Welch Groteske! Allein dafür hat sich das Durchhalten und Niemalsaufgeben in den mitunter zähen Wahlkampfwochen gelohnt – für dieses Abwickeln einer Präsidentschaft, einer Ära, für dieses Hinüberstolpern mit Beinestellen und Schubsen gen Neuanfang. Der Wahnsinn, geliebtes Argentinien! ¡Qué quilombo!1
Fassen wir zusammen: Nach seinem Sieg in der Stichwahl besucht Mauricio Macri die scheidende Präsidentin Cristina Kirchner. Man redet gekonnt aneinander vorbei. Macri sauer ab. Kirchner lässt auf dem Anwesen des Staatsoberhaupts, das sie bald verlassen muss, gelbe Blümchen pflanzen. Gelb ist die Farbe von Macris Partei PRO.
Quedaron muy lindas y en unas semanas más van a lucir aún mejor, cuando florezcan en todo su esplendor. pic.twitter.com/5dLIM4h9L7
Kirchneristen und Macristen beginnen zu streiten, wie und wo die Macht am 10. Dezember übergeben wird. Die Präsidentin will, dass Macri von ihr Schärpe und Zepter im Parlament empfängt, wie das in Argentinien seit 2002 gemacht wird. Steht so in der Verfassung, Artikel 93. Macri will aber auf keinen Fall, was Kirchner will. Erstens fürchtet er, dass auf den Balkonen des Kongresses ihre Anhänger sitzen, um ihm auf die Eier zu gehen. Zweitens hat er ja Wandel versprochen und muss sich vom Kirchnerismus absetzen. Macri also will nur den Amtseid im Parlament ablegen und dann die Insignien der Macht im Regierungspalast übernehmen, in der Casa Rosada. So war das vorher, und Tradition sticht Verfassung.
Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.
Das wäre damit geklärt.
Jetzt müssen alle noch darüber streiten, wann der neue Präsident anfängt zu arbeiten. Wenn er seinen Amtseid gesprochen hat? Nein. Wenn er Schärpe und Zepter hat? Auch nicht. Wäre alles viel zu einfach, zu wenig Drama. Wäre ja absolut logisch und damit komplett unargentinisch. Die Kirchneristen sagen, die Präsidentschaft ende am 10. Dezember, Punkt Mitternacht, also erst einen halben Tag nach der Zeremonie. Warum? Darum.
Kommt gar nicht in Frage, sagen die Macristen, wer weiß, welche Dekrete die Kirchner noch erlässt, sie ist doch total durchge unberechenbar. Am 9. Dezember, Punkt Mitternacht, schicken wir sie in den Ruhestand. Das steht irgendwo.
Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.
Macri und Kirchner telefonieren miteinander. Er hat mich angebrüllt, berichtet die Präsidentin hinterher. Kann er doch gar nicht, sagen Macris Leute, er ist ja nicht Cristina, und außerdem hat er, was sie nicht hat: Manieren.
Eine Richterin gibt Macri recht. 9. Dezember.
Ich komme dann nicht.
Staatsstreich, sagen die Kirchneristen. Argentinien wird zwölf Stunden ohne Präsident sein.
Auftritt Federico Pinedo, Vorsitzender des Senats und Parteifreund Macris: Ich mach’s! Ich darf auch. Ich bin die protokollarische Nummer Drei im Staat. (wedelt mit der Verfassung)
Ihr könnt mich mal. Meine Abgeordneten werden euren Festakt im Parlament übrigens auch boykottieren.
Donnerstag, 10. Dezember, kurz vor zwölf Uhr: Mauricio Macri legt seinen Eid ab. In seiner Antrittsrede bittet er die Argentinier ausdrücklich um Kritik, sollte seine Regierung Mist machen. Wir sind nicht unfehlbar, sagt er. Seine Vorgängerin reist nach Santa Cruz, um dabei zu sein, wenn ihre Schwägerin Alicia Kirchner, die neue Gouverneurin der Provinz, ihr Amt antritt. Sie sitzt nicht in der Präsidentenmaschine Tango 01. Sie fliegt Linie.
Ein Freund, strammer Peronist, witzelt: Ich bin von jetzt an bis in alle Ewigkeit Anhänger von Pinedo. Er hat seine Zwölf-Stunden-Präsidentschaft beendet, ohne einen einzigen Peso zu klauen.
