Archiv für das Thema ‘Fußball’

Ich war Emilio (und mein Sohn dessen Bruder)

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn und ich sind mal wieder bei Boca gewesen. Irgendwann haben wir nämlich beschlossen, dass wir jede Gelegenheit nutzen, ein Spiel in der Bombonera, der weltberühmten Pralinenschachtel, zu erleben. Eintrittskarten werden ja nicht verkauft, zumindest offiziell nicht. Nur Vereinsmitglieder dürfen ins Stadion, und Vereinsmitglieder hat der Club Atlético Boca Juniors reichlich: mehr als 100 000. In die Bombonera passen allerdings nur halb so viele. Außerdem gibt es noch eine Warteliste mit 60 000 Leuten, von denen Jahr für Jahr 2000 aufgenommen werden.

La Bombonera, eine Stunde vor dem Anpfiff

Würde ich mich jetzt hinten anstellen, könnte ich als frischer Rentner locker zu jedem Heimspiel rennen und mir von meinem Sohn, der 2044 ungefähr so alt wäre wie ich heute, alle Choripanes zurückzahlen lassen, die einst ich ihm spendiert habe. Und bestimmt hat Boca dann auch wieder eine richtige Mannschaft.

Als Nichtmitglied hat man übrigens drei Möglichkeiten, ein Spiel in der Bombonera zu besuchen. Erstens kann man über eine Agentur teure Karten erwerben und ist dann unter Touristen. Dann lassen sich, zweitens, auf dem Schwarzmarkt vor dem Stadion welche beschaffen, wobei die Verkäufer mit dem Prädikat »zwielichtig« nur unzureichend beschrieben sind und ihren Kunden gern gefälschte Tickets andrehen. Oder, drittens, man kennt jemanden, der Boca angehört, aber keine Zeit oder keine Lust hat, das Spiel zu gucken, und deshalb seinen Mitgliedsausweis verleiht.

 

So machen der Sohn und ich das. Ich war diesmal Emilio. Ich kannte Emilio vorher nicht, weder persönlich noch überhaupt, aber der Bruder eines Freundes meines Nachbarn war mit Emilios Schwester ein paar Jahre zur Schule gegangen. Oder so ähnlich. Für Argentinien ist das jedenfalls eine ziemlich direkte Verbindung. Jeder in diesem Land – wirklich jeder – ist ja muy amigo von irgendwelchen wahnsinnig wichtigen Leuten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Emilio hat schönes schwarzes Haar, er braucht keine Brille, er ist beneidenswert jung und ungeheuer attraktiv, alles in allem also das Gegenteil von mir. »Halt einfach deinen Daumen über mein Foto, wenn du die Karte vorzeigst«, hatte er gesagt. »Guckt sowieso keiner genau hin. Wir haben ja jetzt auch diese modernen Drehkreuze.«

Die erste Sperre stand 500 Meter vorm Stadion. »Karten zeigen!«, riefen die Polizisten. Ich nahm die Arme hoch, öffnete die Jacke und ließ mich abtasten, mein Daumen erdrückte derweil Emilios Foto. Dann nahm mir der Polizist den Ausweis ab und schaute drauf, guckte mich genau an, schaute zurück aufs Foto und sagte: »Alles klar, Emilio! Vorwärts.« Mein achtjähriger Sohn ging als Emilios großer Bruder – geboren 1973, Vollbartträger – durch.

Atlético de Rafaela, der nullmalige argentinische Meister aus der Provinz Santa Fe, gewann übrigens 3:0.

Die Volkshochschulverweigerer aus Madrid und mein Sommerurlaub

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich hätte nicht Urlaub in Deutschland machen sollen. Verwandte, Bekannte und sogenannte Freunde wollten mit mir, dem Mann aus Buenos Aires, dauernd über das WM-Finale reden, obwohl ich Schwächen habe, was die Analyse betrifft. Bis heute habe ich weder einen Spielbericht gelesen noch Ausschnitte angeschaut, ich verarbeite Argentiniens Niederlage anders und vielleicht auch gar nicht. Nachts träume ich jedenfalls gern, wie Nationaltrainer Alejandro Sabella mich statt Rodrigo Palacio einwechselt und Leo Messi mir in der 112. Minute den Ball zupasst. Beinschuss für Manuel Neuer, darunter mache ich es nie. Ein paar Minuten später sind wir zum dritten Mal nach 1978 und 1986 Weltmeister!

Im Hof

Eine Woche vor unserer Rückkehr nach Buenos Aires habe ich dann in unserem Berliner Mietshaus einen Mann getroffen. Er fragte, wohin er den Müll bringen könne, er sprach Englisch mit spanischem Akzent. An der Mülltonne machten wir uns miteinander bekannt. Er erzählte, dass er vor ein paar Monaten entschieden habe, mit seiner Familie von Madrid nach Berlin umzusiedeln, und zwar für immer. Ich fragte, wie gut sein Deutsch sei, und er sagte: »Danke. Bitte. Guten Tag. Santiago. Mein Name.«

Ein Deutscher, der beschließt, für immer nach Spanien auszuwandern, hätte unter Garantie vorab hundert Stunden Abendkurs an der Volkshochschule belegt. Santiago war mir sofort sympathisch.

Wir riefen die Familien hinunter zur Mülltonne, ich schenkte Santiago einen Schal seines Lieblingsklubs Atlético Madrid, den ich vor 15 Jahren gekauft hatte, und er übergab mir eine Flasche Rotwein, mitgebracht aus Spanien. »Unser Wein, der hier verkauft wird, schmeckt fürchterlich«, sagte er.

Sieben Kinder – vier von ihm, drei von mir – hatten inzwischen auf dem Hof eine Kette gebildet, um das Wasser aus der Regentonne in den ausgetrockneten Teich zu befördern. Unsere Frauen redeten über Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Es wurde schon dunkel, und die Gardinen der Nachbarn bewegten sich.

Santiago erzählte, dass er für einen großen deutschen Technologiekonzern arbeite, er reise viel umher, China, Dubai, Kolumbien, Singapur.
»Argentinien?«
»Nein. Aber ich habe ein paar Freunde in Argentinien.«
»Ein großartiges Volk, ein tolles Land, nicht wahr?«
Ich verstand nicht alles, was er dann sagte, aber seine Begeisterung erschien mir ausbaufähig.

Straßenszene aus Buenos Aires

Auch Santiagos Frau – »Ische. Eiße. Carla. Zahn. Arztin.« – hatte die Madrider Volkshochschule ausgelassen und brauchte jetzt eine Dolmetscherin. Unsere Frauen stellten sich in Berliner Kindergärten vor, buchten einen Sprach- und Integrationskurs, kauften Schulhefte, telefonierten mit Behörden und brachten Carlas Fahrrad, das ich zunächst – wohl weil Carla gut aussieht – selbst zu reparieren versucht hatte, in die Werkstatt.

