«

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23. April 2013

Der Heilige Vater ist dabei

Rom • Der Papst erwartet Menotti, Bielsa und Martino − oder um genau zu sein: Er erwartet drei Spieler seines Lieblingsklubs San Lorenzo, die vor ein paar Tagen angeblich um eine Audienz gebeten haben. Leandro Romagnoli raucht noch hektisch eine Zigarette, Germán Voboril und Mauro Cetto schütteln die Köpfe. Zwei Jahre hatte er durchgehalten, hin und wieder eine Zigarre, das ja, aber keine Zigaretten mehr. Und nun: wieder Kette.

»Wollen wir?«

»Cheee, hübsche Hüte! Ich hätte euch fast nicht erkannt«, sagt Franziskus zur Begrüßung und bereitet sogleich einen Mate zu. »Auf jeden Fall eine gute Entscheidung. Bei uns hier bleibt ja auch nicht mehr viel geheim.«

Nachdem Menotti, Bielsa und Martino eine halbe Stunde lang in allen Einzelheiten über die argentinische Liga und weitere 15 Minuten über die zweite und dritte Liga referiert haben, lehnt sich Franziskus zurück und fragt: »Che, warum seid ihr eigentlich hier? Ist was mit Diego? Hat er wieder dummes Zeug angestellt oder genommen? Che, ihr wisst, ich kann dem Kerl einfach nicht böse sein. Ich meine, Mexiko 1986, wisst ihr noch? Ja, Flaco, mein Sohn, schon gut, der Bilardo saß damals auf der Trainerbank, wir hätten natürlich auch ohne ihn gewonnen. Was macht eigentlich el Doctor heute, weiß das jemand? Aber hört mal: Diegos zwei Tore gegen die verdammten Malwinendiebe … Verzeihung. Also, ich gucke mir die ja öfter auf Youtube … worüber wolltet ihr mit mir sprechen?«

 

Menotti redet. Und redet. Und redet. Er analysiert Weltmeisterschaft um Weltmeisterschaft; die Neunziger: Andi Brehmes Elfmeter − RumänienBergkamp, dieser Sohn einer Hure; die nuller Jahre: 0:1 gegen England (strenger Blick zu Bielsa) und Lehmanns Zettel im Strumpf. Kurzes Abhusten. Südafrika 2010: schon wieder Deutschland. Nullvier. Als Menotti ganz am Ende seines Vortrags auf Sabella zu sprechen kommt, winkt selbst der Papst ab.

Seine Heiligkeit erteilt dem Geheimplan umgehend seinen Segen und schlägt außerdem vor, gemeinsam zu beten. Den Dokumenten zufolge warnt er aber auch: »Che, verratet bloß nichts Cristina. Ihr wisst ja, unsere Präsidentin quatscht viel. Vor allem im Fernsehen.« Dann begleitet Franziskus Menotti, Bielsa und Martino hinaus und sagt zum Abschied: »Wenn alles geklappt hat, kommt ihr aber mit der ganzen Truppe und dem hübschen Pokal bei mir vorbei, oder?« Als die Tür geschlossen ist, hören die Trainer, wie der Papst mit fester Stimme singt:

Olé, olé, olé, olé, olé, olé, olá / Olé, olé, olé, cada día te quiero más. / Soy argentinooooo, es un sentimientoooo, no puedo paraaaaaaaar. ¡Vamos Argentina, carajo!

(Olé, olé, olé, olé, olé, olé, olá / Olé, olé, olé, jeden Tag liebe ich dich mehr. Ich bin Argentinier, das ist ein Gefühl, ich kann nichts dagegen tun. Vorwärts, Argentinien, verdammt noch mal!)

 

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Sommer 2013

Messi trainiert zu viel

Barcelona • Leo Messi freut sich, dass Gerardo Martino sein neuer Trainer in Barcelona werden wird. Guter Mann! Hat Newell’s Old Boys aus Rosario, seinen Heimatklub, mit schönem Fußball zur argentinischen Meisterschaft geführt. Der beste Fußballer der Welt ahnt nichts. Er wundert sich allerdings, dass plötzlich spanische Steuerfahnder hinter ihm her sind. Angeblich soll er Millionen am Finanzamt vorbeigeschleust haben. Es ist die erste große Finte, und sie entstammt dem Hirn des Verrückten. Ein Freund des Bruders, dessen Neffe eine Tankstelle in Rosario besitzt, bei der Bielsas Tochter Inés regelmäßig den Reifendruck ihres Golf (Baujahr 2005) prüfen lässt, ist vor Jahren nach Spanien ausgewandert und kennt jemanden im Finanzministerium. Der Rest: ein Anruf und eine halbe Minute lang das Klacken der Computertastatur in irgendeiner Behörde.