Lachen vom Band.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Der Präsidentenpalast weiß von nichts. Oder er tut so. In den Büros wird auf Computerbildschirme geguckt, Gesprächsfetzen und Telefonläuten dringen auf den langen Flur, wo eine Putzfrau in Uniform den Boden wischt. Sie sieht auf, lächelt und erwidert den Gruß. Ruhig, beinahe still ist dieser Ort, an dem alles Alte bald endet und alles Neue bald beginnt. Am 10. Dezember zieht die Hausherrin Cristina Kirchner aus, und mit ihr eine ganze Reihe Getreuer. Es zieht ein: Mauricio Macri, und mit ihm eine ganz Reihe Getreuer. Die Casa Rosada aber, sie benimmt sich, als würde rein gar nichts anstehen. Wo ist der Machtwechsel, in dem das Land am Río de la Plata seit dem Stichwahl-Sieg des Oppositionskandidaten steckt? Wo sind die Umzugskartons?
»Wir nutzen das lange Wochenende«, sagt die Frau, die das Argentinische Tagebuch zu einem Gespräch empfängt, aber in dieser Geschichte keinen Namen haben will. Am Montag und Dienstag ist frei in Argentinien, aber hier wird dann gepackt und ausgemistet. Es dürfte sich allerlei angesammelt haben. Zwölfeinhalb Jahre lang hat der Kirchnerismus regiert. Es ist eine Epoche, die nun zu Ende geht, eine verdammt lange Zeit.
Die Frau, die bereit ist zu erzählen, wie es sich anfühlt, die Macht abzugeben, arbeitet seit vielen Jahren in leitender Funktion in der Casa Rosada. Was aus ihr wird, weiß sie noch nicht, sie hofft, dass sie weiter gebraucht wird. Sie gehört zur planta permanente, der Ebene der Staatsbediensteten mit unbefristeten Verträgen. Macri könnte sie versetzen, degradieren, mürbe machen, das ja, aber loswerden kann er nur die anderen, die auf der planta transitoria. Es sind die Beamten mit Verfallsdatum. Ihre Zeit im Staatsbetrieb läuft ab.
Eine Versammlung, um die Mitarbeiter – wie viele die Casa Rosada beschäftigt, weiß niemand – auf das einzustimmen, was komme, habe es bislang nicht gegeben, sagt die Frau. Geredet werde umso mehr. In manchen Büros säßen echte Fans der Chefin, sie tränken aus Cristina-Kirchner-Tassen ihren Kaffee und hätten Poster der Präsidentin an Wand. Sie verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Schutzheilige, und die Verzweiflung darüber passt in zwei Sätze: »Ich will nicht, dass sie geht. Wer hält denn in Zukunft zu mir?«
Macri will anders sein, anders als diese Präsidentin. Gleich am Morgen nach seinem Wahlsieg hat er sich den Journalisten gestellt. Sein Kabinett? Ein Truppe einstiger und aktueller Führungskräfte aus der Privatwirtschaft. Die erste Kabinettssitzung? Unter freiem Himmel, im Botanischen Garten von Buenos Aires. Die Kirchnerregierung traf sich nie, weil die Anführerin Durchstechereien fürchtete und die Minister deshalb einzeln zu sich bestellte. Pressekonferenzen gab sie – mit einer Ausnahme (2008) – in ihren acht Jahren auch nicht. Wozu denn? Kirchner wollte nicht überzeugen. Sie ordnete Meinungen an.
