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Argentinien sucht den Präsidenten: Das Live-Blog zur Stichwahl

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Plaza Bolivia

12 Uhr. (deutsche Zeit: 16 Uhr)

(CW) Buenas. ¿Cómo estamos? ¿Todo bien? Me alegro. Zunächst, wie sich das gehört, die äußeren Bedingungen: Buenos Aires meldet 25,6 Grad, Sonnenschein und wolkenlosen Himmel. Knackig warm ist’s also, und wir sind noch im Frühling, muchachos. Gerade kommen wir aus dem Park, bisschen Gebuddel im Sand mit der Vierjährigen, sanftes Anschaukeln der Sechsjährigen, leichtes Fußballtraining mit dem Neuner, wir wollten uns ja nicht verletzen.

Marc Koch, der Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, will angeblich auch vorbeischauen und ein bisschen mitbloggen. Im Augenblick zickt er noch herum und verlangt einen Sonntagszuschlag. Scheint peronistische Gene zu haben, der Kerl. Falls wir uns einigen, stößt er von einer Vernissage zu uns. (Ja, so schreibt man das Wort, ich hab’s nachgeschlagen.) Hoffen wir, dass er das Niveau nicht zu sehr hebt. Napoleon hat gesagt:

Gelehrte und Intellektuelle sind für mich wie kokette Damen. Man sollte sie besuchen, mit ihnen parlieren, aber sie weder heiraten noch zu Ministern machen.

Wer, carajo, ist Napoleon?

(CW) Heute also wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt. Gesucht wird Präsident Nummer 53, und es kann nur einen geben: den Regierungsmann Daniel Scioli (58) oder den Oppositionskandidaten Mauricio Macri (56). Der eine ist noch Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der andere noch Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, ihre Nachfolger sind schon gewählt.

Wer heute verliert, hat erst mal nichts mehr. Se va a casa, tomando Mate, wie man in Argentinien sagt, der geht nach Hause und schlürft was ganz Bitteres. Scioli und Macri sind alte Freunde, sogar ihre Väter waren … bitte? … Ok. … Ich höre gerade aus der Regie, dass ich das schon erzählt habe.

12.25 Uhr.

(CW) Vielleicht mal ein paar Zahlen: 32 037 323 Argentinier müssen heute wählen. Ja, sie müssen. Argentinien hat eine Wahlpflicht. Bei den Vorwahlen Anfang August betrug die Wahlbeteiligung nur 74 Prozent, es war die niedrigste seit der Rückkehr zu Demokratie nach dem Ende der Militärdiktatur (1976 bis 1982). Am 25. Oktober, bei der ersten Wahlrunde, lag sie dann mit 81 Prozent deutlich höher. 2,5 Prozent hatten ein voto blanco abgegeben, also keinen der sechs Präsidentschaftskandidaten gewählt. Vier bis elf Prozent sollen noch nicht entschieden haben, wen sie wählen. Laut Marcos Peña, einem der Chefs der Kampagne des Präsidentschaftskandidaten Macri, sind es sieben bis acht Prozent.

Über das Land verteilt sind 94 979 mesas, Tische, die der Wähler aufsucht, um seine Stimme abzugeben.

12.30 Uhr.

(CW.) Man kann die Wahlpflicht übrigens umgehen: Wer mehr als 500 Kilometer entfernt von seinem Wohnort ist, braucht nicht abzustimmen. Es gab sogar mal die studentische Bewegung 501, deren Mitglieder sich einen Spaß daraus machten, am Wahltag abzuhauen, nämlich genau 501 Kilometer weit.

12.36 Uhr.

Wahllokal

(CW) Vor einer halben Stunde habe ich die Kinder durch ein Wahllokal bei uns im Viertel geführt und ihnen alles erklärt. Wenn die das verstehen, verstehen Sie das auch. Also, es gibt in Argentinien keinen Zettel, auf dem man ankreuzt, wie wir das aus zivilierten Ländern Deutschland kennen. Stattdessen schafft jede Partei oder jedes Bündnis die boletas ins Wahllokal; die sehen ein bisschen aus wie Werbeflyer, schön bunt. Das hier ist zum Beispiel die boleta von Scioli:

Boleta

Wenn man ihn wählen will, packt man den Schein in einen Umschlag und wirft diesen dann am Wahltisch in die Urne. Von 18 Uhr an wird ausgezählt.

»Aber die Leute, die da zählen, die können auch betrügen.«

Mein Sohn!

Das geschieht natürlich, weshalb die Parteien und Bündnisse versuchen, an jeden Wahltisch einen Aufseher zu platzieren, einen sogenannten fiscal. Der muss natürlich belohnt werden, weil er nur dann genau hinguckt. Und zu niedrig sollte der Lohn auch nicht sein, weil der Aufpasser sonst von der Konkurrenz abgeworben werden könnte. Meistens gibt es ein paar Hundert Pesos und ein Verpflegungspaket. Aber man braucht natürlich Leute, Leute, Leute − ein Nachteil für kleine Parteien, vor allem in den hintersten Ecken des Landes.

12.45 Uhr.

(CW) »Hecha la ley, hecha la trampa«, sagt ein argentinisches Sprichwort. Frei übersetzt: Der Argentinier findet immer einen Weg, um ein Gesetz zu umgehen. Scioli hat vorgestern jedenfalls ordentlich gegen den vorgeschriebenen Waffenstillstand verstoßen, als er sich mit dem Bürgermeister von Esteban Echeverría traf und sich dabei von Anhängern bejubeln ließ.

Seit Freitag, 8 Uhr, ist dies verboten. Auch Wahlkampfspots dürfen nicht mehr gesendet werden. Scioli hat das natürlich reichlich Häme im Netz beschert, nicht mal sein Name war mehr heilig: Aus Scioli wurde Yoli. Yo gleich ich, kapiert? Schon vor Wochen schrieb die Zeitung Clarín, die es mit dem Kandidaten der Regierung eigentlich gut meint: »Scioli sagt ich, Macri sagt wir

13 Uhr.

(CW) Noch ein bisschen was zur Ausgangslage. In allen Umfragen liegt Macri vorne, was nicht bedeuten muss, dass er auch gewinnt heute. Der Favorit aber ist er. Er hat sich das Jahr über stetig verbessert, und allein dass er es in die Stichwahl schafft, hatten Fachleute, zu denen wir uns zählen, nicht unbedingt erwartet. Und Scioli? Der war eigentlich schon durch und saß auf gepackten Koffern, bereit für den Umzug in die Casa Rosada. Infobae nennt ihn den »Benjamin Button der Politik«, nach jener Filmfigur, verkörpert von Brad Pitt, die alt auf die Welt kommt und als Baby stirbt. »Er fing an als Präsident und endete als Herausforderer.«

Herr Koch kennt den Film natürlich nicht. Guckt halt nur Ingmar Bergman und Wim Wenders.

Mittagessen!

13.30 Uhr.

(CW) Mauricio Macri, der Kandidat von Cambiemos (Lasst uns verändern), hat vor knapp einer Stunde gewählt.

Ein historischer Tag? Mal schauen. Einer aus dem Macrismus, der heute als Aufpasser im Einsatz ist, schreibt uns gerade: »Wir gewinnen mit vier Punkten Vorsprung. Oder mehr.«

17.40 in der Ersten Welt Deutschland

(MC) Ein klassischer Novembertag auf der Oberen Erdhälfte geht zu Ende: Strahlender Sonnenschein, Kinder im am Fluss, Kaffee&Kuchen in viel zu dicken Menschen. Vor 3-einhalb Stunden hat sich der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur AFP einen dürren Bericht über die Wahlen abgerungen. Die Agentur schreibt vom »von Kirchner unterstützten Linkspolitiker Daniel Scioli«. Haha! Ob Daniel S. das auch so sieht? Am Ende menetekelt AFP, der Wahlsieger trete »ein schwieriges Erbe an«. Um es mal freundlich auszudrücken.

18:04 in Deutschland

(MC) Die Meldungen aus Argentinien überschlagen sich!!: Die Lange-Brüder Klaus und Yago aus Argentinien sind 7. geworden. Nicht bei der Präsidentenwahl, Mensch! Da steht das Ergebnis doch noch gar nicht fest! Obwohl … wer weiß …? Nein, die Lange-Lümmels sind Segler. 49er-Klasse. Klingt n bisschen wie 6-7-8 im argentinischen TV. Da, wo die Macht wirklich kritisiert wird. Haha. Scherz!

18:15 in Deutschland

(MC) Ich müsste meine Sendung (Haha: jetzt warten Sie auf den Link. Ist aber noch geheim!) für morgen vorbereiten. Aber es ist so spannend!!! Nicht die Wahl, Mensch! Da steht das Ergebn Hm? … Was? Ah, ich höre gerade aus der Regie, dass ich diesen Gag schon gemacht habe. Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich die Praktikantin rauswerfe. Die geht mit Gag-Zetteln um wie der argentinische fiscal mit Wahlzetteln … Spannend ist das Spiel zwischen Ingolstadt und Darmstadt. Jawohl, mein Herr: Erste Liga.

18:30 in Deutschland

(MC) Apropos Wahlen: Was passiert eigentlich mit dem Indek, wenn Daniel S. nicht gewinnt?

18:54 in Deutschland (und in Italien)

(MC) Ganz sicher ist: Wenn Daniel S. nicht gewinnt, kommt Besuch nach Argentinien. Der Italiener Roberto Caradelli und seine Jungs vom Internationalen Währungsfonds (FMI, por sus siglas en español perdón: casteschahno) wollen mal wieder vorbeischauen. Nach einer Dekade! Die manche »die Gewonnene« nennen. Aber gute Freunde kann halt niemand trennen. No es así, Cris?