Ich half Santiago beim Einräumen der Wohnung. Wir trugen Kleinkram aus seinem Auto, und einmal zeigte ich nach links und sagte, diese Eckkneipe dort sei eine typische Berliner Eckkneipe, woraufhin Santiago direkt abbog, und schwupp, hockten wir am Tresen. Es war kurz nach 15 Uhr, und ringsum saßen tatsächlich noch andere Männer. Wir verbuchten die vier Berliner Kindl, die jeder von uns trank, als Integration.

Am dritten Tag vergaß ich, Santiago mit He Schwachkopf! (¡Che boludo!) zu begrüßen, wie das in Argentinien üblich ist; ich nannte ihn nur noch selten Alter oder Dicker, und sein kleiner Sohn hieß nicht mehr Verrückter, komm mal her!, sondern hatte einen Namen (auf den er genauso schlecht hörte). Ich begann, das C zu lispeln. Ich sagte coche statt auto (Auto), mantequilla statt manteca (Butter) und statt vos (du). Mein Straßenargentinisch verwandelte sich in das Kolonialherrenspanisch, mit dem sich Marc Koch, der zu lange in Madrid gelebt hat, seit Jahren in Buenos Aires durchschlägt.

 

Am Abend vor unserem Rückflug luden uns die Spanier zu sich ein. Als wir um halb zehn hungrig eintrafen, schälte Santiago zur Musik des Venezulaners Edgard Serrano Kartoffeln für die Tortilla. Unsere Frauen redeten über Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Unsere Kinder – seine vier, meine drei – spielten Fangen und Verstecken. Serrano sang lauter und lauter. Um kurz nach halb elf klingelte die Nachbarin aus der Wohnung darunter und bat um Ruhe. Carla und Santiago konnten das kaum verstehen. Halb elf! Freitagabend! Kinder!

Die Argentinier, denen ich später davon erzählt habe, waren sogar richtig empört. Was für ein herzloses, ungeselliges Volk! Aber seit dem 13. Juli 2014 und der einhundertdreizehntesten Minute der WM-Geschichte machen die Deutschen ja sowieso alles falsch.

Nachtstück, beim Schein einer Petroleumlampe zu lesen

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Das Monumental. An einem Winterabend. Im August. (Ja, Mann! Wir sind hier auf der Südhalbkugel!) Der Tag hat gegen die Nacht den Kürzeren gezogen. Sieht scheiße aus: Gruselig-graue Nebelschwaden. Mäandernde rote Lichter von der Autobahn dahinter. Lächerlich gelbe Lampen auf dem Dach. El Más Grande in Winterpausenstimmung.

Vorletzte Woche haben wir Grondona zu Grabe getragen. Er ruht jetzt in einer Gruft. In Avellaneda. Im Süden von Buenos Aires. Als ich das letzte Mal dort war, ist einer auf der Hauptstraße überfahren worden. Warum auch nicht. Ist doch ’n schöner Ort dafür.

CW, der immer noch in Europa ist, hat noch einen Grund zur Trauer. »Unser bester Mann«, jammert er. Und dass sie doch schon vorher um den WM-Titel beschissen worden seien. So sind sie, die Argentinier. Könnten immer und überall die Besten sein. Wenn die anderen sie nur ließen.

Sagte ich schon, dass man das Selbstbewusstsein des Argentiniers am besten mit dem Satelliten von Google Maps misst?

Aba ick schweife ab.

Julio Humberto Grondona also war 35 Jahre lang der Präsident des hiesigen Fußballverbandes. Sowas wie ein DFB-Chef, nur ohne Adiletten. Sein Wahlspruch war auf seinen Siegelring graviert und lautete: »Todo pasa«. Anillo Grondona1 Auf Deutsch: »Alles kann passieren«. Was ja irgendwie eher an einen argentinischen Zollbeamten erinnert, als an einen Fußballpräsidenten. Oder an die Gemeinsamkeiten der Beiden: Grondona wurde – wie jedem Zollbeamten, der was werden will in diesem Land – eine gewisse Begabung beim Thema »Durchlässigkeit« nachgesagt. Solche Talente wecken natürlich die Aufmerksamkeit vieler Menschen: Derjenigen zum Beispiel, die von Staats wegen Millionen von Pesos ausgeben, damit auch im letzten Winkel eines gerade für zahlungsunfähig erklärten Landes Fußball geschaut werden kann. Hier, zum Beispiel

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Oder derjenigen, die sich fragen, wieso der Vorsitzende einer Balltretervereinigung sieben Tage Staatstrauer bekommt und wie ein König zu Grabe getragen wird.

Und meine Aufmerksamkeit war natürlich auch hellwach.

Olle Grondona war noch nicht unter der Erde, da interviewten sie im hiesigen Qualitätsfernsehen schon einen Mann, der ein Buch über den mächtigen Fußballfunktionär geschrieben hatte. Und über seinen Einfluss auf die Politik. Und über die ganzen K-Wörter, die dieses Land regieren: Kirchnerismo. Ketchup. Kilmes. Korrup….. naja, so halt. Der Titel des Werks ist übrigens von Grondonas Siegelring geklaut: »Todo pasa«. Musste ich haben. Sollte auch kein Problem sein: Buenos Aires nennt sich ja gerne Hauptstadt der Literatur, weil Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein paar übellaunige

Borges

und kettenrauchende

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Männer ein paar ganz ordentliche Texte geschrieben haben. Deswegen gibt es ja auch einen Haufen schöner Buchhandlungen hier. Voll mit Büchern.

»Hola, pelotudo, ich möchte dieses Buch über Grondona«

»Du meinst Todo Pasa

»La concha de tu madre, genau das!«

»Ist nicht da«

»Dann bestelle es bitte«

»Geht nicht, boludo. Ausverkauft. Versuch’ es in einem der Antiquariate auf der Avenida Corrientes«

Antiquariate!!! Das Ding ist von 2012. Aber so geht mir das immer: Kaum will ich ein Buch kaufen, ist es weg. Selbst wenn es gestern rausgekommen ist. Nur die Biografien der Präsidentin und Sachbücher, die beweisen wollen, dass die Falklands argentinisch sind, gibt es immer. Und natürlich Messi-Bildbände und Krimis.

Jetzt werde ich also nie erfahren, wie man so wie Grondona wird. Der Zeitpunkt wäre gut gewesen: Die Liga beginnt gerade wieder. Und der Verband braucht einen neuen Präsidenten.

Ich hätte kandidiert.