> Die neue Regierungsmannschaft Foto: Facebook/Macri
Rückblende. Die leitende Beamtin der Casa Rosada erlebt aus der Nähe, wie Cristina Kirchner nach einem triumphalen Wiederwahlsieg Ende 2011 nun die Landsleute vor die Wahl stellt: Folgt mir, oder ihr gehört nicht mehr dazu. Vamos por todo, heißt die Parole. Wir gehen aufs Ganze. Die Präsidentin setzt auf die jungen Argentinier, denn Jugend, so sagt es unsere Gesprächspartnerin, lasse sich leicht begeistern für jede »revolutionäre Schwärmerei«. Die Nachwuchsorganisation La Cámpora, gegründet vom Präsidentensohn Máximo Kirchner, erobert mit ihren Aufmärschen erst Straßen und Plätze, die politische Öffentlichkeit also – und bald darauf die Fleischtöpfe. Tausende camporistas ziehen in die Ministerien, Behörden und Staatsbetriebe ein. Der Kirchnerismus spaltet Argentinien, das Land sieht schwarz-weiß. »Grau hat nicht mehr existiert. Und wir, die Gesellschaft, haben nicht den Ausgang aus dieser Freund-oder-Feind-Dialektik gefunden.«
Macri verspricht, das Land zu befrieden, und eine Geste ist ihm schon gelungen, als er Wissenschaftsminister Lino Barañao im Amt beließ. Ein Überlebender der Zeitenwende. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht werden gar nicht viele Köpfe rollen, sondern nur die, die mit mehr Ideologie als mit Intelligenz gefüllt sind. »Hoffentlich kommen die Neuen mit guten Absichten«, sagt die Funktionärin.
Hilfe kann Macri brauchen. Er hat, das zeigt die Stichwahl, die er mit 51,34 Prozent nur knapp gewann, das halbe Land erst einmal gegen sich. Und der schlechte Brauch hiesiger Präsidenten, sich Legitimation zu erkaufen, ist keine Option. Nicht nur, weil dies ein Verrat am Wandel wäre, den Macri zugesagt hat. Es fehlt auch schlicht das Geld für Wohltaten. Die Frau aus der Casa Rosada bestätigt das mit einem schönen Bild: Das große Fest sei vorüber, sagt sie, das Fest der billigen öffentlichen Dienstleistungen, der günstigen Züge und Busse, des subventionierten Stroms, all der Staatshilfen und Sozialprogramme. »Wir Argentinier lieben, leider, fiestas. Wenn wir feiern, vergessen wir alles um uns herum. Erst wenn die Rechnung kommt, wird uns klar: Wir, die getanzt, gegessen und getrunken haben, sind auch die, die dafür bezahlen müssen.«
Und nun: la transición, der Übergang. Argentinien verfolgt mit offenem Mund, wie eine Kraft ihre Macht weiterreichen soll – und das ganz schnell, denn zwischen der Stichwahl und dem Amtseid des neuen Präsidenten liegen gerade einmal 18 Tage. Überdies neigen Argentiniens Regenten traditionell zum yo-ismo, der Ichbezogenheit. Sie sehen sich nicht als Verwalter des Staates für eine gewisse Zeit, sie sind der Staat. Er gehört ihnen, und was einem gehört, das gibt man ungern wieder her. »Wir haben keine Geschichte von demokratischen, transparenten Regierungswechseln, keine Kultur, keine Mentalität, keine klaren Regeln, kein Verfahren«, sagt die Funktionärin aus der Casa Rosada. Niemand wisse, was genau zu tun sei, nicht der Staat, nicht die Regierung, erst recht nicht die Angestellten. »Wir diskutieren gerade zum ersten Mal, was das überhaupt ist: transición.«
Das Loslassen beginnt mit ganz banalen Dingen: Welche Akten schreddere ich, welche bekommt mein Nachfolger? Machen wir eine Übergabe? Soll ich ihm helfen, sich zurechtzufinden? Darf ich das überhaupt? Aber meinen Computer nehme ich mit nach Hause. Nein? Wie, der gehört mir nicht?
Am Mittwoch, 9. Dezember, sollen die Büros geräumt sein. Dann kommen die neuen Direktoren und die Maler natürlich, und die Frau, die an diesem Ort schon lange arbeitet, hofft, dass Macris Strategen genau hingucken werden; dass sie nicht nur auf das Organigramm schauen, auf irgendwelche Titel, sondern sich jede Stelle vornehmen und den, der sie besetzt, fragen: »Was haben Sie hier eigentlich genau gemacht? Nur die Aufmärsche organisiert? Oder auch was Sinnvolles?« Was jemand könne, zähle für ihn, das hat Macri oft gesagt, weg mit der Ideologie, her mit Professionalität. Allerdings hat der öffentliche Dienst heute auch eineinhalb Millionen mehr Beschäftigte als 2003, dem Jahr, in dem der Kirchnerismus das Land übernahm. Ein Plus von 67 Prozent. Und Macris Leute und die seiner Verbündeten wollen ja jetzt auch noch mitmachen.