19:00 in Deutschland

(MC) +++EILMELDUNG+++EILMELDUNG+++Nach Auszählung der ersten Wahllokale in Rio Gallegos liegt die amtierende argentinische Präsidentin Crist … Ach neee!: Die Meldung soll ja erst in ein paar Stunden raus! Die aktuelle Eilmeldung: Ingolstadt hat das Spiel gedreht.

19:06 in Deutschland (und in Spanien)

(MC) Unfasslich: Real Madrid schmeißt Rafa Benítez doch nicht raus! Da ist Argentinien einfach weiter! #Präsidentschaftswahlen #Cristina

19:10 in Deutschland

(MC) Apropos Rausschmiss: Was wird jetzt eigentlich aus unserem Spezi Axel K.? Und dem dolar blue? Gehen die jetzt nach Uruguay?

19:24 in Deutschland

(MC) Kriege gerade einen sentimentalen Anfall

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Que lo hagas bien hoy, Argentina!

19:30 in Deutschland

(MC) Fast 2 Stunden ohne Unterbrechung von den argentinischen Präsidentschaftswahlen berichtet. Objektiv! Fair! Unbestechlich! Und der Dank? Kein Honorar vom Herausgeber CW. Ich werde mich bei den zuständigen Aktivisten beschweren. Und auch bei ihr ! Jawohl!

19:36 in Ingolstadt

(MC) Darmstadt 98 hat in Ingolstadt verloren. Unter anderem durch einen Elfmeter, der natürlich unberechtigt war. Der Schiedsrichter hieß übrigens Kircher. Also fast wie. Ne? Oder? Ich verabschiede mich und übergebe an den Herausgeber CW. Möge der Bessere gewinnen. Forza, Argentina! Good night. And good luck.

15.45 Uhr. (deutsche Zeit: 19.45)

(CW) Ich bin’s wieder. Schauen wir doch mal, was unsere beiden Kandidaten gestern so getrieben haben. Also, Daniel Scioli hat die Jungfrau von Luján besucht, aber nicht zu Fuß, wie sich das gehört für echte Argentinier. Er dankte ihr und bat sie für heute um einen »friedlichen und demokratischen Wahlgang«. Anschließend wurde im Kreise der Familie gegrillt.

Scioli Luján

Mauricio Macri spielte Paddle-Tennis, und zwar mit Martín Palermo. Man kennt sich aus gemeinsamen Tagen bei den Boca Juniors. Macri führte den Verein als Präsident (1996 bis 2008), Palermo schoss die Tore. Ja, alle. Keiner hat für Boca häufiger getroffen als er, El Loco, der Verrückte: 236-mal in 404 Spielen.

Palermo

16 Uhr.

(CW) In Santiago del Estero lässt die kirchneristische Regierung übrigens Wähler per Taxi zur Stimmabgabe bringen. Kann man ruhig mal machen, und Santiago del Estero ist ja auch nicht die ärmste Provinz Argent … ach so. Ähm, trotzdem nett, zumal es dort ja auch noch viel heißer ist als bei uns: 32 Grad. Am Dienstag regnet’s aber.

16.13 Uhr.

(CW) Wo wir gerade beim Fußball waren: Diego Maradona wählt wieder, wie im ersten Durchgang am 25. Oktober, Scioli, »weil ich will, dass in meinem Land die Dinge, die noch fehlen, von der Person erledigt werden, die am besten vorbereitet und am seriösesten ist, um sie zu lösen«. So kompliziert, wie meine Übersetzung klingt, kann Diego natürlich nicht reden. Er hat übrigens auch an einen Wahlsieg von Aníbal Fernández in der Provinz Buenos Aires geglaubt. »Kein Zweifel, du gewinnst«, sagt er in diesem Video. »Du bist ein guter Mensch, du beklaust niemanden.«

Das Gelächter, das Sie gerade hören, kommt von der Stehplatztribüne des Quilmes Atlético Club, dessen Präsident Fernández ist. Ich habe Cristina Kirchners Kabinettschef vor einem Jahr mal zufällig getroffen, und als er hörte, dass ich Fan und Mitglied seines Vereins sei, versprach er, mir ein Trikot zukommen zu lassen, signiert von Miguel der Chinese Caneo, einem unserer großen Idole. Aníbal, kommt das Trikot noch?

16.40 Uhr.

(CW) Noch mal ein paar Hinweise für die, die durchmachen wollen: Bis Mitternacht argentinischer Zeit, also vier Uhr Deutschland, soll die Auszählung beendet sein; erste Zahlen werden aber, heißt es jedenfalls, schon um 19.30 Uhr veröffentlicht. Für halb elf sind Ergebnisse angekündigt, die zuverlässig sein sollen und verraten, wer der nächste Präsident wird. Es kann natürlich auch wieder alles später werden, so wie am 25. Oktober. Da hatte der Justizminister, der Herr des Wahlverfahrens, eigentlich um 22 Uhr erste Ergebnisse verlesen sollen. Aber der Schock im kirchneristischen Regierungslager war so groß, dass es später und später wurde. Man wollte wohl warten, dass Scioli an Macri vorbeizieht. Erst nach Mitternacht gab es offizielle Zahlen.

Der Fernsehsender C5N hatte übrigens schon um 17.58 Uhr, also zwei Minuten vor Schließung der Wahllokale, einen triumphalen Sieg Sciolis verkündet und ihn zum neuen Präsidenten ausgerufen. Obendrauf kürte man noch Aníbal Fernández zum künftigen Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Scioli lag am Ende gerade einmal zweieinhalb Punkte vorn und musste in die Stichwahl; Fernández verlor sogar mit weitem Abstand. Der Eigentümer von C5N ist natürlich ultra K, also ein Freund des Kirchnerismus, der Argentinien seit zwölfeinhalb Jahren regiert.

16.55 Uhr.

(CW) Der Neunjährige hat seit Wochen nur noch vier Fragen an mich: Wer, glaubst du, wird Präsident? Wen würdest du wählen? Das Auto da, ist das teuer? Teurer als das da? Notiz an mich selbst: »Vergiss auf keinen Fall die Mutter von Dings zu autorisieren, damit sie deine Tochter morgen vom Kindergarten abholen darf.«

17 Uhr.

(CW) Kein Witz: In Mexiko bekommt der, der gerade gewählt hat, den Daumen gefärbt. Damit er nicht noch einmal versucht abzustimmen. Die Farbe ist nicht abwaschbar und verschwindet nach zwei bis vier Tagen. Ist in Argentinien natürlich üüüüüüberhaupt nicht nötig.

17.10 Uhr.

(CW) Hoppla, ist mir durchgerutscht: Daniel Scioli hat auch schon gewählt, vor etwa drei Stunden.

Sorry, musste den eingebundenen Tweet von Scioli wieder entfernen. Zerschießt mir das ganze Format, keine Ahnung, warum. Begnügen wir uns mit einem Foto.

Scioli Twitter

»Ohne Zweifel wird heute das Volk gewinnen, und ich vertraue ihm.« Eine seltsame Aussage.

17.35 Uhr.

(CW) Das hier will ich schon den ganzen Tag erzählen: Daniel Scioli hat ein ziemlich großes Anwesen, es heißt Villa La Ñata und liegt ein bisschen außerhalb von Buenos Aires. 12 255 Quadratmeter! Es gibt diverse Sportplätze, eine große Halle zum Fußballspielen, Palmen, ein Schwimmbad, einen Hubschrauberlandeplatz und eine Bibliothek. Aus der Luft sieht das dann so aus:

Was es nicht gibt, sind Bücher. Auch nicht in der Bibliothek. Denn dort treibt Scioli Sport. Eine Bibliothek ohne Bücher. Was willste auch machen, wenn der Architekt das Ding unbedingt gewollt hat? Wieder abreißen? Lesen lernen? Anfangen zu lesen?

Ich bin gleich zurück. Muss mal gucken, ob in meinem Bad eine Toilette ist.

17.45 Uhr.

(CW) Scioli gilt übrigens als schwer verbissen, verlieren kann er nicht, er will immer die Nummer 1 sein, und hat schon als kleiner Junge rumerzählt, dass er mal Präsident werde. Steht alles in Scioli secreto, der Biografie des Kandidaten, verfasst von den Journalisten Pablo Ibáñez und Walter Schmidt. Tolles Buch!

Und wie sind die Initialen von Daniel Osvaldo Scioli? DOS! Nicht UNO. Hätte uns ja auch mal ein- oder wenigstens auffallen können. Dann müsste ich das jetzt nicht klauen von Ibáñez und Schmidt.

Jedenfalls: Hahahaha. Oder wie der Argentinier schriftlich lacht: Jajajajajaja.

17.53 Uhr.

In sieben Minuten schließen die Wahllokale, aber es kommt in Argentinien durchaus vor, dass sie ein bisschen länger offen bleiben. Weil man wieder getrödelt hat.

Falls Sie sich fragen, wo meine Frau steckt, die Vierjährige sagt’s Ihnen: »Mamá está en Dienstreise.« Tja, dreieinhalb Jahre Argentinien gehen an der Sprache nicht spurlos vorbei. Der Neunjährige hat gerade mitgeteilt, dass es in Deutschland heute »geschneet« habe.

18 Uhr.

Schluss. Aus. Vorbei. Ein argentinischer Journalist, der vom Kirchnerismus absolut gar nichts hält, hat uns gerade das Versprechen abgenommen, dass wir auf keinen Fall verraten dürfen, dass Mauricio Macri die Stichwahl mit  mindestens zehn Punkten Vorsprung gewonnen hat.

18.04 Uhr.

(CW) Die ersten Fernsehsender, auch die, die dem Kirchnerismus nahe stehen, verkünden: Macri hat gewonnen.

18.10 Uhr.

(CW) Zeit, dass ich auch mal mich selbst zitiere:

Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen. Text: Grünschnabel gegen Chamäleon

18.15 Uhr.

(CW) Im búnker (heißt wirklich so), der Halle, in der heute Macris Anhänger feiern, wird schon gerufen: »Se siente, se siente, Mauricio Presidente.« − Man spürt’s, man spürt’s, Mauricio ist Präsident.