Sogar die Wahrsager sind neidisch

von CHRISTOPH WESEMANN

Das Riesenbanner von Danü habe ich soeben abgehängt, ich fege gleich noch mal durch, bringe dem Nachbarn die Klappleiter zurück und schließe dann ab. Unser WM-Tagebuch aus Buenos Aires liegt bereits vakuumverpackt zehn Stockwerke unter der Erde in unserem Archiv, auf das dereinst unsere Nachfahren bei Grabungsarbeiten stoßen werden. Die Torte da, die ich sehr günstig im Ausverkauf erworben habe, muss bitte auch weg. Greift zu! Esst! Packt für Omi noch ein Stück ein!

Trikotkuchen

Die Internationale Sekte der Wahrsager (ISWAS) hat uns übrigens unterschriftsreife Verträge vorgelegt, wegen unserer beängstigend genauen WM-Prognosen. Wir hatten unter anderem getippt, prophezeit und gemeint:

Ich will keine lange Rede halten, also eigentlich schon, aber ich merke gerade, dass mir die Tränen … ich hatte mir doch ganz fest vorgenommen, jetzt nicht … schnief … schluchz … schnäuz … gut, dann danke ich einfach den Gastautoren Katharina Handy, Nico Esch, Marc Koch, Marco Michel, Axel Scherm und Wacho Chorro, die mit ihren Texten dieses Blog ungemein bereichert haben. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, nicht mehr nur allein denken und dichten zu müssen. Alle Gastbeiträge finden sich hier aufgelistet.

Ich wünsche mir sehr, dass sich das Argentinische Tagebuch zu einem Autorenblog entwickelt, mit deutschen und spanischen Beiträgen, geschrieben in Südamerika und in Europa.

Ich verschnaufe jetzt auch mal ein bisschen.

Die Nach-WM-Blues-Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

CW. Ich fliege dann mal für ein paar Wochen nach Deutschland, ja? Mit Familie.

MC. Das ist böse! Was soll ich denn jetzt machen? Ohne WM? Und ohne Deine unqualifizierten Kommentare? Noch nicht mal argentinischen Fußball gibt’s. Das wird blöd.

CW. Ich falle ja mit Dir in ein tiefes schwarzes Loch.

MC. Doch eher in ein weiß-himmelblaues! Aber nur, wenn Du Dein Argentinientrikot inzwischen gewaschen hast.

Trikothund

CW. Das Leben ist für die nächsten vier Jahre vollkommen sinnlos. Vier! Jahre! Mindestens. Eher mehr. Denn WM 2018 in Russland wird schlimm. Katar 2022 auch. Also 2026!

MC. Ecuador, Peru und Kolumbien wollen die WM ja angeblich gemeinsam machen. Dann sind wir wieder am Start!

CW. Danü kann schon mal ein Logo fürs WM-Tagebuch entwerfen.

MC. Da dann Opa Klose immer noch der einzige echte deutsche Stürmer sein wird, verlange ich, dass er grafisch besonders gewürdigt wird! Zumal er voraussichtlich sein 25. WM-Tor schießen wird. Und Fifa-Chef Sepp ist dann, lass mich rechnen, Jahrgang 1936, neunzig. Der gehört selbstverständlich in einen Rollstuhl! Mit Brillanten auf den Speichen! Nur der kleine Vizeweltmeister da rechts – der wird durch den kleinen Weltmeister-Kapitän ersetzt!

CW. Wir könnten 2025 vielleicht schon mal eine Komödie raushauen.

MC. Auch Pablo sollte jetzt schon wissen, dass er die Eintrittskarten fürs letzte Testspiel besorgen muss. Nicht, dass das wieder so eine Zitterpartie wird.

CW. Pablo treffen wir sowieso im Loch, glaube ich.

MC. Oh je, mit zwei argentinischen Vizeweltmeistern im Loch, ich weiß ja nicht. Da bluten mir die Ohren, weil jeder dem anderen dauernd erzählt, warum Ihr diesmal verloren habt. Schiri?

CW. Die blauen Trikots!

Besser als Zirkus Messi

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wenn ich jetzt, vier Stunden nach dem Abpfiff, gefragt würde, was mir von dieser Weltmeisterschaft in Erinnerung bliebe, wäre es ein Foto. Ein Foto, das an 1954 denken lässt, als sich die Deutschen in Kneipen und davor versammelten, um gemeinsam das Finale gegen Ungarn zu gucken. So war es gestern Nachmittag auch in Buenos Aires. Schon zwei Stunden vor dem Spiel gab es in den Restaurants, Bars und Cafés keine freien Plätze mehr – und wenn die argentinische Hauptstadt von irgendetwas genug hat, dann sind es Restaurants, Bars und Cafés. Die Leute standen draußen, eine Traube von Menschen, die versuchten, etwas von diesem Finale gegen Alemania zu sehen.

Finale im Café

»Es ist noch nie so leicht gewesen wie dieses Mal, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen«, hatte mir vor zwei Wochen ein Argentinier gesagt. Er hatte wohl recht: Spanien, Italien und Brasilien, drei glorreiche Fußballnationen, drei schlechte Mannschaften. Wahrscheinlich hat es noch nie eine brasilianische Auswahl gegeben wie diese von 2014: technisch unbegabt, ideenlos, nur auf Körperlichkeit setzend. Aus Afrika und Asien kam gar nichts. Selbst Holland, der Halbfinalist, spielte im Grunde biedersten Betonfußball.

Gewiss, auch Argentinien hat selten – wahrscheinlich bis gestern Abend: gar nicht – geglänzt. Aber diese Mannschaft hatte Charakter. Und Würde. Die Leute im Land spürten: Sie kann nicht immer, wie sie will. Argentinien hat keine goldene Fußballgeneration wie Deutschland, ist aber als Team wohl noch nie so stark aufgetreten wie 2014. Es war gerade nicht der Zirkus Messi, der in Brasilien gastierte. Der Kapitän hatte natürlich auch nicht die Form, um den Soloartisten zu geben.

Deutschland war die beste Mannschaft. Die tollen Spiele sind ihr freilich auch nur gegen unterirdische Gegner – erst Portugal, dann Brasilien – gelungen. Argentinien hätte es verdient gehabt, das Finale zu gewinnen. Nicht das Turnier. Aber die 120 Minuten von Río de Janeiro. Es ist schade, dass die Spieler diese vielleicht einmalige Chance nicht genutzt haben.