Auf einem der Fluren verrät sich der Präsidentenpalast übrigens dann doch: Da liegt ein Haufen aus Papier, Faxgeräten und Kabeln. Der Machtwechsel, er kommt.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Cristina Kirchner hat Mühe, das Unvermeidliche anzunehmen, und dazu zählt auch ein neues Leben. Vom 10. Dezember an wird die frühere Abgeordnete, Senatorin, Primera Dama und dann Staatschefin außer Dienst zum ersten Mal nach 28 Jahren ohne – sichtbare – Macht sein. Sie verliert auch allerlei Annehmlichkeiten, den Dienstwagen, den Hubschrauber, ihre Sekretäre und Assistenten; 40 Leibwächter darf sie immerhin behalten, muss sie jedoch mit ihren Kindern Florencia und Máximo teilen. Ihr Umfeld überlegt schon, wer demnächst die Flüge bezahlt oder dafür kein Geld verlangt.
Kirchner pendelt oft zwischen El Calafate, su lugar en el mundo1, wie der Argentinier sagt, und Buenos Aires, wo die große Politik gemacht wird, ihre Enkel leben und sie eine Wohnung besitzt. Schon seit Juni lässt die Präsidentin umziehen, manches wird gen Süden gebracht und auf die Hotels und Häuser im Familienbesitz verteilt, anderes bleibt in der Hauptstadt. Kirchner will also weiter pendeln. Es soll aber alte Freunde mit Flugzeugen geben, die ihr noch etwas schulden, und wenn Alicia Kirchner, die neue Gouverneurin der Provinz Santa Cruz, gen Buenos Aires abhebt, nimmt sie ihre Schwägerin bestimmt mit.
> Cristina Kirchner am Montag in Río Negro Foto: Casa Rosada
Das obligatorische Treffen mit ihrem Nachfolger Mauricio Macri, dem Gewinner der Stichwahl, hat gerade einmal 20 Minuten gedauert, und darüber, wie die Amtsgeschäfte übergeben werden, sollen die zwei auf dem Anwesen des argentinischen Staatsoberhaupts vor den Toren der Hauptstadt gar nicht gesprochen haben. Macri berichtete hinterher, Kirchner habe ihm zwar zum Sieg gratuliert, aber zugleich klargemacht, dass sie bis zum letzten Tag zu regieren gedenke und keine Starthilfe von ihr zu erwarten sei. Überraschend kam das nicht, schließlich hatte die Präsidentin schon vor Wochen per Dekret die Legislaturperiode bis zum 9. Dezember verlängert. Ursprünglich hätten Senat und Kongress am 30. November Feierabend gemacht. Nun könnte der Kirchnerismus, ehe er seine absolute Parlamentsmehrheit verliert, noch am Vorabend seines Abschieds Gesetze beschließen. Legal ist das. Es wäre aber auch ein in demokratischen Zeiten einmaliger Vorgang.
> Der Innenhof des Präsidentenpalastes, der Casa Rosada
Macri hatte sich mehr als nur ein paar logistische Absprachen über den Auszug der Kirchneristen aus dem Präsidentenpalast und den Ministerien erhofft; er wollte auch erfahren, ohne welches Spitzenpersonal er planen könne. Geht der Zentralbank-Chef Alejandro Vanoli freiwillig? Und Martín Sabbatella, der ultrakirchneristische Aufseher der staatlichen Medienbehörde Afsca? Kirchner ließ sich auf nichts ein. Kein Kommentar. »No valió la pena«, sagte Macri über das Treffen. »Es war sinnlos.«
Mit der Berufung seines Kabinetts hat der künftige Regent erste Fußspuren hinterlassen und eine Richtung vorgegeben. Wohin also will er Argentinien führen? Leicht fällt die außenpolitische Antwort. Außenministerin wird Susana Malcorra, augenblicklich noch Kabinettschefin von Ban Ki-moon, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen. In New York arbeitet sie seit mehr als zehn Jahren, vorher war sie bei IBM und Telecom. Mit ihr gibt Macri einem seiner Wahlkampfversprechen ein Gesicht: die Befreiung Argentiniens aus der Isolation.