18.20 Uhr.

(CW) Macri hat seine möglichen Minister bislang nicht präsentiert. Klar ist nur, dass Marcos Peña Kabinettschef werden soll. Ein schöner Posten für einen Mann von gerade einmal 38 Jahren. Peña wäre ja auch fast Macris Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten geworden, man entschied sich dann aber für die bekanntere Gabriela Michetti. Er ist jedenfalls einer der engsten, wenn nicht der engste Vertraute im politischen Umfeld des Hauptstadtbürgermeisters. »Das Gehirn von Macris Regierung« in der Hauptstadt.

Scioli hatte sein Kabinett schon vor dem ersten Wahlgang vorgestellt und daran festgehalten. Es war nur noch offen, wer Außenminister würde. Was auffiel: Nur einer der 16 Posten sollte an eine Frau gehen. Immerhin wäre Silvina Batakis für Wirtschaft zuständig gewesen und nicht für Familia y trasto (Familie und Gedöns). Auch bemerkenswert: Nur zwei Minister aus der Kirchnerzeit hätten überlebt.

Jetzt wohl gar keiner.

18.30 Uhr.

(CW) Pause. Ich muss die Kinder abfüttern. Und der Neunjährige will nachher unbedingt zu Macri in den búnker. Gute Nachrichten: Das Verbot, Alkohol zu verkaufen und auszuschenken, endet in zweieinhalb Stunden. (Nicht, dass wir keinen Vorrat angelegt hätten.)

Alkohol

23:19 in Deutschland

(MC) Ich bin gar kein argentinischer Journalist, aber ich habe es dem Herausgeber CW trotzdem verraten: AFP, die höchst zuverlässige französische Nachrichtenagentur, meldet: Macri hat gewonnen.

23:22 in Deutschland

(MC) Ich muss wieder ran. CW, der Herausgeber, hat eine kurzfristige Elternzeit beantragt. Phhhh …

23:26 in Deutschland

(MC) Das ist jetzt echt der Moment, ein bisschen nachdenklich zu werden. Wenn es so ausgeht:

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Das Ende einer Ära

23:31 in Deutschland

(MC) Respekt: Nicht mal in so einem Moment hören sie bei FpV auf, sich den Erfolg einzureden!

23:38 in Deutschland (18:38 im Búnker von Macri)

(MC) Gut für das Land, wenn es so käme, wie es Cornejo aus Mendoza − ein Parteigänger von Macri − verspricht:

Bildschirmfoto 2015-11-22 um 23.38.05

23:50 in Deutschland

(MC) Er hat gesagt:

• schätzt den Wert der Arbeit

• respektiert andere Meinungen

• lügt die Leute nicht an

Sportlich, aber zu schaffen.

23:56 in Deutschland

(MC) CW ist Herausgeber. Zu Recht. Weil er es schon immer gewusst hat: Der 53. Präsident Argentiniens wird ein ganz anderer sein als viele vor ihm. Es braucht aber nicht so arg viel, das vorherzusehen. (Deswegen ist CW Herausgeber. Und nicht Chefkorrespondent. Haha!) Was aber wird aus diesem Peronismus? Der Ursache für die argentinische Krankheit?

00:15 in Deutschland (politische Zeit in Argentinien: 00.00)

(MC) Da fängt jetzt etwas ganz Neues an in Argentinien. Macri hat 9 Punkte Vorsprung. 15 Prozent der Stimmen sind ausgezählt. Keine Chance mehr, Daniel S. Wir sind nicht enttäuscht und nicht betroffen. Aber: Vorhang zu. Und nicht mehr alle Fragen offen. Buenas noches y buena suerte.

0 Uhr.

(CW) Unser Freund Jorge hat uns gerade mit einem Kommentar geweckt. Danke! Es ist wohl doch enger, als vor Stunden prophezeit. Aktuell liegt Macri bei 51,44 Prozent, Scioli bei 48,56. 98,83 Prozent der Stimmen sind ausgezählt. Macri kommt auf 12 871 479 Stimmen, Scioli auf 12 150 576. Die Präsidentin hat aber Macri schon gratuliert. Man trifft sich am Dienstag.

0.20 Uhr.

(CW) Ich wollte mich vorhin an Marcos Peña ranwanzen, den zukünftigen Kabinettschef von Macri, und horchen, welche Posten denn für Herrn Koch und mich vorgesehen seien in der Regierung. Und dann das: Der Neunjährige und ich, wir kamen gar nicht rein in den búnker! Obwohl wir akkreditiert waren! Und mit uns standen Hunderte vor der Tür! Ein Skandal!

Ist das schon die Arroganz der Macht?

1.50 Uhr.

(CW) Auch wir gratulieren jetzt mal Mauricio Macri, dem neuen Präsidenten Argentiniens. Es wird natürlich noch ausgezählt, warum auch immer das so lange dauert; aktuell sind wir bei 99,17 Prozent. Aber der Vorsprung ist groß genug: Macri steht bei 51,40 Prozent, Scioli bei 48,60. Wir sind gespannt, was nun kommt nach dem Ende des Kirchnerismus.

Uns hat es Spaß heute gemacht, vielen Dank fürs Lesen. Hasta luego. Un abrazo fuerte.

Der Floh und der Apache, der Beißer und der Gebissene, die Statue und der Bleiche – die Berliner Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Kurznachrichten.

Heute über: das Champions-League-Finale in Berlin.

♦♦♦♦♦

CW. Ich bin schon krass heiß auf Barcelona gegen Juventus. Leo Messi und Carlitos Tévez, der Floh1 gegen den Apachen2! Luis Suárez und Giorgio Chiellini, der Beißer gegen den Gebissenen! Was für ein Finale!

MC. Ähem, der Gebissene kneift.

CW. Schulterverletzung?

MC. Wade! Links.

CW. Simulant.

MC. Es gibt ja auch noch Andrea Pirlo und Andrés Iniesta, die Statue gegen den Bleichen! Pirlo hat auf seinem sagenhaften rechten Fuß mehr Haare als Iniesta auf dem Kopf.

CW. Leider erwarten wir am Sonnabend, Mitte der zweiten Halbzeit, den einzigen Argentinier, der Fußball nicht mag, zum Kaffeekränzchen.

MC. Vor einem Jahr, Real gegen Atléti, saß er bei mir. Hat aber nicht groß gestört.

CW. Unsere Frauen sind echt …

MC. … so tolle Gastgeberinnen. Wir würden vereinsamen und verwahrlosen ohne sie, ach was, wir wären sozial seit Jahren isoliert.

CW. Wir müssten die ganze Zeit Fußballspiele gucken.

MC. Schreckliche Vorstellung.

CW. Für wen bist Du? Als halber Madrilene kannst Du ja nicht wollen, dass Barça die Champions League gewinnt. Also Juve.

MC. ICH WERDE NIEMALS FÜR EINEN ITALIENISCHEN VEREIN SEIN.

CW. Ich zitiere den argentinischen Fußballphilosophen Jorge Valdano, den wir beide ja sehr schätzen, was auch nicht oft vorkommt.

Italien weiß genau, was es will. Wenn ihr ästhetischen Stil wollt, dann schaut euch die Trikots an, die Millimeterfrisuren, den Schnitt der Bärte. Wenn ihr Talent möchtet, schaut auf die Ersatzbank (da sitzt del Piero mit der Feierlichkeit eines Pharaos).

MC. Oder auch:

Es gibt Momente, in denen ein Abwehrspieler klärt, und er sieht zum Beispiel die Beine eines Norwegers sperrangelweit offen, eine schöne Einladung zum Tunneln, die ein freier Mann niemals ablehnen würde. Der italienische Abwehrspieler lehnt die Versuchung ab und klärt trotzdem.

CW. Unsere Frauen allerdings…

MC. …sind für Juve.

CW. Wegen Totti.

MC. Der spielt seit 112 Jahren beim AS Rom.

CW. Das wissen aber unsere Frauen nicht. Für sie wird auch immer Paolo Maldini der Abwehrchef der Nationalelf sein.

MC. Noch so ein Schönling. Überhaupt total attraktive, charmante Männer, diese Italiener, voller Gefühle. Und aufrichtig, natürlich. Nie würde ein Italiener ‘ne Schwalbe machen. Niemals.

CW. Das Fairplay wurde in Italien erfunden. Von Pippo Inzaghi.

MC. Übrigens, Gigi Buffon …

CW. … Weltklasse-Torhüter …

MC. … hatte mal die Rückennummer 88, war aber kein Faschist. Er wollte eigentlich die Doppelnull haben, weil er meinte, das symbolisiere zwei Eier. Kein Witz. Fußballerlogik: Eier haben und so. Der AC Parma, sein damaliger Klub, ließ das aber nicht zu. Buffon, gedankenschnell: »Dann nehme ich die 88, das bedeutet: vier Eier!« Als man ihn darauf hinwies, wofür die Zahl in rechtsextremen Kreisen stehe, sagte er: »Wer ahnt das? Dass 88 der Hitlergruß ist, das wissen doch wirklich nur die Nazis!«

Seite Drei in der »Süddeutschen« am Donnerstag.

CW. Und dann gewinnt der ausgerechnet die Weltmeisterschaft im Berliner Olympiastadion. Da schloss sich ein Kreis.

MC. Du als Argentinier, der argentinischer sein will als jeder Argentinier, müsstest am Sonnabend für Juve sein. Wegen Tévez. Spieler des Volkes. Kindheit im Elendsviertel und so.

Mir ist egal, was die Leute denken. Ich werde meine Wurzeln nicht vergessen. Die Jungs sagen immer zu mir: »Wenn du ganz oben ankommst, vergiss nicht die Armen.«

CW. Ich bin für Juve! Genau aus diesem Grund.