Der Ticker zum WM-Finale: Dem Diego Maradona su Wetter

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonnabend, 12. Juli, 10.30 Uhr

CW Buenas! Cómo andan, gente? Wir melden uns aus Buenos Aires und haben Großes vor, vielleicht auch nur Kleines, aber das würden wir niemals zugeben. Marc Koch und ich versprechen beim Heiligen aller Zauberkünstler, Diego Maradona, die Zeit bis zum Finale der Weltmeisterschaft halbwegs sinnvoll zu verplempern. Vor allem wollen wir uns selbst ablenken – von Langeweile und innerer Unruhe. Hätten wir einen Redaktionsbus, stünde draußen drauf die Parole: »13. Juli 2014 – Maracanã – Bereit wie nie. – Kann man das Finale einen Tag vorziehen?«

Es lohnt sich, heute und morgen immer mal wieder hier vorbeizuschauen. Wir werden tickern, was wir hören, sehen, lesen und erleben. Applaus, Lob und Blumen, Werbeverträge, Kuscheltiere, Telefonnummern und Heiratsanträge sind erwünscht. Fragen, Kritik und Kommentare natürlich auch. Nicht alles wird uns gelingen. Aber mehr über Argentinien vor dem Finale als hier erfahren Sie bei ARD und ZDF ja auch nicht. Jedenfalls habe ich aufgeschnappt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen doch sehr auf die deutsche Elf konzentrieren.

 

 

Blick auf die Uhr, das rechnen wir jetzt schnell im Kopf aus, ¡vamos!, ähm, tja, nein, wir nehmen doch besser die Finger zu Hilfe: noch 24 plus eins, zwei, drei, vier, fünf, fünfeinhalb Stunden. Also 29einhalb Stunden bis zum Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien.

11.15

CW. Ich schnuppere gerade an meinem Argentinientrikot. Gegen Bosnien am 15. Juno hatte ich es zum ersten Mal an, danach bei jedem anderen Spiel meiner Lieblinge. Sechsmal. Gewaschen wurde es in den vergangenen vier Wochen natürlich nicht, wir Argentinier sind ja abergläubisch. Sollte ich mir morgen vielleicht ein Duftbäumchen (Vanille oder Flieder) umhängen? Ja, sagt die Nase, unbedingt.

11.46

CW. Meine Familie ist übrigens gespalten. Die Frau hält zu Deutschland, der Achtjährige wohl auch, Argentinien ist nur seine zweitliebste Mannschaft. Vielleicht schaffe ich es aber noch, ihn umzudrehen, er wackelt, und ich kann gut verunsichern. Noch am Mittwoch nach dem Halbfinale gegen Holland hatte er auf dem Heimweg verkündet, im Endspiel beiden Teams die Daumen zu drücken. Kinder, pffffff, also wirklich. Am nächsten Tag war er dann wieder bei Deutschland; der aktuelle Stand ist: Er kann auch mit dem Weltmeister Argentinien einigermaßen leben.

Wo steckt eigentlich mein Kollege? Er sollte mich ja irgendwann ablösen, weil ich jetzt ein paar Stunden mit den Kindern unterwegs bin. Wir arbeiten im Schichtbetrieb. Das hat zum einen zeitökonomische Gründe. Zum anderen haben wir nach vier Wochen WM Lagerkoller. Der eine will dem anderen nur begegnen, wenn es unbedingt sein muss. Ich bin letzte Nacht über den Zaun geklettert und habe in der Stadt einen draufgemacht.

Unser Deutscher hat sich wahrscheinlich in der Toilette eingeschlossen. Seine Angst vor Argentinien ist gewaltig, aber psssssssst.

12.40

MC. Haha! Der Chefreporter hier! Kürzel: MC! Lustig, der Herausgeber, oder!? Geht Angstshoppen! Steht also in diesem Hypermarkt in unserem Viertel. Sein kleiner Sohn muss den Einkaufskarren mit Tiefkühlpizza und Quilmes beladen. Währenddessen steht CW vor der Sonderfläche mit weiß-himmelblauen Fanartikeln und überlegt sich, wie er seiner Frau beibringen soll, dass er schon wieder einen Haufen Pesos für den Plunder ausgegeben hat, der am Montag von bolivianischen Altplastikhändlern eingesammelt wird.

13.09

MC. Typisch wieder: Seit Monaten erzählt CW, dass »wir«(also: »er«. Also die Argentinier) Weltmeister werden. Und jetzt, keine 36 Stunden vor dem Finale, geht er EINKAUFEN! Macht sich aus dem Staub. Und ich wieder Sonderschicht. Ohne Bezahlung. Das Honorar geht wahrscheinlich wieder an die im Liegen bloggenden Edelfedern. Dabei zeigt ihm das argentinische Mittelfeldchefchen Mascherano doch, wie man seinen Mann steht: Dem gibt man ne Knarre, und er holt die Malwinen Falklands alleine zurück!

13.15

MC. Immerhin steht CW zu seiner Albiceleste in guten und in schlechten Zeiten. Kann man nicht von allen behaupten: Die hiesige Regierung schickt keinen Repräsentanten zum Finale. Sie wollen ihnen kein Pech bringen. Und so richtig mit Tschingderassabum und Trommeln wird das Team am Montag nur empfangen, wenn es Weltmeister ist. Also nicht.

14.15

MC. Die Wetteraussichten für den Finalsonntag in Buenos Aires. Rudelgucker, aufgepasst: Sieht nicht gut aus. Fritz-Walter-Wetter!

14.32

MC. Vor dem Finale der Männer: Das Frauenfinale. Merkel vs. Cristina. Smokey Eyes gegen Naturlook. Uckermark gegen La Plata. Weltmeisterin gegen Vizeweltmeisterin. So oder so.

14.51

MC. Das Spiel um Platz 3. #NEDBRA. Wird zwei, drei Stunden später angepfiffen: Die Brasilianer müssen noch ihr Tor aufräumen.

Das brasilianische Tor

15.20

MC. Alter, CW hat sie nicht mehr alle! Weil sie auf der Sonderverkaufsfläche im Hypermarkt seines Vertrauens kein Mascherano-Trikot in XXL hatten (seit er mehr Fußball guckt als spielt, hat er zugenommen!), ist er jetzt extra nach Caballito gerammelt. Das ist ein Stadtteil. Und dort, im Parque Rivadavia, gibt es noch Fanartikel. Sicher hat er wieder in die Haushaltskasse gegriffen, während seine Gattin ihre wohlverdiente Siesta gehalten hat.

parque rivadavia 2

MC. Dabei gibt es in diesem Park ausnehmend schöne Statuen zu sehen. Aber für sowas hat ein argentinischer Fußballfan ja kein Auge…

Parque Rivadavia

15.58

MC. In Buenos Aires schüttet es in Strömen, gleich wird dann doch #NEDBRA angepfiffen, verhaltensauffällige junge Argentinier hupen und tröten auf der Straße rum. Da muss ich, vor meinem brabbelnden Kamin, doch gleich an den großen Eric Meiijer denken und den jungen Leuten da unten (und CW natürlich auch!) zurufen: »Nichts ist scheißer als Platz 2!«

16.06

MC. Doch. Arjen Robben fällt ein, dass es doch noch was Scheißeres als Platz 2 gibt. Gleich mehr dazu aus Brasilia…

16.21

CW. Mann, Mann, Mann, sieht das hier aus. Da gibt man dem Chefreporter die Schlüssel und muss hinterher erst mal aufräumen. Hässliche Anführungsstriche. Kleine Bilder. Falsch positionierte Kürzel. Ans Telefon geht er natürlich nicht. Bin gleich wieder da.