Susana Malcorra mit Ban Ki-moon UN Photo/Rick Bajornas
Der 53. Präsident will sich von der Diplomatie des Kirchnerismus verabschieden. Cristina Kirchner hatte mit »einer Politik zwischen Beschimpfung und Konfrontation« die Beziehungen zu traditionellen Partnern wie den Nachbarn im Mercosur, den Vereinigten Staaten und Europa gekappt oder heruntergekühlt. Im Gegenzug verschaffte sie dem Land andere Verbündete, und vornehmlich solche von zweifelhaftem demokratischen Renommee: Russland, Venezuela, Kuba, Iran, China. Wladimir Putin, Fidel Castro, Hugo Chávez und seit dessen Tod Nicolás Maduro wurden den Argentiniern als neue beste Freunde vorgestellt.
Macri will geheime Wirtschaftsverträge mit China und Russland überprüfen, Sanktionen gegen Venezuela wegen der politischen Gefangenen anstrengen und die Amia-Vereinbarung mit Iran außer Kraft setzen; die sollte offiziell helfen, den Bombenanschlag von 1994 auf die Zentrale der jüdischen Gemeinde von Buenos Aires aufzuklären, war aber in Wahrheit ein Abkommen darüber, hier wie dort die Füße still zu halten und stattdessen Geschäfte miteinander zu machen.
Susana Malcorra, in ihrer Heimat kaum bekannt, dafür in der Welt vernetzt und geschätzt, verspricht eine mehr an westlichen Werten orientierte, weniger ideologiegetränkte Außenpolitik. Argentinien soll wieder verlässlich werden und damit interessant für Geldgeber und Investoren. Macri wertet mit dieser Wahl zudem das diplomatische Corps auf, das Cristina Kirchner mies behandelt hatte. Karrieren wurden nach Gutdünken beendet und freie Posten mit pibes besetzt, unerfahrenen Gefolgsleuten aus der Bewegung. Außenminister Héctor Timerman spielte zuletzt kaum mehr eine Nebenrolle, er war ein Durchsbildgeher, ein Statist in der hiesigen Politik. Nicht mal versorgt wurde er mit einem Abgeordnetenmandat oder ähnlichem. Seine Nachfolgerin soll wieder gestalten dürfen.
Mauricio Macri hat mit seinem Kabinett das Erwartbare geliefert. Glanz versprüht es nicht, dafür sind zu viele Bekannte dabei – und überhaupt viele, die neue Regierung ist ziemlich aufgebläht. Wenn man sich den letzten Minister endlich gemerkt hat, hat man den ersten bestimmt gerade wieder vergessen, und der zweite ist vielleicht schon zurückgetreten. Es ging wohl nicht anders. Der liberal-konservative Bürgermeister von Buenos Aires war mit den Radikalen, der heruntergekommenen Mitte-links-Volkspartei UCR, und der sozialliberalen Coalición Cívica eine Wahlallianz eingegangen. Heraus kamen Cambiemos (Lasst uns verändern) – und der Triumph am 22. November über den Regierungskandidaten Daniel Scioli. Die Helfer des Siegers haben Ämter verlangt. Es war Zahltag.
Ein Kabinett, dem der Präsident vertrauen kann, so lässt es sich vielleicht charakterisieren. Die Zeitung La Capital aus Rosario nennt es ein »Ensemble aus Kindheitsfreunden, Hauptstadtfunktionären und Verbündeten«. Macri bleibt sich zumindest treu. Er ist kein klassischer Politiker, sondern ein Seiteneinsteiger, er war Unternehmer und kam als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors zu Ruhm. Kandidaten für seine 2005 gegründete Partei Propuesta Republicana (PRO) hat er gern außerhalb der Politik gecastet, was Schauspielern, Komikern, Wirtschaftsmanagern, einstigen Fußballern und sogar Schiedsrichtern im Ruhestand Posten und Mandate bescherte. Er umging damit die auch am Río de la Plata grassierende Politikerverdrossenheit. Es ist kein Zufall, dass sein Kabinett gerade den Enttäuschten gefällt, die Abstand zu Parteien halten. Endlich werden Leute Minister, die nicht nur behaupten, etwas zu können, sondern das schon nachgewiesen haben – dieser Satz fällt oft, wenn man nachfragt.