MC. Dacht’ ich mir. Letzte Frage: Und Franziskus?

CW. Für Tévez, natürlich. Der Papst des Volkes. Aber Messi mit dem Pokal würde er auch empfangen.

MC. Es haben ja sowieso alle argentinischen Fußballer einen Hausausweis für den Vatikan.

  1. la Pulga, Messis Spitzname []
  2. el Apache, Tévez‘ Spitzname []

Grass und Gagelmann, Katsche und Schmelzer, mieses Internet und kaltes Wasser in Buenos Aires: die ausgerutschte Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Whatsapp und Facebook-Chat.

♦♦♦♦♦

ERSTE SZENE

CW. Ich lese übrigens gerade »Herr Pep«, das Buch von Martí Perarnau über Guardiolas erstes Jahr beim FC Bayern. Auf Spanisch, weil’s billiger war als die deutsche Ausgabe. Schön erzählt. Tolle Anekdoten. Was allerdings arg nervt: hemos visto, han ganado, he dicho1. Habe ich noch nie benutzt. Ist das dieser ominöse Perfekt? Vollkommen überflüssig, wenn Du mich fragst. Oder reden normal entwickelte Spanisch sprechende Völker so?

Wörterbuch

MC. Das ist korrektes Spanisch. Bildet eine Verlaufsform der Vergangenheit ab, die dem knöcheltief in seiner Geschichte stehenden La-Plata-Spanier nicht verständlich ist.

CW. Verlaufsform, aha. ¡Qué sé yo!2

MC. Das heißt: ¡Yo qué sé!

CW. In Madrid vielleicht, wo ja Dein Kolonialherrenspanisch herstammt.

MC. Überall, wo christlich gesprochen wird.

CW. Ich bin Argentinier. ¡Andate!3

MC. Véte, heißt das.

CW. Nie gehört.

MC. Der Imperativ von irse. Der Spanier kann noch starke Flektion.

CW. Asador
Hübsches Foto, ne?

MC. 1959? Nach der Einnahme von La Habana?

CW. Die Geschichte muss neu geschrieben werden, wenigstens teilweise. El comandante Fidel. El Che. Und El Wese. Ach, vergiss den Medizinmann. Wir haben Havanna natürlich nicht eingenommen, sondern befreit.

MC. Das ist doch bei Euch immer das Gleiche.

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ZWEITE SZENE

CW. So ein Mist.

MC. Was?

CW. Ich habe plötzlich kein Internet mehr. Der schöne Stream ist weg. Das Halbfinale des DFB-Pokals! Wieso kommt dieses Spiel auch nicht im argentinischen Fernsehen? Die zeigen lieber Mr. Empoli gegen Dr. Caligari … Cagliari … was weiß ich, jedenfalls Mafialiga. Scheiß Argentinien! Verdammte Präsidentin! Verfluchter Peronismus! Und Evita kann mich auch mal.

Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner, Cristina Kirchner

> Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner

MC. Wesemann! Ich wusste, Du begreifst es irgendwann. Aber: Lass das Land in Ruhe. Die Präsidentin kann nichts dafür. Sie hat es nicht gewusst. Wie früher.

CW. Obendrein ist das Wasser kalt; auch so ein Zusammenhang, den es nur in Argentinien gibt.

MC. Weiß ich doch. Wenn Du in Buenos Aires kein Internet hast, hast Du auch kein heißes Wasser. Aber: Wenn das Wasser heiß ist, heißt das noch lange nicht, dass Du Internet hast.

CW. Aquí también la Nación Crece.4

Werbetafel in der Provinz Misiones

> Werbetafel in der Provinz Misiones

MC. Noch zehn Minuten. Gagelmann raus!

CW. Das von Schmelzer war keine Hand.

MC. Du hast es doch gar nicht gesehen.

CW. Marcel ist, so wie ich, in Magdeburg geboren. Er hat, anders als ich, für den 1. FC Magdeburg gespielt. Für den Club. Europapokalsieger 1974. Schmelzer darf alles.

MC. Die Hand soll ihm abfaulen! Hab‘s damals übrigens nicht geguckt, Euer Finale gegen den AC Mailand. Hat das überhaupt jemand geguckt in der normalen Welt? 4641 Zuschauer im Stadion, sagt Wikipedia. Ewige Minuskulisse.

CW. Sohn kommt gerade von der Schule. Und flucht auch gleich auf die Präsidentin.

MC. Saludos an meinen kleinen Bayernfan.

CW. Er grüßt zurück. So langsam wird er erwachsen, also, er misstraut mir neuerdings. Hab ihm vor ein paar Tagen erzählt, dass das 6:1 gegen Porto wiederholt werden muss, wegen Peps zerrissener Hose, klarer Verstoß gegen Uefa-Regularien usw. Da sagte er:

Ja, und letztes Jahr hab ich dir geglaubt, dass die Meisterschaft nachträglich an Dortmund geht, weil Pep die Meisterschale hat fallen lassen. Und das WM-Finale gegen Argentinien wird noch mal gespielt, weil Neuer ein grünes Trikot anhatte und man das im Endspiel nicht darf wegen gleicher Farbe wie der Rasen.

MC. Neuer: souverän! Sohn: Weltklasse!

CW. Mein Sohn!

MC. DIE BRINGEN LEWA UM, UND DER PFEIFT NICHT!!!! Zweiter klarer Elfer! Der gehört doch auf die Sportakademie, der Gagelmann.

CW. Uli schlägt in der JVA gerade jemanden zusammen.

MC. Mit Recht. 90 Sekunden bis zum Elfmeterschießen.

CW. Und ich bin ohne Internet. Und ohne Warmwasser. Ich dreh aber noch mal am Hahn. Gleich zurück.

♦♦♦♦♦

DRITTE SZENE

MC. Wir fangen an. Lahm:

CW. Pfosten.

MC. Vorbei. Rutscht weg wie Beckham damals gegen die Türken.
Gündoğan trifft.
Xabi. Aus. Wie Lahm. Rutscht weg.
Kehl. Tor.
Götze. Langerak hält.

CW. Was ist da los?

MC. Bestechung.
Hummels. Neuer!

CW. Sohn weint.

MC. Noch nicht! Neuer schießt. Latte.
Jetzt ja.

CW. Und ich bin so schlecht im Bayernsäue-Trösten.

MC. Du lachst ja auch schon wieder hinter seinem Rücken. Und er bekommt es natürlich mit. Weil er Dich durchschaut.

CW. Er sagt einen Satz, den nur ein Bayernfan sagen kann:

Immer verlieren wir.

MC. Mit rechten Dingen ging das jedenfalls nicht zu. Betrug. Bestechung. Beschiss.

CW. Heul doch! #schlechteVerlierer.

MC. Immer verlieren wir.

CW. Diese Saison nur noch zweimal. #Barça #MesQueUnClub #Messi #Mascherano

MC. Ein Unentschieden und zwei Siege. #SternDesSüdens

CW. Stern des Südens? Strauß? Der große FJS? Der die Westbindung erfunden hat?

MC. Mein lieber junger Freund, das war Adenauer!!! Der den Soffjets die Oder-Neiße-Linie aufgezwungen hat. Entweder man akzeptiert sie. Oder man ist nicht unser Freund. So war er, der Konny. Der Osten? Fort mit Schaden! Einer der wenigen Punkte, an denen sich Thomas Mann geirrt hat. #schlechterrussentisch #klawdiachauchat #zauberberg

CW. Amen, Herr Grass.

MC. Aber Günter wollte immer auf die andere Seite der Oder-Neiße-Linie.

CW. Äh, auf welche Seite jetzt? Der war doch früh auf der anderen Seite. Geboren in Gdánsk. Meine Oma war übrigens auch Vertriebene!

MC. Aber er wollte zurück. Deine Oma nicht.

CW. Und wer hat ihn aufgehalten?

MC. Die Gruppe 47. Nach seiner Lesung der »Blechtrommel« haben sie für ein Stipendium gesammelt. Jedes Mal, wenn wieder 500 DM zusammen waren, kam Richter am Tresen vorbei, und Grass hat einen Obstler genommen. Nach diesem Abend war er reich. Und dann berühmt.

CW. Die Gruppe 47 ging mir schon beim Abi auf den Wecker. Nur Schaumschläger. Aber gutes Marketing. Peter Weiss, war der da auch drin? Und Enzensberger? Konnten ja alle nicht für fünf Pfennig schreiben. Da ist mir die Gruppe 74 lieber.

gruppe 74

MC. Die mit Müller, Maier und Hoeneß?

CW. Ja, und mit Katsche.

Zwei Beine, ohne Interesse an Genialität,
vereinfachter Mechanismus, nichts Brasilianisches,
kein Sternenlauf, kein Jubel in den Fußgelenken,
Standbein, Schussbein, nichts für Genießer,
und trotzdem einer, dessen die Menschen,
die ihn spielen sahen, gedenken.

MC.

Unzuständig für alles Künstlerische!
Kein Dribbling, kein nie gesehener Trick,
stattdessen Luft für neunzig Minuten,
und notfalls für die Verlängerung, wenn die Kollegen Krämpfe quälen.
Merkwürdig, daß so einer, eckig wie eine leer gegessene
Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund ist.

CW. »Gedicht für Georg Schwarzenbeck«. Das einzig Brauchbare und halbwegs Verständliche von Wolf Wondratschek.

MC. Lessing sagt:

Wer mich einen Intellektuellen nennt, dem hau‘ ich eine rein!

Aus dem Hintergrund wird »Fußball ist unser Leben« langsam unter den letzten Worten durchgeblendet. Estragon und Wladimir schauen sich fragend an. Botho Strauß zerknüllt ein Stück Papier und verlässt den Raum. Irgendwo pinkelt jemand auf ein Buch von Ggm. Frau CW nimmt die Kinder und zieht zu ihrer Mutter.