16.27

CW. Nichts als Ausreden. Schlimmer als jeder Argentinier. Na ja, Journalist.

Auch interessant: was man erfährt, wenn man mit dem Sohn im Auto unterwegs ist. Die Familie hat doch heute Morgen unsere zwei Meerschweinchen zu Freunden gebracht, weil wir ja am Montag für ein paar Wochen nach Deutschland fliegen. Ja, gleich am Montag, zu diesem Thema kommen wir später. Jedenfalls berichtete der Achtjährige, wie sich seine Mama und die Mama seines Schulfreundes gemeinsam über die Väter ihrer Söhne aufgeregt hätten. Weil die – also wir, Jorge und ich – seit Wochen nix anderes als Fußball im Kopf haben.

»Mama ist froh, wenn die WM morgen vorbei ist. Und die Mama von Facu auch.«

»Deine Mama weiß aber nicht, dass ich eine Woche sehr traurig sein werde, falls Argentinien verliert. Und wenn Argentinien gewinnt: das restliche Leben sehr glücklich. Dann werde ich mir ab und zu frei nehmen, um übers Wasser zu laufen.«

»Übers Wasser kann man nicht laufen, Papa.«

»Ein Argentinier dann schon.«

 16.45

CW.  Apropos Mascherano: Der dementiert heute in Olé, Argentiniens großer Sportzeitung. »Ich bin nicht Rambo«, sagt er im InterviewSan Martín will er auch nicht sein. Hübsche Analogie. Nordamerikanischer Befreiungskämpfer mit fünf Buchstaben? Rambo.

Rambo MasChe

17.20

CW. Mascherano ist laut Olé übrigens nicht der beste Spieler des Turniers. Sein Olé-Notendurchschnitt: 7,5 (von 10). Hier die Noten der anderen Spieler, die die Fifa nominiert hat:

  • Robben: 8,2
  • James Rodriguez: 7,9
  • Thomas Müller: 7,4
  • Mats Hummels: 7,1
  • Toni Kroos und Philipp Lahm: 7,0
  • Neymar: 6,7.
  • Messi ist nominiert, aber seine Note finde ich nicht in der Zeitung. Wahrscheinlich: 12,9.

17.31

CW. Der Chefreporter guckt das Spiel um Platz 3 und fragt per Mail: »Ist Heulen eigentlich eine brasilianische Kulturtechnik?«

17.43

CW. Wenn uns jemand von einem Boten zweimal 120 000 Peso (in großen Scheinen!) vorbeibringen ließe, könnten wir noch schnell nach Río de Janeiro düsen. So viel, umgerechnet 11 000 Euro, soll ein Finalticket auf dem Schwarzmarkt maximal kosten. Wir würden natürlich hart verhandeln und uns auch mit Kurve begnügen. Unsere Spesenabrechnung reichen wir nächste Woche nach.

17.45

CW. Wir warten.

17.55 CW. Und wer mir eine echte Freude machen will, der kaufe bitte diesen hübschen Sessel zum Schnäppchenpreis von 2300 Peso:

Sessel

Hoppla, soeben fällt mir ein, dass ich ja versprochen habe, mich tätowieren zu lassen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Glatze obendrein, behauptet mein Sohn. ¡Vamos Alemania, carajo!

18.03

CW.  Die Deutschen greifen aber auch zu allen Mitteln. Gerade habe ich die Frau dabei ertappt, wie sie Sohnemanns weiß-himmelblauen Trainingsanzug in die Waschmaschine stecken wollte. Der hat uns doch so viel Glück gebracht am Mittwoch im Elfmeterschießen. Ich frage mich, wie es die Frau geschafft hat, dass er das Ding auszieht. Er war damit zwei Tage in der Schule, er schläft darin, ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zwei zusammen baden.

1.03

CW. Rätselhafter Satz in der Süddeutschen Zeitung: »Der Mann mit der Alfredo-Di-Stéfano-Gedächtnisfrisur ist der heimliche Chef in der argentinischen Kabine, was auch daran liegen könnte, dass er vergleichsweise unfallfrei spricht.«

Ich frage mal den Chefreporter, was das heißen soll.

»Meinen sie Dich? Oder den Trainer?«

Nein, Pablo Zabaleta. Die Unverzichtbarkeit des Rechtsverteidigers hat sich mir in sechs Partien nicht erschlossen. Ein paar Mal habe ich sogar schon nach zehn Minuten seine Auswechslung gefordert.

Ich mache für heute mal das Licht aus.

*****

Sonntag, 13. Juli 2014

7.51 Uhr

CW. Buenas! Todo tranquilo? Seit gestern regnet es in Buenos Aires, aber der Morgenkaffee hat weniger bitter geschmeckt als sonst. Ein guter Tag wird das! ¡Vamos Argentina, carajo!

»Todo depende de Messi«, hatte es vor dem Turnier in Argentinien geheißen, von Messi hängt alles ab. Und weil wir aus tiefer Bewunderung Argentiniern alles nachplappern, stand der Satz auch bei uns. Und es stimmte doch: In der Vorrunde schoss der Kapitän Tore und führte seine Mannschaft zum Gruppensieg. Mittlerweile aber überzeugt das Kollektiv. Der Schriftsteller und Fußballpoet Eduardo Sacheri (den wir selbstverständlich bewundern und lesen und dann wieder bewundern usw. usf.), Sacheri sagt heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Argentiniern sei »das Teamdenken schon immer schwergefallen: Als Gesellschaft sind wir individualistisch, chaotisch und ziemlich undiszipliniert. Und so spielen wir auch Fußball«. Im Verlaufe des Turnier allerdings habe sich die Albiceleste jedoch erstaunlich entwickelt. »Unser neuer Stil ist solidarisch, geordnet, geduldig.«

Sacheri tippt übrigens – ich sage doch: guter Mann – auf Sieg ohne Elfmeterschießen. Plappern wir gleich nach.

Und Ihr? Geht’s rein und lest’s Sacheri. Seinen Roman »Papeles en el viento« gibt es – wir sind schlauer als Wikipedia – seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch. Titel: »Vier Jungs auf einem Foto«. Eine herrlich absurde Geschichte.