Menotti und Martino sind beeindruckt. In Argentinien hätten sie so etwas auch hinbekommen. Aber das hier ist Europa.

»Ich habe kürzlich schon mal geübt«, sagt Bielsa. »Steuerhinterziehung ist übrigens kein Kavaliersdelikt, Freunde. Aber jetzt sollten wir endlich mit Leo reden.«

»Unbedingt«, sagt Martino, der neue Trainer des FC Barcelona. »Der trainiert viel zu gut.«

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Menotti soll das Gespräch führen. Das Ding mit den Zigaretten − seltene mexikanische Marke, hahahaha − war echt gut. Der Stallbursche Pepe sucht wahrscheinlich immer noch, wurde jedenfalls nie wieder gesehen. Aber dieser Geniestreich ist auch schon wieder Monate her. Und reden kann El Flaco nun mal wie kein anderer. Selbst Franziskus hat er rumgekriegt.

Er wird reden, wie er immer spielen lassen hat: offensiv. Er ist doch nicht Bilardo!

»Leo, du hast nun schon zweimal die Champions League gewonnen.«

»Dreimal.«

»Das reicht ja erst mal, ne?«

»Nein.«

»Und Weltfußballer warst du auch schon viermal. Musst du es unbedingt ein fünftes Mal werden?«

»Ja.«

»Ich meine: in dieser Saison?«

»Ja.«

Menotti zündet sich eine Zigarette an und richtet sein Haar mit der Hand.

»Aber das wäre doch langweilig, Leo.«

»Für mich nicht.«

»Aber weißt du, dann musst du wieder den Schlafanzug anziehen, und darin siehst du doch immer blöd aus.«

»Finde ich nicht.«

Menotti denkt: Menotti, du Sohn einer Hure, du hast auch schon mal stärker argumentiert.

»Ach Leo, jetzt hör mal zu: Weltmeister, darauf kommt es an. Das zählt. Ohne WM-Titel wirst du nie so groß wie Diego. Und ich.«

»Meinen Sie?«

»Sicher.«

Menotti verspricht, sich persönlich um das Problem mit den hinterzogenen Steuern zu kümmern. Im Gegenzug versichert ihm Messi, in dieser Saison nicht auf Titeljagd zu gehen. Handschlag. Umarmung. Kein Vertrag.

»Du wirst es nicht bereuen, glaub mir. Alle werden dich für einen Waschlappen halten. Und alle werden in Brasilien dafür bezahlen.«

»War das mit Señor Uli eigentlich auch euer Werk?«

»Du stellst zu viele Fragen, Floh.«

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4. August 2013

Spielt CR7 mit?

Madrid/Buenos Aires • Und wer redet jetzt mit Cristiano Ronaldo? Keiner will. Aber jemand muss. Denn alle haben Angst, dass einer der 25 Imageberater des Portugiesen Verdacht schöpft angesichts der plötzlichen Überlegenheit ihres Klienten.

»Das fällt doch auf. Cristiano ist ja bloß der Zweitbeste. Er selbst weiß es nicht, aber die ganze Welt, die schon. Es wäre viel zu riskant, ihn nicht einzuweihen«, sagt Menotti laut Gesprächsprotokoll am 23. August bei einem Treffen in einem Parkhaus in Barcelona. Seine Kollegen nicken. »Also, ich war ja schon bei Leo und beim Papst dran.«

Martino und Bielsa spielen Schnick, Schnack, Schnuck. Martino verliert mit Papier, weil Bielsa im letzten Augenblick die Faust öffnet und eine Schere macht. »Ich weiß gar nicht, wo ich den Kerl finde«, sagt der neue Barça-Trainer. »Ich kann doch nicht einfach in die Umkleide von Real Madrid spazieren.«

Drei Tage später setzt ein Taxifahrer den verkleideten Tata − weißes Trikot mit der Rückennummer 7, falscher Vollbart, Riesenschinken im Arm − vor dem berühmtesten Schönheitssalon Madrids ab. Ronaldo sitzt bei der Pediküre und trägt das gleiche Trikot wie der Mann, der sich ihm auf Zehenspitzen nähert.