VORHANG.

  1. wir haben gesehen, sie haben gewonnen, er hat gesagt []
  2. Was weiß ich! []
  3. Hau ab! []
  4. Bekannter Satz auf Werbetafeln der argentinischen Regierung überall im Land: »Auch hier wächst die Nation.« []

Komödien-Outtakes

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Unsere hohen qualitativen Ansprüche an die Argentinischen Komödien™ und an uns selbst garantieren, dass nur die allerbesten Dialoge verwendet werden. So manches wird bei der 117. und letzten Abnahme herausgeschnitten.

CW. Erinnere mich nachher mal an Fisch.

MC. Okay.

CW. 

MC.

Halbe Stunde später.

MC. Fisch.

CW. Weißt Du, was es angeblich auch nicht mehr gibt in Argentinien? Heringe!

MC. Gab’s die schon mal?

CW. Ich meine: fürs Zelt.

♦♦♦♦♦♦

CW. Übrigens, so sieht der Seifenspender in der Besuchertoilette der Casa Rosada aus:

Seifenspender in der Casa Rosada

MC. Nä!! Ne??

CW. Doch! Und gestunken hat das Klo.

MC. Wundert Dich das?

Der Herausgeber, der Karrierist und das Zeugnis

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten.

♦♦♦♦♦

CW. Es kann doch nicht sein, dass in diesem Land sechs Klopapierrollen (einlagig!) umgerechnet fünf Euro kosten.

MC. Das nennt man Inflation, der Herr, und davon haben wir doch 40 Prozent. Es kann aber auch nicht sein, dass jede fünfte Rolle (doppellagig) so scheiße konfiguriert ist, dass sie nicht richtig abrollt.

CW. Wir sollten auf das Regierungsblatt Página/12 umsteigen. Ist erstens ein politisches Statement und zweitens billiger.

MC. Und drittens: sanfter.

CW. Mein Laptop macht mir auch gerade Sorgen. Der Akku funktioniert nicht mehr.

MC. Nicht gut! Vor allem, weil Stromausfälle ja nicht unbedingt selten sind in Argentinien.

CW. Ich hatte das Ding einem Bekannten in Buenos Aires gegeben, damit er es ein bisschen updatet und einige Programme installiert. Da hat er wohl meinen funktionierenden Akku gegen ein kaputten ausgetauscht. Ganz schön frech, oder?

MC. Dein Land! Deine Leute!

Zertifikat

 

 

CW. Dafür habe ich mein Portemonnaie nicht verloren.

MC. Bitte, was?

CW. Es war mir im Kiosk aus der Tasche gefallen, hab’s natürlich erst ’ne halbe Stunde später gemerkt.

MC. Für argentinische Verhältnisse also relativ schnell.

CW. Der Kioskbesitzer hatte inzwischen versucht, meine Adresse rauszukriegen.

MC. Echt?

CW. Wir Argentinier sind halt ehrliche Leute.

MC. Muahahahahaha. Der war gut!

CW. So hat der Kioskbesitzer auch auf den Satz reagiert.

MC. Guter Mann!

CW. Ich bin übrigens wieder Student. Diesmal an der Universität von Buenos Aires. Ein PR-Kurs.

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

MC. Aber Marketing kannst Du doch schon.

CW. Ich kann ja praktisch alles. Aber die Chefin will Zeugnisse und Zertifikate sehen.

MC. Das klingt nach Abschlusspflicht. Aber Intellektuelle Deines Kalibers haben nie ein Zeugnis. Nie! Das wäre rufschädigend.

CW. Und mein guter Ruf darf auf keinen Fall Schaden nehmen.

MC. Ich hatte immer nur die besten Zeugnisse, und was habe ich heute davon? Also, pass auf: Ich schreibe Dir etwas, und zwar endlich mal gegen Geld. Nämlich ein Zeugnis.

CW. Großartig!

MC. Dir sollte allerdings klar sein, dass Deine Frau alles rausbekommt und angemessen empört sein wird.

CW. Von mir erfährt sie nix.

MC. Natürlich nicht! Als guter Argentinier bist Du ja auch vollkommen uneinsichtig. Also um genau zu sein: Zunächst wirst Du alles abstreiten, und zwar über Tage, solange es geht. Damit alles noch schlimmer wird. Und dann erst bist Du uneinsichtig.

CW. Und am Ende sage ich: Das war seine Idee.

MC. Ich merke: Wir verstehen uns.

Die Nach-WM-Blues-Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

CW. Ich fliege dann mal für ein paar Wochen nach Deutschland, ja? Mit Familie.

MC. Das ist böse! Was soll ich denn jetzt machen? Ohne WM? Und ohne Deine unqualifizierten Kommentare? Noch nicht mal argentinischen Fußball gibt’s. Das wird blöd.

CW. Ich falle ja mit Dir in ein tiefes schwarzes Loch.

MC. Doch eher in ein weiß-himmelblaues! Aber nur, wenn Du Dein Argentinientrikot inzwischen gewaschen hast.

Trikothund

CW. Das Leben ist für die nächsten vier Jahre vollkommen sinnlos. Vier! Jahre! Mindestens. Eher mehr. Denn WM 2018 in Russland wird schlimm. Katar 2022 auch. Also 2026!

MC. Ecuador, Peru und Kolumbien wollen die WM ja angeblich gemeinsam machen. Dann sind wir wieder am Start!

CW. Danü kann schon mal ein Logo fürs WM-Tagebuch entwerfen.

MC. Da dann Opa Klose immer noch der einzige echte deutsche Stürmer sein wird, verlange ich, dass er grafisch besonders gewürdigt wird! Zumal er voraussichtlich sein 25. WM-Tor schießen wird. Und Fifa-Chef Sepp ist dann, lass mich rechnen, Jahrgang 1936, neunzig. Der gehört selbstverständlich in einen Rollstuhl! Mit Brillanten auf den Speichen! Nur der kleine Vizeweltmeister da rechts – der wird durch den kleinen Weltmeister-Kapitän ersetzt!

CW. Wir könnten 2025 vielleicht schon mal eine Komödie raushauen.

MC. Auch Pablo sollte jetzt schon wissen, dass er die Eintrittskarten fürs letzte Testspiel besorgen muss. Nicht, dass das wieder so eine Zitterpartie wird.

CW. Pablo treffen wir sowieso im Loch, glaube ich.

MC. Oh je, mit zwei argentinischen Vizeweltmeistern im Loch, ich weiß ja nicht. Da bluten mir die Ohren, weil jeder dem anderen dauernd erzählt, warum Ihr diesmal verloren habt. Schiri?

CW. Die blauen Trikots!

Der Ticker zum WM-Finale: Dem Diego Maradona su Wetter

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonnabend, 12. Juli, 10.30 Uhr

CW Buenas! Cómo andan, gente? Wir melden uns aus Buenos Aires und haben Großes vor, vielleicht auch nur Kleines, aber das würden wir niemals zugeben. Marc Koch und ich versprechen beim Heiligen aller Zauberkünstler, Diego Maradona, die Zeit bis zum Finale der Weltmeisterschaft halbwegs sinnvoll zu verplempern. Vor allem wollen wir uns selbst ablenken – von Langeweile und innerer Unruhe. Hätten wir einen Redaktionsbus, stünde draußen drauf die Parole: »13. Juli 2014 – Maracanã – Bereit wie nie. – Kann man das Finale einen Tag vorziehen?«

Es lohnt sich, heute und morgen immer mal wieder hier vorbeizuschauen. Wir werden tickern, was wir hören, sehen, lesen und erleben. Applaus, Lob und Blumen, Werbeverträge, Kuscheltiere, Telefonnummern und Heiratsanträge sind erwünscht. Fragen, Kritik und Kommentare natürlich auch. Nicht alles wird uns gelingen. Aber mehr über Argentinien vor dem Finale als hier erfahren Sie bei ARD und ZDF ja auch nicht. Jedenfalls habe ich aufgeschnappt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen doch sehr auf die deutsche Elf konzentrieren.

 

 

Blick auf die Uhr, das rechnen wir jetzt schnell im Kopf aus, ¡vamos!, ähm, tja, nein, wir nehmen doch besser die Finger zu Hilfe: noch 24 plus eins, zwei, drei, vier, fünf, fünfeinhalb Stunden. Also 29einhalb Stunden bis zum Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien.

11.15

CW. Ich schnuppere gerade an meinem Argentinientrikot. Gegen Bosnien am 15. Juno hatte ich es zum ersten Mal an, danach bei jedem anderen Spiel meiner Lieblinge. Sechsmal. Gewaschen wurde es in den vergangenen vier Wochen natürlich nicht, wir Argentinier sind ja abergläubisch. Sollte ich mir morgen vielleicht ein Duftbäumchen (Vanille oder Flieder) umhängen? Ja, sagt die Nase, unbedingt.

11.46

CW. Meine Familie ist übrigens gespalten. Die Frau hält zu Deutschland, der Achtjährige wohl auch, Argentinien ist nur seine zweitliebste Mannschaft. Vielleicht schaffe ich es aber noch, ihn umzudrehen, er wackelt, und ich kann gut verunsichern. Noch am Mittwoch nach dem Halbfinale gegen Holland hatte er auf dem Heimweg verkündet, im Endspiel beiden Teams die Daumen zu drücken. Kinder, pffffff, also wirklich. Am nächsten Tag war er dann wieder bei Deutschland; der aktuelle Stand ist: Er kann auch mit dem Weltmeister Argentinien einigermaßen leben.