8.07

CW. Vielleicht verdeutlicht das ein bisschen den Stellenwert, den der Fußball in Argentinien hat: Supermärkte sind hierzulande das ganze Jahr über geöffnet, auch an den beiden Nationalfeiertagen (25. Mai und 9. Juli), auch an Weihnachten und Ostern. Heute schließen sie um 13 Uhr unserer Zeit, drei Stunden vor dem Anpfiff des Endspiels. Dann werden auch wir hier einpacken und aufbrechen in Richtung Obelisk. Dort irgendwo versuchen wir dann, einen Tisch zu blockieren. Im Café habe ich neulich mit meinem Sohn das Elfmeterschießen gegen Holland gewonnen, davon können wir jetzt nicht mehr abweichen. Man muss nur früh genug da sein; denn das Café ist einer der Orte, an denen sich der Argentinier besonders wohl fühlt.

Halbfinale 7

Um sieben, halb acht – kein Elfmeterschießen, nein – strömen wir hinaus auf die Avenida 9 de Julio, die breiteste der Welt, und feiern mit Hunderttausenden, nein, wahrscheinlich zwei bis drei Millionen, den dritten Weltmeistertitel.

Ein guter Plan.

8.19

CW. Falls Sie den Chefreporter vermissen: Der hat sich im Abschlusstraining den Zeigefinger gezerrt und will sich nicht fitspritzen lassen. Der ist heute rund um die Uhr für die Deutsche Welle im Einsatz. Ich soll ganz lieb grüßen.

8.40

La Nación, die zweitgrößte Zeitung des Landes, hat den Argentiniern einige der unheimlich witzigen Fantasie-Schlagzeilen von Deutschlands größtem Hetz- und Dreckblatt übersetzt. »Franziskus tritt aus Scham zurück« – »El papa Francisco abdica de la vergüenza«.  Unter dem Text kommentiert einer: »Die Deutschen machen sichere Pläne – und Gott lacht hinter ihrem Rücken. Sie wissen, wie viele Äpfel am Baum hängen. Aber nur Gott weiß, wie viele Äpfel ein Saatkorn gibt.«

9.20

CW. Wenn wir Weltmeister werden, wird es sehrsehrsehr bitter: Am Montag landet die Mannschaft in Buenos Aires, und ich hebe nach Europa ab. Der jährliche Sommerurlaub. Ich hatte schon vor einem Jahr am Esstisch verkündet: »Ich will die WM in Argentinien erleben! Wir fliegen nach dem Endspiel! Argentinien wird Weltmeister!«

So wurde Montag, der Tag nach der WM, gebucht. Vielleicht hätte ich dazusagen sollen: Ein Land feiert so einen Titel und empfängt seine Helden.

Wie es feiern wird! Am Obelisken und überall! Und ich sitze im Flugzeug nach Amsterdam.

9.27

CW. Genial.

 

9.40

CW. Frage an die Experten: Was machen diese Leute hier in Buenos Aires?

Panini-Tausch

Antwort: Sie tauschen Paninibilder.

Zehn Schritte weiter habe ich mich gestern noch abergläubisch verstärkt und für umgerechnet drei Euro bei einem Straßenhändler diesen schönen Rosenkranz mit Papstanhänger gekauft. »Rosenkranz« heißt auf Spanisch übrigens »rosario«, ja, genau wie die drittgrößte Stadt Argentiniens, in der unter anderem Che Guevara, Leo Messi und die drei berühmten Trainer César Luis Menotti, Marcelo Bielsa und Gerardo Martino geboren … ach ja, hatten wir schon.

Rosario mit papa

9.55

CW.  Eine Mail von vorgestern aus Alemania:

Lieber Christoph!

Soeben habe ich aus der Zeitung erfahren, dass in Brasilien eine Großveranstaltung läuft, deren Sinn darin besteht, eineinhalb Stunden lang Lederkugeln in auf Holzrahmen gespannte Fischernetze zu schießen. Als ich weiter las, erfuhr ich, dass die besten zweiundzwanzig Männer aus Argentinien und Deutschland kommen, und dass in den nächsten Tagen die allerbesten elf Männer durch weitere Schüsse in die Fischernetze ermittelt werden.

Beim Lesen dachte ich sofort an Dich. Denn ich meine mich erinnern zu können, dass Du mit großer Begeisterung solche Lederkugelinsfischernetzwettkämpfe verfolgst.

Und da Du ja nun seit einiger Zeit in Argentinien bist, dachte ich, dass Du nun wohl hin und her gerissen sein musst, welcher Gruppe der Lederkugelspieler Du die meisten Schüsse in die Fischernetze wünschen sollst. So wünsche ich Dir trotz dieses Zwiespaltes einen spannenden Endkampf.

Die WM bekommt nicht nur mir nicht.

Noch sechs Stunden. ¡Vamos Argentina, carajo!

Übrigens: kein Regen mehr. Sonnenschein. Dem Diego Maradona su Wetter.

10.23

CW. Relativiert das holländische Dreinull gegen Brasiliens Zehnkampfnationalmannschaft von gestern Abend eigentlich das 7:1 der Deutschen im Halbfinale? Die Frau kam ja von diesem Spiel ganz begeistert nach Hause und fragte, ob ich schon mal dieses tolle Lied gehört hätte. Dann sang sie: »Oh, wie ist das schön.« Natürlich, das Lied wurde schon gesungen, als Uwe Seeler noch spielte. Aber wie sollte ich ihr das sagen? Den kennt sie doch gar nicht.

Wir haben auch die geileren Lieder.

 

Kurze Pause. Muss Olé kaufen.

11.25

CW. Der Oléverkäufer hier im Viertel hat mir gerade die Ohren lang gezogen, weil ich für Argentinien bin. »Patriotismus ist kein Geschäft. Man leugnet nicht sein Vaterland.« Als er nach 15 Minuten beim Wählen als demokratische Pflicht landete, musste ich wirklich los.

11.29

CW. Mein Freund Vicente, der klügste Argentinier unter 30, schickt eine SMS:

Buen día!!! Me levanté de muy buen humor. Ganamos 2:0. – Guten Tag!!! Ich bin mit sehr guter Laune aufgestanden. Wir gewinnen 2:0.

11.50

CW. Ich habe Vicente mal gefragt, welches Bild die Argentinier von Deutschen und Deutschland haben. Hier seine Antwort, die ich übersetzt habe:

Argentinische Oberschicht: hält die Deutschen für sehr gut gebildet und geschäftstüchtig; denkt bei Deutschland an die großen Denker und die bedeutende Kultur; Deutschland ist für diese Argentinier ein Vorbild, das Ideal eines Landes.

Argentinische Mittelschicht/Arbeitklasse: hält die Deutschen für pedantisch, gewissenhaft und extremst pünktlich; kennt bestimmte Marken wie Mercedes und BWM, ohne genau zu wissen, wo die hergestellt werden; verbindet mit Deutschland Strudel oder etwas anderes typisch Deutsches.