»Darf ich stören?«

»Ich wechsele nur zu euch, wenn ich mehr verdiene als der Argentinier.«

»Aber du passt doch gar nicht in unser System.«

»Ohne den Argentinier wäre es ein ganz anderes System.«

»Señorita, würden Sie uns bitte kurz allein lassen?«

Ronaldo, das zeigt die Gesprächsnotiz, die Martino im Nachhinein angefertigt hat, hört sich den Geheimplan an, erbittet Bedenkzeit und willigt nach eineinhalb Minuten ein. Er lächelt, steigt aus der Schüssel mit dem lauwarmen Wasser und macht etwas mit den Armen. Er scheint das Hochheben von Pokalen verschiedener Größe zu üben, so kommt es Martino jedenfalls vor. Dabei murmelt er vor sich hin: »La Décima, Mama, La Décima … größer als Di Stéfano … als Raúl sowieso … blöder Blatter … Ronaldo Madrid Club de Fútbol.«

Dass Ronaldo am Ende der Saison nach einem bedeutungslosen Tor im schon gewonnenen Finale der Champions League sein Trikot auszieht, hat sich Martino spontan schriftlich zusichern lassen. Es wird sein größter Coup werden. Eine Jahrhundertszene. Eine Botschaft für Eingeweihte. Guckt hin: unser Hampelmann! Der Vertrag, geschrieben auf dem Briefpapier des »Salón de Los Hombres Más Bonitos del Mundo«, liegt dem Argentinischen Tagebuch ebenfalls in Kopie vor.

 

Martino ist euphorisiert, als er wieder im Taxi sitzt. Er befühlt das Schriftstück im Brustbeutel unterm Trikot, ruft Menotti in Buenos Aires an und schreit: »Ich fliege gleich weiter nach München und rede mit Franck!«

»Nein, nicht nötig. Mach dir um den keine Sorgen, und um die Bayern erst recht nicht. Tiki-Taki ist vorläufig am Ende. Pep weiß es nur noch nicht.«

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September 2013

Der Dünne dreht durch

Barcelona/Buenos Aires • Messi spielt mit jeder Partie schlechter, also besser. Natürlich: 99 Prozent aller Fußballspieler wären noch immer froh, nur ein paar Minuten im Leben so gut zu sein wie Messi, wenn er furchtbar schlecht ist. Aber manchmal steht er jetzt im Mittelkreis herum, dieser freche Kerl. Er läuft wenig. Er lässt die Schultern hängen. Er lässt sich beim Dribbeln den Ball klauen. Er lässt Pässe nicht ankommen. Er lässt sich sogar auspfeifen.

Nur ab und zu, wenn er’s offenbar nicht verhindern kann, schießt er Tore. Als ihm am 18. September 2013 als erster Spieler zum vierten Mal ein Dreierpack in der Champions League gelingt, hat er in der Kabine eine SMS von Menotti auf dem Handy: »Spinnst du? Reiß dich zusammen, Mädchen aus Rosario!« Menotti ist bereit, alles auffliegen zu lassen. Er müsste ja nur mit dem Finger schnippen. Die Journalisten stehen doch Schlange. Die ganze Welt will ihn befragen. Dauernd soll er sagen, wer nun der größte Spieler aller Zeiten sei, was er über Pep Guardiola denke, wie linker Fußball aussehe.

»Sind mir abgerutscht, die Bälle, Señor. Ich mach’s wieder gut. Abrazo grande.«

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Januar 2014

Gimme All Your Lovin’

Lausanne • Bei der Wahl zum Weltfußballer am 13. Januar wird Messi, der übrigens wieder einen scheußlichen Anzug trägt, Zweiter hinter Ronaldo. Zur Sicherheit ist am Vorabend der Verkündung in der Fifa-Zentrale ein schwarzer Koffer aus Buenos Aires eingetroffen − a manos del Presidente Joseph S. Blatter.