Wo steckt eigentlich mein Kollege? Er sollte mich ja irgendwann ablösen, weil ich jetzt ein paar Stunden mit den Kindern unterwegs bin. Wir arbeiten im Schichtbetrieb. Das hat zum einen zeitökonomische Gründe. Zum anderen haben wir nach vier Wochen WM Lagerkoller. Der eine will dem anderen nur begegnen, wenn es unbedingt sein muss. Ich bin letzte Nacht über den Zaun geklettert und habe in der Stadt einen draufgemacht.

Unser Deutscher hat sich wahrscheinlich in der Toilette eingeschlossen. Seine Angst vor Argentinien ist gewaltig, aber psssssssst.

12.40

MC. Haha! Der Chefreporter hier! Kürzel: MC! Lustig, der Herausgeber, oder!? Geht Angstshoppen! Steht also in diesem Hypermarkt in unserem Viertel. Sein kleiner Sohn muss den Einkaufskarren mit Tiefkühlpizza und Quilmes beladen. Währenddessen steht CW vor der Sonderfläche mit weiß-himmelblauen Fanartikeln und überlegt sich, wie er seiner Frau beibringen soll, dass er schon wieder einen Haufen Pesos für den Plunder ausgegeben hat, der am Montag von bolivianischen Altplastikhändlern eingesammelt wird.

13.09

MC. Typisch wieder: Seit Monaten erzählt CW, dass »wir«(also: »er«. Also die Argentinier) Weltmeister werden. Und jetzt, keine 36 Stunden vor dem Finale, geht er EINKAUFEN! Macht sich aus dem Staub. Und ich wieder Sonderschicht. Ohne Bezahlung. Das Honorar geht wahrscheinlich wieder an die im Liegen bloggenden Edelfedern. Dabei zeigt ihm das argentinische Mittelfeldchefchen Mascherano doch, wie man seinen Mann steht: Dem gibt man ne Knarre, und er holt die Malwinen Falklands alleine zurück!

13.15

MC. Immerhin steht CW zu seiner Albiceleste in guten und in schlechten Zeiten. Kann man nicht von allen behaupten: Die hiesige Regierung schickt keinen Repräsentanten zum Finale. Sie wollen ihnen kein Pech bringen. Und so richtig mit Tschingderassabum und Trommeln wird das Team am Montag nur empfangen, wenn es Weltmeister ist. Also nicht.

14.15

MC. Die Wetteraussichten für den Finalsonntag in Buenos Aires. Rudelgucker, aufgepasst: Sieht nicht gut aus. Fritz-Walter-Wetter!

14.32

MC. Vor dem Finale der Männer: Das Frauenfinale. Merkel vs. Cristina. Smokey Eyes gegen Naturlook. Uckermark gegen La Plata. Weltmeisterin gegen Vizeweltmeisterin. So oder so.

14.51

MC. Das Spiel um Platz 3. #NEDBRA. Wird zwei, drei Stunden später angepfiffen: Die Brasilianer müssen noch ihr Tor aufräumen.

Das brasilianische Tor

15.20

MC. Alter, CW hat sie nicht mehr alle! Weil sie auf der Sonderverkaufsfläche im Hypermarkt seines Vertrauens kein Mascherano-Trikot in XXL hatten (seit er mehr Fußball guckt als spielt, hat er zugenommen!), ist er jetzt extra nach Caballito gerammelt. Das ist ein Stadtteil. Und dort, im Parque Rivadavia, gibt es noch Fanartikel. Sicher hat er wieder in die Haushaltskasse gegriffen, während seine Gattin ihre wohlverdiente Siesta gehalten hat.

parque rivadavia 2

MC. Dabei gibt es in diesem Park ausnehmend schöne Statuen zu sehen. Aber für sowas hat ein argentinischer Fußballfan ja kein Auge…

Parque Rivadavia

15.58

MC. In Buenos Aires schüttet es in Strömen, gleich wird dann doch #NEDBRA angepfiffen, verhaltensauffällige junge Argentinier hupen und tröten auf der Straße rum. Da muss ich, vor meinem brabbelnden Kamin, doch gleich an den großen Eric Meiijer denken und den jungen Leuten da unten (und CW natürlich auch!) zurufen: »Nichts ist scheißer als Platz 2!«

16.06

MC. Doch. Arjen Robben fällt ein, dass es doch noch was Scheißeres als Platz 2 gibt. Gleich mehr dazu aus Brasilia…

16.21

CW. Mann, Mann, Mann, sieht das hier aus. Da gibt man dem Chefreporter die Schlüssel und muss hinterher erst mal aufräumen. Hässliche Anführungsstriche. Kleine Bilder. Falsch positionierte Kürzel. Ans Telefon geht er natürlich nicht. Bin gleich wieder da.

16.27

CW. Nichts als Ausreden. Schlimmer als jeder Argentinier. Na ja, Journalist.

Auch interessant: was man erfährt, wenn man mit dem Sohn im Auto unterwegs ist. Die Familie hat doch heute Morgen unsere zwei Meerschweinchen zu Freunden gebracht, weil wir ja am Montag für ein paar Wochen nach Deutschland fliegen. Ja, gleich am Montag, zu diesem Thema kommen wir später. Jedenfalls berichtete der Achtjährige, wie sich seine Mama und die Mama seines Schulfreundes gemeinsam über die Väter ihrer Söhne aufgeregt hätten. Weil die – also wir, Jorge und ich – seit Wochen nix anderes als Fußball im Kopf haben.

»Mama ist froh, wenn die WM morgen vorbei ist. Und die Mama von Facu auch.«

»Deine Mama weiß aber nicht, dass ich eine Woche sehr traurig sein werde, falls Argentinien verliert. Und wenn Argentinien gewinnt: das restliche Leben sehr glücklich. Dann werde ich mir ab und zu frei nehmen, um übers Wasser zu laufen.«

»Übers Wasser kann man nicht laufen, Papa.«

»Ein Argentinier dann schon.«

 16.45

CW.  Apropos Mascherano: Der dementiert heute in Olé, Argentiniens großer Sportzeitung. »Ich bin nicht Rambo«, sagt er im InterviewSan Martín will er auch nicht sein. Hübsche Analogie. Nordamerikanischer Befreiungskämpfer mit fünf Buchstaben? Rambo.

Rambo MasChe

17.20

CW. Mascherano ist laut Olé übrigens nicht der beste Spieler des Turniers. Sein Olé-Notendurchschnitt: 7,5 (von 10). Hier die Noten der anderen Spieler, die die Fifa nominiert hat:

  • Robben: 8,2
  • James Rodriguez: 7,9
  • Thomas Müller: 7,4
  • Mats Hummels: 7,1
  • Toni Kroos und Philipp Lahm: 7,0
  • Neymar: 6,7.
  • Messi ist nominiert, aber seine Note finde ich nicht in der Zeitung. Wahrscheinlich: 12,9.

17.31

CW. Der Chefreporter guckt das Spiel um Platz 3 und fragt per Mail: »Ist Heulen eigentlich eine brasilianische Kulturtechnik?«

17.43

CW. Wenn uns jemand von einem Boten zweimal 120 000 Peso (in großen Scheinen!) vorbeibringen ließe, könnten wir noch schnell nach Río de Janeiro düsen. So viel, umgerechnet 11 000 Euro, soll ein Finalticket auf dem Schwarzmarkt maximal kosten. Wir würden natürlich hart verhandeln und uns auch mit Kurve begnügen. Unsere Spesenabrechnung reichen wir nächste Woche nach.

17.45

CW. Wir warten.

17.55 CW. Und wer mir eine echte Freude machen will, der kaufe bitte diesen hübschen Sessel zum Schnäppchenpreis von 2300 Peso:

Sessel

Hoppla, soeben fällt mir ein, dass ich ja versprochen habe, mich tätowieren zu lassen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Glatze obendrein, behauptet mein Sohn. ¡Vamos Alemania, carajo!

18.03

CW.  Die Deutschen greifen aber auch zu allen Mitteln. Gerade habe ich die Frau dabei ertappt, wie sie Sohnemanns weiß-himmelblauen Trainingsanzug in die Waschmaschine stecken wollte. Der hat uns doch so viel Glück gebracht am Mittwoch im Elfmeterschießen. Ich frage mich, wie es die Frau geschafft hat, dass er das Ding auszieht. Er war damit zwei Tage in der Schule, er schläft darin, ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zwei zusammen baden.

1.03

CW. Rätselhafter Satz in der Süddeutschen Zeitung: »Der Mann mit der Alfredo-Di-Stéfano-Gedächtnisfrisur ist der heimliche Chef in der argentinischen Kabine, was auch daran liegen könnte, dass er vergleichsweise unfallfrei spricht.«

Ich frage mal den Chefreporter, was das heißen soll.

»Meinen sie Dich? Oder den Trainer?«

Nein, Pablo Zabaleta. Die Unverzichtbarkeit des Rechtsverteidigers hat sich mir in sechs Partien nicht erschlossen. Ein paar Mal habe ich sogar schon nach zehn Minuten seine Auswechslung gefordert.

Ich mache für heute mal das Licht aus.

*****

Sonntag, 13. Juli 2014

7.51 Uhr

CW. Buenas! Todo tranquilo? Seit gestern regnet es in Buenos Aires, aber der Morgenkaffee hat weniger bitter geschmeckt als sonst. Ein guter Tag wird das! ¡Vamos Argentina, carajo!

»Todo depende de Messi«, hatte es vor dem Turnier in Argentinien geheißen, von Messi hängt alles ab. Und weil wir aus tiefer Bewunderung Argentiniern alles nachplappern, stand der Satz auch bei uns. Und es stimmte doch: In der Vorrunde schoss der Kapitän Tore und führte seine Mannschaft zum Gruppensieg. Mittlerweile aber überzeugt das Kollektiv. Der Schriftsteller und Fußballpoet Eduardo Sacheri (den wir selbstverständlich bewundern und lesen und dann wieder bewundern usw. usf.), Sacheri sagt heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Argentiniern sei »das Teamdenken schon immer schwergefallen: Als Gesellschaft sind wir individualistisch, chaotisch und ziemlich undiszipliniert. Und so spielen wir auch Fußball«. Im Verlaufe des Turnier allerdings habe sich die Albiceleste jedoch erstaunlich entwickelt. »Unser neuer Stil ist solidarisch, geordnet, geduldig.«

Sacheri tippt übrigens – ich sage doch: guter Mann – auf Sieg ohne Elfmeterschießen. Plappern wir gleich nach.