Es ist anzunehmen, dass Macri das Misstrauen, mit dem viele seiner Landsleute der Politik begegnen, noch heute teilt. Mit seiner Mannschaft bedient er sie. Ewige Funktionäre und die unvermeidlichen Juristen haben lange regiert, jetzt übernehmen wieder los técnicos, die Spezialisten. Von einer »Ceocracia« spricht Perfil auf der Titelseite seiner Sonntagsausgabe, der Herrschaft der Geschäftsführer. Denn wie kein Präsident vor ihm schicke Macri »frühere Führungskräfte der Privatwirtschaft in Schlüsselpositionen der neuen Macht«.
Macri hat das Wagnis gescheut, dem Volk den Glauben an seine Politiker, deren Tatkraft und Ehrlichkeit zurückzugeben. Dies wäre ein lobenswertes Ziel gewesen – und zugleich ein wohl zu ehrgeiziges. Schon das Regieren wird schwierig genug werden. Der Peronismus, der große Wahlverlierer, könnte seine Muskeln spielen lassen, wie er es gerne tut, wenn unverschämterweise eine andere Kraft der Bestimmer ist. Seine Gewerkschaften könnten das Land wochenlang mit Streiks und Fabrikblockaden lahmlegen, falls ihnen nicht passt, was Macri macht, und eine Mehrheit im Parlament hat der Präsident ja ohnehin nicht.
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Dass all die Technokraten und Unternehmer ohne Stallgeruch in der Theorie exzellent regieren können, darf man annehmen. Und unter all den breitbeinigen Ministern der jüngeren Zeit, Alphatieren mit politischem Instinkt allesamt, die Volksnähe gut simulieren konnten, ist das Land ja auch nicht unbedingt vorangekommen. Die meisten haben nie etwas anderes gemacht, als Funktionär zu sein. Sagen ließen sie sich wenig bis nichts, und ärmer als die reichen Unternehmer sind sie heute trotzdem nicht.
Riskant ist Macris Strategie gleichwohl. In Buenos Aires hat sie funktioniert, auf einem eher kleinen Spielfeld. Allerdings ist der klassische Macriwähler – überdurchschnittlich gebildet und wohlhabend, mit Europa und den Vereinigten Staaten sympathisierend – anderswo deutlich seltener anzutreffen. Es könnte für Befremden sorgen, wenn im weiten, hilfsbedürftigen Hinterland Unangenehmes, vielleicht gar Schmerzhaftes verkündet werden soll – und dann die Schlauen aus der Hauptstadt anrücken, um ganz rational darzulegen, dass da keineswegs Reiche Politik für Reiche machten. Den Porteño, den Bürger aus Buenos Aires, hält der Nichtporteño sowieso für muy cheto – hochnäsig, etepetete, aufgeblasen.
Macri wird nicht daran vorbeikommen, dem Land weh zu tun, wenn er verändern will. Die Sozialprogramme kosten viel und bewirken wenig, weil der Staat die Armen bislang vor allem versorgt, aber nicht aus der Armut herausholt. Der Abbau der Importrestriktionen trifft vielleicht kleine und mittelständische Firmen, wenn der Markt – wie in den neunziger Jahren – von Billigware überschwemmt wird, und billiger als in Argentinien ist es mittlerweile fast überall auf der Welt. Große Geschenke sind sowieso nicht drin, weil die Kasse leer ist.
> Mauricio Macri am Wahlabend Foto: Facebook/Macri
Schluss mit der Armut, Schluss mit dem Drogenhandel, Schluss mit dem Streit, der die Gesellschaft zerreißt – das sollen die großen Themen der Präsidentschaft werden. Sehr edle Vorhaben hat sich Macri ausgesucht, aber mehr als die Überschriften kennt Argentinien noch nicht. Sobald es an die Produktion geht, wird’s unweigerlich knirschen. Hält die Regierung dagegen, wenn die peronistischen Halbstarken Krawall machen? Ertragen gerade die Ressortchefs, die aus den Führungsetagen von Lan, Farmacity, General Motors und Co. stammen, dass ihre Untertanen keine Untergebenen sind und sie selbst nicht weisungsbefugt? Wissen sie damit umzugehen, dass man recht haben kann und trotzdem nicht immer recht bekommt in der Politik?