Barcelona • Martino ordnet auf Barças äußerstem Nebenplatz ein Straftraining an und lässt Messi zwei Stunden lang das Freistößeverschießen üben. Mit Medizinbällen. Im Tor stehen zwei Männer mit ZZ Top-Gedächtnisbärten und spielen Luftgitarre. Messis Quote ist trotzdem unterirdisch.

»Das wird nie was«, sagt der eine Luftgitarrist zum anderen, faustet einen Medizinball zur Seite und verliert dabei seine Kippe. »Übermorgen ist schon Dribbeln dran.«

In den großen Zeitungen erscheinen die ersten Nachrufe. Die Fachwelt rätselt über Messis Schwäche. Vielleicht ist im Augenblick alles zu viel für das argentinische Genie: die Sache mit den Steuern, der schreiende Sohn nachts, die Verletzungen, das rätselhafte, wahrscheinlich psychosomatische Erbrechen. Dass sich Messi neuerdings auf dem Platz übergibt, hatte sich natürlich der verrückte Bielsa überlegt. Dr. Bilardo hatte sehr unangenehme Frage gestellt (»Warum für Übelkeit?«, »Was ist mit dem Wada-Code?«), aber schließlich doch von einem seiner früheren Masseure eine Trinkflasche vorbeibringen lassen.

Martino ist wegen des Platzwarts vom Camp Nou allerdings immer noch dagegen.

 

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9. Kalenderwoche 2014

Rumgeeier am Telefon

 5. April

Madrid/Barcelona • Cristiano Ronaldo ruft mit unterdrückter Nummer nacheinander Menotti, Bielsa und Martino an. Er sagt jedes Mal: »Hier spricht CR7, eine Frage: Könnte unser Vertrag auch für die Weltmeisterschaft gelten? Ich bin gerade sehr gut in Form. Und den Argentinier würde ich dann im Gegenzug die nächsten zwei Jahre alles gewinnen lassen.«

Die Antworten der Trainer können an dieser Stelle nicht jugendfrei wiedergegeben werden.

6. April

Barcelona/Buenos Aires • Tata Martino beschafft sich über Bielsas Tankstellen-Connection ein abhörsicheres Prepaid-Handy, telefoniert zwei Stunden lang mit Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid, und bemalt dabei ein Blatt Papier. Kurz danach klingelt Simeones Telefon abermals. »Menotti hier. Ja, der Dünne. Alter, schreib dir mal den folgenden Satz auf und lern ihn auswendig: Ich möchte den Müttern der Spieler von Atlético Madrid danken, dass sie sie mit solch großen Eiern geboren haben.«

7. April

Barcelona • Nach dem Training fährt Martino nicht nach Hause, sondern zur Plaça de Catalunya im Stadtzentrum. Unterwegs hat er sich an einer roten Ampel umgezogen, er sieht nun wieder aus wie damals bei Ronaldo im Schönheitssalon. Sogar der Riesenschinken ist noch dabei. Der berühmte Trainer spricht drei Jungs an, als sie gerade einen deutschen Touristen beklauen wollen, und überredet sie zu einem Klingelstreich. Die Adresse schreibt er ihnen auf einen Zettel.

»Ganz schön weit weg. Das kostet aber.»

Martino nimmt schweren Herzens Abschied vom Riesenschinken.

9. April

Madrid • Vier Stunden vor dem Anpfiff des Viertelfinalrückspiels verschickt Martino eine Mail mit pdf-Anhang an diego.simeone@atleti.es.

Barcelona verliert gegen Atlético Madrid 0:1 und scheidet aus. Diego Simeone gibt den Eiermann. Bielsa fängt Martino nach der Pressekonferenz ab und fragt: »Warum hat Leo nicht gespielt?«

»Hat er doch.«

Die beiden Argentinier kichern um die Wette.

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16. Kalenderwoche

Ein dankbarer Italiener

14. April

Barcelona/Madrid/Rom • Martino bekommt ein neues Prepaid-Handy (das alte hatte er auf Anraten Menottis zertrampelt) und telefoniert zwei Stunden lang mit Carlo Ancelotti, dem Trainer von Real Madrid. Wieder malt er Strichmännchen, Pfeile und Zahlen.

carlo.ancelotti@real-madrid.es an tata@barcelona-cf.es: »Grazie mille, amico intimo!«

Der Papst wählt um 0.14 Uhr, 0.19 Uhr und 0.45 Uhr die Nummer vom Festnetzanschluss der Familie Messi in Barcelona und legt jeweils nach dem sechsten Klingeln auf.