Und Ihr? Geht’s rein und lest’s Sacheri. Seinen Roman »Papeles en el viento« gibt es – wir sind schlauer als Wikipedia – seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch. Titel: »Vier Jungs auf einem Foto«. Eine herrlich absurde Geschichte.

8.07

CW. Vielleicht verdeutlicht das ein bisschen den Stellenwert, den der Fußball in Argentinien hat: Supermärkte sind hierzulande das ganze Jahr über geöffnet, auch an den beiden Nationalfeiertagen (25. Mai und 9. Juli), auch an Weihnachten und Ostern. Heute schließen sie um 13 Uhr unserer Zeit, drei Stunden vor dem Anpfiff des Endspiels. Dann werden auch wir hier einpacken und aufbrechen in Richtung Obelisk. Dort irgendwo versuchen wir dann, einen Tisch zu blockieren. Im Café habe ich neulich mit meinem Sohn das Elfmeterschießen gegen Holland gewonnen, davon können wir jetzt nicht mehr abweichen. Man muss nur früh genug da sein; denn das Café ist einer der Orte, an denen sich der Argentinier besonders wohl fühlt.

Halbfinale 7

Um sieben, halb acht – kein Elfmeterschießen, nein – strömen wir hinaus auf die Avenida 9 de Julio, die breiteste der Welt, und feiern mit Hunderttausenden, nein, wahrscheinlich zwei bis drei Millionen, den dritten Weltmeistertitel.

Ein guter Plan.

8.19

CW. Falls Sie den Chefreporter vermissen: Der hat sich im Abschlusstraining den Zeigefinger gezerrt und will sich nicht fitspritzen lassen. Der ist heute rund um die Uhr für die Deutsche Welle im Einsatz. Ich soll ganz lieb grüßen.

8.40

La Nación, die zweitgrößte Zeitung des Landes, hat den Argentiniern einige der unheimlich witzigen Fantasie-Schlagzeilen von Deutschlands größtem Hetz- und Dreckblatt übersetzt. »Franziskus tritt aus Scham zurück« – »El papa Francisco abdica de la vergüenza«.  Unter dem Text kommentiert einer: »Die Deutschen machen sichere Pläne – und Gott lacht hinter ihrem Rücken. Sie wissen, wie viele Äpfel am Baum hängen. Aber nur Gott weiß, wie viele Äpfel ein Saatkorn gibt.«

9.20

CW. Wenn wir Weltmeister werden, wird es sehrsehrsehr bitter: Am Montag landet die Mannschaft in Buenos Aires, und ich hebe nach Europa ab. Der jährliche Sommerurlaub. Ich hatte schon vor einem Jahr am Esstisch verkündet: »Ich will die WM in Argentinien erleben! Wir fliegen nach dem Endspiel! Argentinien wird Weltmeister!«

So wurde Montag, der Tag nach der WM, gebucht. Vielleicht hätte ich dazusagen sollen: Ein Land feiert so einen Titel und empfängt seine Helden.

Wie es feiern wird! Am Obelisken und überall! Und ich sitze im Flugzeug nach Amsterdam.

9.27

CW. Genial.

 

9.40

CW. Frage an die Experten: Was machen diese Leute hier in Buenos Aires?

Panini-Tausch

Antwort: Sie tauschen Paninibilder.

Zehn Schritte weiter habe ich mich gestern noch abergläubisch verstärkt und für umgerechnet drei Euro bei einem Straßenhändler diesen schönen Rosenkranz mit Papstanhänger gekauft. »Rosenkranz« heißt auf Spanisch übrigens »rosario«, ja, genau wie die drittgrößte Stadt Argentiniens, in der unter anderem Che Guevara, Leo Messi und die drei berühmten Trainer César Luis Menotti, Marcelo Bielsa und Gerardo Martino geboren … ach ja, hatten wir schon.

Rosario mit papa

9.55

CW.  Eine Mail von vorgestern aus Alemania:

Lieber Christoph!

Soeben habe ich aus der Zeitung erfahren, dass in Brasilien eine Großveranstaltung läuft, deren Sinn darin besteht, eineinhalb Stunden lang Lederkugeln in auf Holzrahmen gespannte Fischernetze zu schießen. Als ich weiter las, erfuhr ich, dass die besten zweiundzwanzig Männer aus Argentinien und Deutschland kommen, und dass in den nächsten Tagen die allerbesten elf Männer durch weitere Schüsse in die Fischernetze ermittelt werden.

Beim Lesen dachte ich sofort an Dich. Denn ich meine mich erinnern zu können, dass Du mit großer Begeisterung solche Lederkugelinsfischernetzwettkämpfe verfolgst.

Und da Du ja nun seit einiger Zeit in Argentinien bist, dachte ich, dass Du nun wohl hin und her gerissen sein musst, welcher Gruppe der Lederkugelspieler Du die meisten Schüsse in die Fischernetze wünschen sollst. So wünsche ich Dir trotz dieses Zwiespaltes einen spannenden Endkampf.

Die WM bekommt nicht nur mir nicht.

Noch sechs Stunden. ¡Vamos Argentina, carajo!

Übrigens: kein Regen mehr. Sonnenschein. Dem Diego Maradona su Wetter.

10.23

CW. Relativiert das holländische Dreinull gegen Brasiliens Zehnkampfnationalmannschaft von gestern Abend eigentlich das 7:1 der Deutschen im Halbfinale? Die Frau kam ja von diesem Spiel ganz begeistert nach Hause und fragte, ob ich schon mal dieses tolle Lied gehört hätte. Dann sang sie: »Oh, wie ist das schön.« Natürlich, das Lied wurde schon gesungen, als Uwe Seeler noch spielte. Aber wie sollte ich ihr das sagen? Den kennt sie doch gar nicht.

Wir haben auch die geileren Lieder.

 

Kurze Pause. Muss Olé kaufen.

11.25

CW. Der Oléverkäufer hier im Viertel hat mir gerade die Ohren lang gezogen, weil ich für Argentinien bin. »Patriotismus ist kein Geschäft. Man leugnet nicht sein Vaterland.« Als er nach 15 Minuten beim Wählen als demokratische Pflicht landete, musste ich wirklich los.

11.29

CW. Mein Freund Vicente, der klügste Argentinier unter 30, schickt eine SMS:

Buen día!!! Me levanté de muy buen humor. Ganamos 2:0. – Guten Tag!!! Ich bin mit sehr guter Laune aufgestanden. Wir gewinnen 2:0.

11.50

CW. Ich habe Vicente mal gefragt, welches Bild die Argentinier von Deutschen und Deutschland haben. Hier seine Antwort, die ich übersetzt habe:

Argentinische Oberschicht: hält die Deutschen für sehr gut gebildet und geschäftstüchtig; denkt bei Deutschland an die großen Denker und die bedeutende Kultur; Deutschland ist für diese Argentinier ein Vorbild, das Ideal eines Landes.

Argentinische Mittelschicht/Arbeitklasse: hält die Deutschen für pedantisch, gewissenhaft und extremst pünktlich; kennt bestimmte Marken wie Mercedes und BWM, ohne genau zu wissen, wo die hergestellt werden; verbindet mit Deutschland Strudel oder etwas anderes typisch Deutsches.

Argentinische Unterschicht: hält alle Deutschen für blond, groß und dünn; denkt bei Deutschland an Bier und neuerdings auch an Fußball.

(Hinweis von mir: In Argentinien geht man unbefangener mit dem Schichten-Begriff um.)

12.10

CW. Angestachelt von ihrer Mutter, provozieren die Kinder.

Vizeweltmeisterfahne

12.15

CW. Wie gut hat es unser Chefreporter: Der dreht schon den ganzen Tag unter Argentiniern. Ist bestimmt lustig, oder?

MC. Ja. Lustig. Die haben das Gleiche genommen wie Du. Sie glauben, sie seien Weltmeister.

12.40

CW. Wir kommen allmählich zum Schluss, ich muss los. Ich treffe mich um 14 Uhr unserer Zeit, zwei Stunden vor dem Anpfiff, mit Cristian am Obelisken. Cristian und ich sind im vergangenen Oktober mit zwei Millionen anderen Irren 70 Kilometer von Buenos Aires nach Luján gepilgert, zur Heiligen Jungfrau. Start morgens um halb elf, Ankunft kurz vor halb drei nachts. Ich wollte die Geschichte immer mal erzählen, hatte sie schon fast fertig, dann fiel ein Buch auf den Laptop und zerstörte die Festplatte. Kein Backup, natürlich nicht.

Wallfahrt 3

Wallfahrt 2  Wallfahrt

Wallfahrt 4

Mit Cristian

12.47

CW. Helge, unser Freund vom Blog Me llaman Jorge, hat an uns gedacht und einen wunderbaren Text geschickt, der auf Facebook unterwegs ist. Man kann ihn leider nicht ins Deutsche übersetzen. Es ist eine Erzählung, in der die Namen der argentinischen Nationalspieler ähnliche Wörter ersetzen. Man versteht es erstaunlicherweise trotzdem.