Argentinische Unterschicht: hält alle Deutschen für blond, groß und dünn; denkt bei Deutschland an Bier und neuerdings auch an Fußball.

(Hinweis von mir: In Argentinien geht man unbefangener mit dem Schichten-Begriff um.)

12.10

CW. Angestachelt von ihrer Mutter, provozieren die Kinder.

Vizeweltmeisterfahne

12.15

CW. Wie gut hat es unser Chefreporter: Der dreht schon den ganzen Tag unter Argentiniern. Ist bestimmt lustig, oder?

MC. Ja. Lustig. Die haben das Gleiche genommen wie Du. Sie glauben, sie seien Weltmeister.

12.40

CW. Wir kommen allmählich zum Schluss, ich muss los. Ich treffe mich um 14 Uhr unserer Zeit, zwei Stunden vor dem Anpfiff, mit Cristian am Obelisken. Cristian und ich sind im vergangenen Oktober mit zwei Millionen anderen Irren 70 Kilometer von Buenos Aires nach Luján gepilgert, zur Heiligen Jungfrau. Start morgens um halb elf, Ankunft kurz vor halb drei nachts. Ich wollte die Geschichte immer mal erzählen, hatte sie schon fast fertig, dann fiel ein Buch auf den Laptop und zerstörte die Festplatte. Kein Backup, natürlich nicht.

Wallfahrt 3

Wallfahrt 2  Wallfahrt

Wallfahrt 4

Mit Cristian

12.47

CW. Helge, unser Freund vom Blog Me llaman Jorge, hat an uns gedacht und einen wunderbaren Text geschickt, der auf Facebook unterwegs ist. Man kann ihn leider nicht ins Deutsche übersetzen. Es ist eine Erzählung, in der die Namen der argentinischen Nationalspieler ähnliche Wörter ersetzen. Man versteht es erstaunlicherweise trotzdem.

Hoy me desperté Mascherano q nunca, Higuaín q todos los dias, me Lavezzi la cara, me puse las Zabaleta, me preparé el mate con unas hojitas de Romero. Elegí al azar una página de la Biglia q hablaba Dimaria y del Messias, Basanta palabra!!! Me puse mi gran saco Rojo, para salir y me pareció q tenía un Agüero en la manga, Garay q susto!!! No era nada.. En la esquina estaba un Campagnaro querido q Andujar siempre en un Orion, nos desencontramos! Por telefono le dije: te pedi q mes Perez alli!!! Por suerte Rodriguez el del Maxikiosco, le hizo una seña y nos encontramos finalmente frente al Palacio. Mas tarde, café de por medio, le dije entre otras cosas: – mira; no me Gago ante los alemanes… el domingo ganamos, SABELLAAA!!!!

¡Vamos Argentina, carajo!

¡Hasta luego. ¡Nos vemos! Beso grande.

Der Mann Wese und der monotheistische Fußball

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

*****

— von Dr. S. F. Roit —

(Vorbemerkung der Redaktion: Seit Tagen beobachten wir seltsame Veränderungen an unserem Herausgeber CW. Wir haben einen der vielen Seelenklempner in Buenos Aires gebeten, sich das mal anzuschauen, und gefragt, ob es ansteckend ist. Hier ist sein Bericht.)

Dass sich der Patient ebenso gerne wie wahrheitswidrig als Argentinier bezeichnet, ließe sich immerhin dadurch erklären, dass er die hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieses liebenswerten Pampavolkes wie kein anderer in sich vereint: Er ist bescheiden, zurückhaltend, fleißig und prinzipienfest.

Beunruhigender allerdings erscheint, dass seine Hinwendung zum argentinischen Fußball, die seine Mitarbeiter und Familienmitglieder beklagen, inzwischen verhaltensauffällige Formen angenommen hat. Beispielsweise wird er nicht müde, das Halbfinale #NEDARG zu loben. Natürlich den argentinischen Anteil daran. Zur Erinnerung hier noch einmal die Höhepunkte der Partie:

 

Nein, Ihr Gerät ist nicht kaputt.

Angehörige des Patienten berichten, dass er wiederholt mit schlammigen Schuhen von unterklassigen Fußballspielen nach Hause gekommen sei. Dort habe er sich hinter die hauseigene Parrilla gekauert und seinem Sohn fremd klingende Lieder vorgesungen:

 

Schon aus diesen wenigen Indizien erhellt, dass die empfundene Zurückweisung durch den Schwiegervater (man beachte auch den Titel dieser zweifellos vom Patienten als therapeutisch erachteten Schrift!: „Drei offene Rechnungen“!!!), dieser Schwiegervater also, der, obgleich viel älter, mühelos eine Schwalbe von einem fälligen Strafstoß unterscheiden kann, nicht alleine Grund für die aktuelle Störung ist.

In seiner vielbeachteten Studie »Das Tabu des Totems als Torpfosten« (Manchester 1962) schreibt der sympathische Autor W. Rooney mitfühlend: »Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.«

Wir haben bereits an anderer Stelle nachgewiesen, dass Moses kein Argentinier, sondern Ägypter war. Und so wie Moses sich seines Bruders Aaron bedienen musste, wenn er zu den Argentiniern sprechen wollte, so muss sich der Patient heute seiner Kinder bedienen, wenn er sich mit Argentiniern verständigen möchte.

An dieser Stelle bricht der Bericht ab, der Seelenklempner musste Fanartikel fürs Finale kaufen gehen. Gerade ruft der Hausmeister im Büro an. Keine Heizung bis zum Tag nach dem Finale, schafft er nicht mehr. Ist ja auch nur Juli. Aber Weltmeister werden wollen. Der Herausgeber CW schaut sein argentinisches Lieblingsspiel auf DVD. Seine Augen leuchten wie die Fenster brennender Irrenhäuser. Fußball ist schön.