16. April

Valencia • Martino lässt im Mannschaftsbus auf dem Weg zum Estadio Mestalla die Greatest-Hits-CD von ZZ Top einlegen. Barcelona verliert das Königspokalfinale gegen Real Madrid 1:2. Messi schießt dreimal neben und zweimal übers Tor.

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8. Juni 2014

Finale Fragen

Buenos Aires • Am Abend vor dem Abflug der argentinischen Nationalmannschaft nach Brasilien treffen Menotti, Bielsa und Martino ein letztes Mal Leo Messi. Sie sitzen in der leeren Umkleide und schweigen lange.

»Halt deine Form!«, sagt Martino schließlich und erhebt sich.

»Aber um Himmels willen nur bis zum Achtelfinale«, sagt Bielsa und klopft Messi auf die Schulter.

»Und vergiss die anderen im Team, die meisten taugen eh nichts«, sagt Menotti und hält seinen Stalin-Schnurrbart fest.

»Señor Menotti, ich darf also Weltmeister werden?«, fragt Messi.

»Ja, mein Junge«, sagt Menotti. »Verdammt, wo bleibt der Sabella mit meinen Zigaretten?«

 

Video eingeschickt von Helge vom Blog Me llaman Jorge

Abschlusstraining (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Unser Spaniologe Marc Koch empfiehlt Ronald Reng, der so viele großartige Bücher über Fußball und Fußballer geschrieben hat, unter anderem die Biografie von Robert Enke. Reng erbricht sich köstlich − erst auf seiner Facebookseite, dann noch einmal in der Taz. Übelkeit haben ihm all die verursacht, die den spanischen Fußball a) nicht verstehen, b) für tot erklären oder c) beides. Wir haben im Blog zwar einen Nachruf veröffentlicht, einen fabelhaften übrigens. Aber zugleich klargemacht: Die Spanier werden spätestens in vier Jahren wieder eine Macht sein. Trotzdem streue ich Asche auf mein Haupt, denn beim ersten Punkt hat mich Reng tatsächlich erwischt:

Vollidioten, labert weiter Blödsinn!

1. So oft es auch wiederholt wird: Das spanische Spiel von den kontinuierlichen Passkombinationen heißt nicht Tiki-Taka, sondern el toque, zu deutsch: »die Berührung des Balles«. Tiki-Taka war ein Schimpfwort des rustikalen spanischen Nationaltrainers der Neunziger, Javier Clemente, der damit das samtene Passspiel der Barca-Schule verspotten wollte: »dieses Tiki und Taki«. Weiterlesen

Fußball ist bekanntlich nur die schönste Nebensache der Welt. Es gibt viel Wichtigeres. Aber das kann mitunter in die Verlängerung gehen − jedenfalls in Argentinien, wie Helge in seinem Blog Me llaman Jorge erzählt:

Das Bürokratiemonster

Es fing aber damit an, dass die behandelnden Ärzte in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt praktizieren, was ungeheuer praktisch ist, weil Rezepte hier grundsätzlich nicht per Post verschickt werden. Kostet ja Geld. Und außerdem müsste jemand zur Post laufen und dort Schlange stehen. Die Postämter werden nämlich auch als Auszahlstellen für Sozialhilfe in jeglicher Form mißbraucht. Und Briefkästen zum Einwurf hab ich glaube ich zuletzt 1995 gesehen. Weiterlesen

Es ist nicht unsere Art, auf unseren kleinen Nachbarn herabzuschauen, zumal Fußballexoten ja eine Weltmeisterschaft auch irgendwie bereichern. Aber man wird wohl noch daran erinnern dürfen, wem die Chilenen ihre tolle Mannschaft verdanken. Uns! Argentinien! Javier Caceres hat Nationaltrainer Jorge Sampaoli vor einigen Tagen in der Süddeutschen Zeitung porträtiert:

Der Weltmeister-Überlister

Sampaoli wurde in einem argentinischen Provinznest der echten, nicht der sprichwörtlichen Pampa geboren: Casilda, wo es »47 Straßen, vier Plätze und das Recht auf Siesta« gibt, wie die chilenische Zeitung El Mercurio recherchierte. Er hätte eigentlich Profi werden wollen und war bei Newell’s Old Boys aktiv. Weiterlesen

Toller Typ, Argentiniener halt.