Hoy me desperté Mascherano q nunca, Higuaín q todos los dias, me Lavezzi la cara, me puse las Zabaleta, me preparé el mate con unas hojitas de Romero. Elegí al azar una página de la Biglia q hablaba Dimaria y del Messias, Basanta palabra!!! Me puse mi gran saco Rojo, para salir y me pareció q tenía un Agüero en la manga, Garay q susto!!! No era nada.. En la esquina estaba un Campagnaro querido q Andujar siempre en un Orion, nos desencontramos! Por telefono le dije: te pedi q mes Perez alli!!! Por suerte Rodriguez el del Maxikiosco, le hizo una seña y nos encontramos finalmente frente al Palacio. Mas tarde, café de por medio, le dije entre otras cosas: – mira; no me Gago ante los alemanes… el domingo ganamos, SABELLAAA!!!!

¡Vamos Argentina, carajo!

¡Hasta luego. ¡Nos vemos! Beso grande.

Die hochspekulative Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

*****

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten und plaudern über Fußball und den Rest.

CW. Wann spielt der nächste Weltmeister sein Viertelfinale? Sonnabendmittag? (Erbitte argentinische Anstoßzeit.)

MC. Freitag um fünf.

CW. Hahaha. Jetzt auch Kolumbianer, he?

MC. Klar! Oder Belgier. Alle anderen können gehen.

CW. Du warst ja auch schon Holländer, Chilene und Franzose.

MC. Nur für einzelne Spiele. Es muss verhindert werden, dass der hässliche Fußball Weltmeister wird. Um jeden Preis.

CW. Ein Idealist. Ein Schöngeist. Wie putzig! Ich komme gleich zum Streicheln vorbei.

MC. Aber zieh Dir vorher ein sauberes Trikot an!

CW. Argentinien hat alle Spiele gewonnen. Ich darf nicht waschen. Bringt Unglück.

MC. Wir brauchen übrigens einen Plan.

CW. Fürs Leben?

MC. Nein. Vielleicht doch. Ja, bestimmt. Ich meine aber: fürs Viertelfinale. Wir müssen reagieren, wenn Deutschland, Brasilien und Argentinien rausfliegen. Wer macht wen fertig?

CW. Puh.

MC. Als der authentische Argentinier, der Du ja bist, müsstest Du natürlich Deinen Jungs umgehend in den Rücken fallen. Wenn sie gegen Belgien am Sonnabend verlieren …

CW. … dann war mir das spätestens vor einer Woche längst klar.

MC. Zu spät! Viel zu spät! Du hast nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

CW. Ich habe nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

MC. Gut so. Ich nehme an, Brasilien machst Du dann gleich mit fertig.

CW. Ehrensache.

MC. Dann bin ich der deutsche Stammtisch. Wir sollten überlegen, wie wir das anpacken. Es soll ja originell werden.

CW. Was können wir, was die anderen nicht können? Was haben wir, was die anderen nicht haben? Wie sind wir? Und wie sind die anderen nicht?

MC. Wir sind schnell. Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie. Mehr?

Die Pseudoexpertenkomödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten und plaudern über Fußball und den Rest. 

ERSTER AKT

MC. Traumfinale Costa Rica gegen Algerien ist immer noch möglich!

CW. Was wäre dagegen schon Argentinien gegen Brasilien?

MC. Jeder Klassiker wird irgendwann geboren.

CW. Seltsam.

MC. Was?

CW. Irgendwie ist heute kein Unterricht an der Uni.

MC. Nuscheln wieder alle?

CW. Nein. Ich bin allein im Raum 5.5. Und er ist dunkel. Ich gehe mal fragen.

MC. Gute Idee.

MC. Und?

CW. Ich wollte fragen, war aber gleich überfordert von der Frage, ob ich auf Karriere studiere oder ejecutivo … programa … grado … irgendwas anderes halt. Also, Karriere auf keinen Fall. Das andere dann.

MC. Das ist doch die richtige Antwort!

CW. Natürlich. Aber der Typ von der Information war nicht sonderlich hilfsbereit. Ich wusste ja auch nicht mal den Titel des Kurses.

MC. Marketing. Bei Sergio. Raum 5.5.

CW. Habe ich auch gesagt. Nix.

MC. Dann war’s kein Argentinier. Ein Argentinier antwortet immer. Ehe Dir ein Argentinier keine Antwort gibt, gibt er Dir lieber eine falsche. Aber ganz tolle Menschen. Immer sooooooooooooo hilfsbereit. Übrigens: Wie heißt die Hauptstadt von Costa Rica, ich komme gerade nicht drauf?

CW. Ähm. Managua.

MC. Danke, Du hast den Test bestanden.

*****

ZWEITER AKT

CW. Ich muss Dir was gestehen.

MC. Ich höre.

CW. Bei der WM 1990 war ich gegen Argentinien.

MC. Gibt Schlimmeres.

CW. Ich war für Italien.

MC. Bitte? Waaaaaaaaaas?

CW. Wegen Toto Schillaci.

 

MC. MAN IST NIEMALS FÜR ITALIEN!

CW. Ich war zwölf. Und Ossi. Ein zwölfjähriger Ossi aus einer Kleinstadt.

MC. MAN IST VIELLEICHT MANCHMAL NICHT GEGEN ITALIEN. VIELLEICHT! MANCHMAL!

CW. Ich kann übrigens die deutsche Mannschaft nicht mehr angucken.

MC. Jetzt übertreibst Du es aber mit Deiner Argentinisierung.

CW. Ist mir zu akademisch, das deutsche Spiel.

MC. Dir fließt natürlich nicht genug Blut.

CW. Fußball ist: unsaubere Grätsche, schmutziges Trikot, große Eier.

MC. Müller. Müller hat Eier.

CW. Aber im Sturm fehlt eindeutig der Typ Hrubesch.

MC. In welchem Sturm?

CW. Du musst das ganzheitlicher betrachten. Im modernen Fußball gibt es keine festen Positionen mehr. Manuel Neuer ist sozusagen die hängendste Spitze. Verstehst Du?

MC. Das sagt die Fleisch gewordene Blutgrätsche, die den mitspielenden Torwart für eine Erfindung von Mario Basler hält? Damit er weniger laufen musste?

CW. An Mats Hummels wird der Streit zwischen seiner Freundin Cathy Fischer und der Ex von Ballack auch nicht spurlos vorbeigehen. Wahrscheinlich hat der Teampsychologe nicht mal mehr Termine frei für die anderen. Armer Poldi.

MC. Die Albträume fürchten Poldi. Poldi therapiert sich selbst. Bei Poldi liegt der Psychologe auf der Couch.

CW. Prognose für Deutschland?

MC. Es reicht für die schwächeren Teams, also USA, Argentinien oder Brasilien. Aber für Frankreich, Kolumbien oder Holland? Ich weiß ja nicht.

CW. Hast Du gerade Argentinien zu den schwächeren Teams gezählt? Meine Argentinier haben bisher geblufft.

MC. Das machen sie ja am liebsten. Und das haben sie mit unserem Beruf gemeinsam. Deswegen mögen wir sie ja auch so.

*****

DRITTER AKT

CW. Schön, dass Brasilien weiter ist.

MC. Seit zwei Wochen erzählst Du mir, dass Du die Mannschaft, nein: das ganze Land nicht leiden kannst – mit Ausnahme der Brasilianerinnen.

CW. Weil ich ein guter Argentinier bin. Und weil Diego nun mal viel größer ist als Pelé.

MC. Du wirst doch nicht den dicken Lügner mit Pelé-Fußballgott vergleichen wollen!? Und warum bist Du jetzt für Brasilien?

 

CW. Ich habe nachgedacht: Brasilien erreicht das Finale, natürlich total unverdient. Sie spielen mies, richtig mies, kommen aber jedes Mal weiter. Tore nach Ecken. Tore nach Elfmetern. Tore nach Neymar. Aber dann werden sie im Endspiel von Argentinien – endlich! – kaltgemacht. Die ganze Welt wird uns lieben, verehren, bewundern. Wie wir es verdient haben.

MC. Mieser Taktiker! Opportunist!

CW. In Deutschland werden Neugeborene nach mir benannt.

MC. Hebamme: »Na, wie heißt er denn, unser kleiner Fratz?« – Mutter, noch keuchend: »CW.« – Hebamme (zu sich selbst): »Schon der Vierte heute, und nebenan in der Wanne wird auch noch gehechelt.«

CW. Straßen auch.

MC. Straßen natürlich auch. In Niederndodeleben.Und in La Boca: »Calle de la madre que le parió a CW«.1 Hat ja schon mal nicht geklappt! Aber erst, wenn Dein Sohn seinen Erbteil auf Kokspartys in Rosario durchgebracht hat, während Du in Hamburg-Lokstedt aufm Armenfriedhof liegst. Und genau dann werde ich mit Deiner Biografie – trimedial! – Bestsellerautor.

CW. Titel?

MC. Wesemann: Autor. Vater. Fußballer. Als E-book, DVD und Buch. Auch im Geschenkschuber.

CW. Nicht weniger als 800 Seiten! Besser 1000. Wirkt sonst zu komprimiert, mein Leben.

MC. Du musst mir natürlich die Manuskripte und Briefwechsel überlassen.

CW. Ich gucke jetzt mal Holland gegen Mexiko und studiere Argentiniens überübernächsten Gegner.

MC. Das wäre ein geiles Halbfinale!

CW. Aber kein leichtes.

MC. Sicher.

CW. Unangenehm zu spielen.

MC. Oh ja!

CW. Sind gut drauf.

MC. Das kannst Du laut sagen.

CW. Verrückter Trainer.

MC. Sehr verrückt.

CW. Sehr guter Torhüter.

MC. Ja, auch.

CW. Die dicken Männer mit den Riesenhüten nerven natürlich.

MC. Wie bitte?

CW. Und die Schnurrbärte – auch die Frauen.

MC. Häh?

CW. Tequila könnte ich auch mal wieder trinken.

MC. Zum Teufel: Wovon redest Du?

CW. Mexiko!

  1. »Straße zu Ehren der Mutter, die CW gebar« []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)