Macri hat darauf verzichtet, einen Superminister für Wirtschaft und Finanzen zu ernennen. Womöglich wäre der angesichts der Fülle der Entscheidungen von zu vielen Seiten attackiert worden und nach spätestens zweieinhalb Monaten mit den Nerven am Ende gewesen. Nun wird die Last gemeinsam getragen, je nach Zählweise von sechs, zehn oder zwölf Ministern.
Es lässt sich kaum Schlechtes über das Kabinett sagen, wenngleich Linke die Ernennung von Juan José Aranguren, bis vor wenigen Monaten Chef des Ölkonzerns Shell, zum Energie- und Bergbauminister kritisieren. »Wenig Gutes in Sachen Fracking und Megabergbau« erwartet hier die taz. Nicht immer allerdings, das lehrt die Vergangenheit, gibt die Biografie das Programm vor. So entstammt Guillermo Dietrich einer Dynastie aus der Automobilindustrie. Als Transportminister von Buenos Aires hat er jedoch den Nahverkehr modernisiert, er gilt als Vater der Radwege (150 Kilometer), die in vergangenen sieben Jahren entstanden sind, und des Metrobus-Netzes. Sechs Linien sind es mittlerweile; die noch immer recht klapprigen, aber nach wie vor wunderschönen colectivos fahren auf eigenen Spuren und kommen deutlich schneller voran als früher. Beklagt hatten sich über die (sehr teuren) Investitionen und die Dauerbaustellen die, die Platz machen mussten: Auto- und vor allem Taxifahrer. Der Metrobus ist heute eines der Aushängeschilder von Macris zwei Amtszeiten als Hauptstadtbürgermeister, und er soll weiter ausgebaut werden – von Dietrich, der zum Transportminister Argentiniens aufsteigt.
Nur drei Frauen haben übrigens einen Posten bekommen – aber mehr als 20 Männer. Hier schickt der Wandelprediger Macri das Land erstaunlicherweise zurück in die Blütezeit des machismo argentino. Wobei: Verblüht ist der ja noch gar nicht. Am Herrenklub, der in den zehn Tagen seine Arbeit aufnehmen wird, stört sich Argentinien bisher jedenfalls nicht.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Weniger als drei Punkte haben die beiden Kandidaten am Ende getrennt, wobei man einrechnen muss, dass die kirchneristischen Stimmenzähler in unbeobachteten Augenblicken hier und da nach gutem Brauch nicht jede Stimme für Mauricio Macri gezählt haben werden und die für Daniel Scioli dafür doppelt. Oder dreifach.
Irgendwo in den sozialen Netzwerken schrieb am Montag ein Argentinier: Bei diesem knappen Vorsprung könne man davon ausgehen, dass der Oppositionsmann ohne die vielen eigenen Aufpasser, die sein Bündnis in den vergangenen Wochen mobilisiert habe, die Wahl verloren hätte. »Eine Schande für ein demokratisches Land ist das.« Muss nicht falsch sein, diese Annahme.
Buenos Aires in der Wahlnacht − Fotos (c): Jakob V. Latzko
Der schmale Abstand allerdings verharmlost die emotionale Wucht dieser Stichwahl um die Präsidentschaft. Sonntagnacht auf der Straße konnte man sie spüren, als Wähler und Anhänger Macris die Hupe ihres Autos kaum noch losließen, und wer zu Fuß unterwegs war, der atmete erleichtert auf: Vorbei. Wir sind ihn los, diesen Kirchnerismus, die Hure, die ihn geboren hat1. Endlich. Die Freunde des Kirchnerismus indes weinten; einige hatten noch gestern Nachmittag gerötete Augen und suchten Trost, den es nicht gab. Für sie ist viel Leben zusammengebrochen.
Der Kirchnerismus ist in den vergangenen zwölfeinhalb Jahren eben auch ganz tief in die Gefühlswelt jedes einzelnen Argentinier eingedrungen, negativ wie positiv. Wahrscheinlich kann diesbezüglich allenfalls noch die erste Regierung des Präsidenten Juan Domingo Perón mithalten. Néstor und Cristina Kirchner hatten ja ein Projekt, nac&pop sollte es sein, nacional y popular, für das ganze Land und für alle Schichten. Sie wollten verändern und nicht bloß regieren und sich die Taschen füllen (was sie trotzdem taten). Nach dem Bankrott von 2001/2002 sollte Argentinien wieder aufgebaut und zugleich umgebaut werden – der Plan: ein neues, besseres Land, erschaffen von den Guten, für alle. Para todos. Geklappt hat das nur in Ansätzen.