Noch was ohne Text, einfach nur Bilder: Fußballer der WM und ihre Doppelgänger. Mit dabei sind drei große Schauspieler: Steve Buscemi, Robert De Niro und Chuck Norris. Hier geht’s lang.

 

Leo Messi und die argentinische Volkskrankheit

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Es ist ein Sieg, der Philosophen glücklich macht. Sekunden nach dem Abpfiff hat der argentinische Freund, der gern in Europa leben würde, eine SMS geschickt: »Wir Argentinier warten immer auf den Heiland. Es gibt keine Mannschaft.«

Nur Leo Messi mit seinem Traumtor hat die weißhimmelblaue Nationalelf am Sonnabend vor einem peinlichen Unentschieden gegen Iran bewahrt. Irgendjemand hat mal gesagt: Wenn Diego Maradona Neuseeländer wäre, hätte Neuseeland 1986 in Mexiko den Titel geholt. Die Weltmeisterschaft gewann Argentiniens ewiger Goldjunge mit einer eher durchschnittlichen Mannschaft um sich herum.

 

 

Argentinier folgen gern, und wenn der, dem sie lange gefolgt sind, sie enttäuscht, folgen sie dem Nächsten, obwohl, nein: weil der das Gegenteil verspricht. Er stilisiert sich selbst dann zum Antipoden, wenn er lange dem Enttäuschenden nachgelaufen ist.  Wer ist im Augenblick Argentiniens Oppositionsführer, der Gegenspieler der Präsidentin Cristina Kirchner und einer der aussichtsreichen Kandidaten auf ihre Nachfolge, wenn im Oktober 2015 gewählt wird? Sergio Massa. Wer war Massa? Vor ein paar Jahren arbeitete er als Kabinettschef der Präsidentin, war also Kirchners – zumindest dem Organigramm nach – wichtigster Mann. Er koordinierte ihr die Regierungsgeschäfte. Heute ist er Antikirchnerist und versammelt um sich auch enttäuschte Kirchneristen.

Erscheinungen wie diese – Heiland Messi, Hoffnungsträger Massa – sind auch ein Erbe des dreimaligen Präsidenten Juan Domingo Perón. Mitte der vierziger Jahre beginnt sein Aufstieg, er gibt den Anpacker und Erlöser. Er erkennt, dass er Wahlen gewinnen kann, indem er Massen begeistert: Argentiniens Arbeiter und Argentiniens Arme. Schon vorher als Arbeitsminister hat Perón einen gewaltigen Ruf: Er ist der »Repräsentant eines hemdsärmeligen, informellen politischen Stils«1, der auf demokratische Spielregeln pfeift. Und er hat Evita. Peróns zweite Frau reist durch dieses riesige Land, verteilt Fahrräder, Puppen, Betten, Schuhe und Gebisse, eröffnet Krankenhäuser und Schulen, sie wirft Geldscheine aus dem Zug und ist Trauzeugin Tausender Paare. Wer Evita begegnet, der fühlt sich »vom Zauberstab einer Heiligen berührt«, wie die Journalistin und Buchautorin Silvia Mercado sagt. Ende der vierziger Jahre erhält die Arbeiterklasse zum ersten Mal Rechte: den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, den bezahlten Urlaub. »Perón cumple, Evita dignifica«, heißt die berühmte Parole dieser Zeit. »Perón schafft es, Evita verleiht Würde.«

Peronistische Garde

Vier peronistische Präsidenten und die Erste Dame: Héctor Campora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner (v.l.)

Perón, ein Revolutionär und Populist, hat den Staat vermeintlich allmächtig gemacht. Seine Anhänger singen bis heute, oft unter Tränen: »Perón, Perón, wie großartig du bist!/Mein General, wie wertvoll du bist!/ Perón, Perón, großer Führer,/Du bist der erste Arbeiter!« Doch Argentinien trägt schwer an diesem Glauben. Dass man bis hinauf in die Oberschicht vom Staat viel erwartet (und zugleich von seinen Repräsentanten wenig hält), scheint fast zur unheilbaren, ansteckenden Volkskrankheit geworden zu sein.