*****

Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Drei offene Rechnungen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Der gewöhnliche Argentinier weiß zwar nicht mehr, was er gestern auf der Arbeit gemacht hat – mutmaßlich: nichts (der Faule) bis nicht viel (der Fleißige), es ist ja Weltmeisterschaft, amigo. Aber an diesen Elfmeter von Rom, an den erinnert er sich. Er kann die Hanauer Schwalbe, Rückennummer 9 so detailgetreu schildern, als hätte sich Rudi Völler erst vor fünf Sekunden fallen lassen – hier, direkt vor unserem Argentinier mit dem Elefantengedächtnis. »Se tiró!« Ganz klarer Fall. »Er hat sich hingeworfen.«

 

Die Fußballfachwelt, die naturgemäß nur aus Argentiniern bestehen kann, ist sich weitgehend einig, dass der Sieg der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien glücklich bis unverdient war. Man muss nur schauen, welcher der beiden Kontrahenten die schwierigeren Aufgaben bis zum Finale zu lösen hatte. In der Vorrunde trifft Deutschland auf Jugoslawien, Kolumbien und Scheiche. Nach zwei Siegen und einem Unentschieden ist der Weg ins Endspiel schon so gut wie frei – es kommen nur noch die Niederländer (Achtelfinale), die Tschechoslowaken (Viertelfinale) und die Engländer (Halbfinale). Argentinien indes hat mit der Sowjetunion, Rumänien und Roger Milla eine sogenannte Todes- oder auch Hammergruppe erwischt, setzt sich aber durch. Um ins Finale zu kommen, muss das Team von Dr. Bilardo dann nacheinander den Rekordweltmeister Brasilien, das saustarke Jugoslawien und Gastgeber Italien ausschalten. Das gelingt, aber ganz offensichtlich soll Argentinien 1990 nicht Weltmeister werden.

Ich weiß übrigens noch, wie ich, damals zwölf Jahre alt, meine Eltern sofort und ohne Zeitlupe auf Völlers Schwalbe hingewiesen hatte: »Kein Foul von Roberto Néstor Sensini, Ball gespielt, muss er einfach sehen, der Schiri, stand doch gut.«

*****

Wir müssen auch über 2006 reden. Berliner Olympiastadion. Viertelfinale. Ich stehe mit meinem Schwiegervater, der mich noch nicht so gut kennt und deshalb glaubt, mich zu mögen, in der argentinischen Kurve. Wir gehen kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit in Führung, wir sind überlegen, Deutschland rennt nur hinterher, und dann wechselt Trainer José Pekerman in der 72. Minute Juan Román Riquelme aus. Unser Mittelfeldgenie ist der Mann des Spiels, es könnte Románs Turnier werden, er ist nämlich in der Form seines Lebens. Aber Pekerman nimmt ihn runter und bringt, nein, nicht den gerade 19 Jahre alt gewordenen Wunderknaben Lionel Messi. Es kommt Esteban Cambiasso, der später den letzten Elfmeter verschießen wird. Kollektives Kopfschütteln in der Kurve. Der Argentinier rechts neben mir will irgendetwas, ich spreche aber kaum Spanisch. »He Schwachkopf«, sagt er vielleicht und meint damit mich, »was macht dieser Idiot da? Die Muschel deiner Schwester, Alter! Die Hure, die mich geboren hat!«

Welche Schwester? Ich habe bloß einen Bruder! Und was heißt »concha«? Oh, ist dieser Kerl aufgebracht!

Fußball-WM 2006, 16. Juni in Gelsenkirchen Arena

In der 79. Minute wechselt der Trainer das dritte Mal, Hérnan Crespo geht raus, und jetzt kommt natürlich … nein … wieder nicht. Pekerman bringt statt Messi einen gewissen Julio Ricardo Cruz, einen Stürmer, der am Ende seiner Nationalmannschaftskarriere in 22 Länderspielen vier Tore geschossen haben wird. (Übrigens wird Cruz unmittelbar nach dem Ende der Partie vollkommen zu Recht von Torsten Frings eine gefaustet kriegen.)

 

Der Argentinier bufft mich jetzt an und wiederholt noch mal, was er gerade schon gesagt hat. Nur viel lauter.

Ich habe keine Schwester, Señor!

Eine Minute später macht Miroslav Klose den Ausgleich, und ich tausche mit meinem Schwiegervater den Platz – nur für den Fall, dass der Argentinier meine wahre Identität entdeckt. Deutschland gewinnt das Elfmeterschießen, weil das Elfmeterschießen immer Deutschland gewinnt, seit Uli Hoeneß nicht mehr spielt. Mein Schwiegervater freut sich. Pekerman tritt unmittelbar nach dem Spiel zurück und nimmt alle Schuld auf sich, was für einen Argentinier eine beachtliche Leistung ist.

*****

Südafrika 2010. Viertelfinale. Eine wunderbare Mannschaft ist das, auf dem Papier: Ángel Di María, Lionel Messi, Gonzalo Higuaín, Carlos Tévez und auf der Bank Kun Agüero, jeder von ihnen vier Jahre jünger und gesünder und wilder als heute. Was für eine Offensive! Was fehlt, ist ein Trainer. Argentinien hat sich das Maskottchen Diego Maradona auf die Bank gesetzt und wird von Deutschland überrollt. Es sieht mitunter aus, als wäre eine Auswahl Best of Bolzplätze von Buenos Aires angetreten. Nullvier.

Unter einer Autobahnbrücke in Bajo Flores, einem Stadtteil von Buenos Aires

Eine Schmach. Eine Schande.

»Die ganzen Träume im Mülleimer, alles schon vorbei«, schreibt das Sportblatt Olé. »Das war ein Rausschmiss mit einer Tracht Prügel, mit einer historischen Tracht Prügel bedauerlicherweise«.

Aber wozu gibt es Brasilien?

Danksagung

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Danke, Sergio Romero, für die zwei gehaltenen Elfmeter. Verzeih, Chiquito1, dass ich dich unseren Lesern als »Fliegenfänger« vorgestellt habe.

Danke, mein Rosenkranz, du mit dem Anhänger der Jungfrau von Luján und dem anderen aus Quilmes, dass du dich wieder dreißig Mal hast beten lassen. Und knutschen, reiben, anpusten. Obwohl ich nicht einmal getauft bin.

Danke, mein Sohn, dass du beim Elfmeterschießen die Hände zum Gebet gefaltet hast und dich nach jedem Treffer von uns und jedem Fehlschuss von denen hast küssen lassen. Im Finale wirst du für Deutschland sein. Aber erwartest du ernsthaft, dass wir das letzte Spiel verlieren?

Danke, du Mann im Bus auf dem Heimweg, für das, was du sehr laut in dein Telefon gebrüllt hast: »Ich bin total verrückt geworden. Ich kann mich einfach nicht beruhigen. Du müsstest mich sehen, ich flenne wie ich Mädchen.«

Danke, du anderer Mann im Bus, dafür, dass du dich von hinten eingemischt hast: »Genau wie ich!«

*****

Fußballgucken auf der Plaza General San Martín im Zentrum von Buenos Aires

Anti-Brasilien-Plakat, frei übersetzt: Papa bleibt noch zu Besuch. (Der Papa ist Argentinien.)

Halbfinale 3

Halbfinale 4

halbfinale 5

Halbfinale 6

Gäste und Kellner eines Cafés in Buenos Aires bejubeln das gewonnene Elfmeterschießen.

Vorbeimarsch mit der Fahne am Bahnhof Retiro

Halbfinale 9

  1. Spitzname []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)