Vieles ist geregelt in Argentinien, und was noch nicht geregelt ist, wird es vielleicht bald sein. Ein Gesetz verbietet, dass in der Provinz Buenos Aires – so groß wie Deutschland – im Restaurant Salz auf dem Tisch stehen darf. Argentinier essen nämlich mehr davon als andere und mehr als ihrer Gesundheit gut tut. Also versteckt die Politik den Streuer – in vielen anderen Ländern werden selbst Kinder erwachsener behandelt. (Das Salz ist trotzdem oft auf dem Tisch, aber das ist eine andere argentinische Geschichte.)

Hiesige Politiker haben ein besonders negatives Bild von ihren Untertanen. Präsidenten, Gouverneure (die die Provinzen regieren) und Bürgermeister treten gern wie Familienoberhäupter auf und versprechen, sich um das Wesentliche zu kümmern. Man beruft sich zwar fortwährend aufs Volk, auf dessen Willen, tatsächlich aber geschieht dies ohne die Absicht, echte Mitbestimmung zuzulassen. Politik wird in Argentinien mehr als in Deutschland auf der Straße oder im Viertel gemacht − und zugleich im hintersten Hinterzimmer. Wer Macht hat oder haben will, muss Massen mobilisieren. Wenn die eigenen Anhänger Fußballstadien oder große Plätze füllen (und teilweise angekarrt oder sogar gekauft werden), dann ist das eine Art Plebiszit, eine Volksabstimmung, über die der Anführer seinen Kurs legitimiert, ohne tatsächlich darüber abstimmen zu lassen. Die Parteien und Bündnisse lassen es sich gefallen, solange der Chef Wahlerfolge verspricht.

Vor Jahren schrieb Josef Oehrlein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigenen Taschen bedienen.

Der Glaube an die Schaffenskraft des Patriarchen wurzelt tief. Schon die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wurden angeführt von Mitgliedern der Oberschicht. Die Befreiung von den Kolonialherren war gerade kein Volksaufstand, kein Umsturz von unten, keine echte Revolution. All die Männer, die bis heute als Befreier fast religiös verehrt werden, ob José de San Martín oder Simón Bolívar, waren fast ausnahmslos Söhne aus dem Großbürgertum. Nicht einmal Che Guevara, der Posterboy der Antifaschisten und Antiimperialisten, kam aus der Arbeiterklasse.

»Alles hängt von Messi ab«, sagen viele in Argentinien. Aber Messi ist − anders als Maradona 1986 − nicht in der Form seines Lebens, und selbst wenn er’s wäre: Neuseeland würde mit ihm heute niemals Weltmeister werden. Der Fußball des 21. Jahrhunderts ist komplex, taktisch viel durchtriebener; die Superstars, ob Cristiano Ronaldo, Neymar oder Messi, werden notfalls 90 Minuten lang von drei Gegenspielern gestört. Dann eröffnen sich zwar Räume für die Kameraden ringsum, aber diese Freiheit muss erkannt und ohne Angst genutzt werden. Erinnert man sich nach 180 argentinischen WM-Minuten an irgendeine besondere Szene von Kun Agüero oder Gonzalo Higuaín, Ángel Dí María oder Javier Mascherano, allesamt zentrale Spieler großer europäischer Klubs? Nein, sie haben Messi nicht entlastet.

Dem Anführer ist außer den zwei Wahnsinnstoren bislang wenig gelungen. Man kann sich vorstellen, wie es ohne Treffer um Leo Messi augenblicklich stünde in Argentinien.

BuchIch habe im vergangenen Jahr den Aufsatz »Evita Perón – Die Heilige, die nicht sterben darf« geschrieben. Erschienen ist er im Buch »Oh Du geliebter Führer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert« (Ch. Links Verlag). Das Zitat der argentinischen Journalistin Silvia Mercado entstammt dem Interview, das ich mit ihr geführt habe.

  1. Birle, Peter: Parteien und Parteiensystem in der Ära Menem – Krisensymptome und Anpassungsprozesse, in Peter Birle/Sandra Carreras (Hrsg.). Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2010, S. 215-216 []

WM-Gezwitscher (4)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)