Und falls es den Kirchners und ihren Helfern doch bloß um die Macht ging, war dieses Schauspiel wenigstens toll inszeniert. All diese Lieder. Trommeln, Trompeten und Papierschnipsel. Diese Aufmärsche. Gehüpfe wie in der Kurve beim Fußball. Diese Mythen. Néstor ist nicht gestorben, er lebt weiter im Volk, oder er schaut uns mit Perón vom Himmel zu. Eine männliche Evita. Der Kirchnerismus benahm sich nicht selten wie eine Religion.
Die Regierung hat übrigens auch beim politischem Marketing Maßstäbe gesetzt. Der Buchstabe K – die erste große Erfindung – gehört heute praktisch dem kirchnerismo. Los k, das sind die Kirchneristen. Und die Frage Bist du k? versteht jeder in diesem Land auf Anhieb. Marken samt Logos wurden am Fließband produziert:Ahora 12, Encuentro, Tecnópolis, Sube, Pro.Cre.Ar, Educ.ar, Pro.Cre.Auto, Precios Cuidados, Conectar Igualdad und natürlich Fútbol para Todos, die kostenlosen Live-Spiele im Fernsehen. Alles fürs Volk.
Am Sonntag, das war: Ende einer Ära. Wie sollte man es, auf die eine Art oder auf die andere, nicht spüren?
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
(CW) Buenas. ¿Cómo estamos? ¿Todo bien? Me alegro. Zunächst, wie sich das gehört, die äußeren Bedingungen: Buenos Aires meldet 25,6 Grad, Sonnenschein und wolkenlosen Himmel. Knackig warm ist’s also, und wir sind noch im Frühling, muchachos. Gerade kommen wir aus dem Park, bisschen Gebuddel im Sand mit der Vierjährigen, sanftes Anschaukeln der Sechsjährigen, leichtes Fußballtraining mit dem Neuner, wir wollten uns ja nicht verletzen.
Marc Koch, der Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, will angeblich auch vorbeischauen und ein bisschen mitbloggen. Im Augenblick zickt er noch herum und verlangt einen Sonntagszuschlag. Scheint peronistische Gene zu haben, der Kerl. Falls wir uns einigen, stößt er von einer Vernissage zu uns. (Ja, so schreibt man das Wort, ich hab’s nachgeschlagen.) Hoffen wir, dass er das Niveau nicht zu sehr hebt. Napoleon hat gesagt:
Gelehrte und Intellektuelle sind für mich wie kokette Damen. Man sollte sie besuchen, mit ihnen parlieren, aber sie weder heiraten noch zu Ministern machen.
Wer, carajo, ist Napoleon?
(CW) Heute also wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt. Gesucht wird Präsident Nummer 53, und es kann nur einen geben: den Regierungsmann Daniel Scioli (58) oder den Oppositionskandidaten Mauricio Macri (56). Der eine ist noch Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der andere noch Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, ihre Nachfolger sind schon gewählt.
Wer heute verliert, hat erst mal nichts mehr. Se va a casa, tomando Mate, wie man in Argentinien sagt, der geht nach Hause und schlürft was ganz Bitteres. Scioli und Macri sind alte Freunde, sogar ihre Väter waren … bitte? … Ok. … Ich höre gerade aus der Regie, dass ich das schon erzählt habe.
12.25 Uhr.
(CW) Vielleicht mal ein paar Zahlen: 32 037 323 Argentinier müssen heute wählen. Ja, sie müssen. Argentinien hat eine Wahlpflicht. Bei den Vorwahlen Anfang August betrug die Wahlbeteiligung nur 74 Prozent, es war die niedrigste seit der Rückkehr zu Demokratie nach dem Ende der Militärdiktatur (1976 bis 1982). Am 25. Oktober, bei der ersten Wahlrunde, lag sie dann mit 81 Prozent deutlich höher. 2,5 Prozent hatten ein voto blanco abgegeben, also keinen der sechs Präsidentschaftskandidaten gewählt. Vier bis elf Prozent sollen noch nicht entschieden haben, wen sie wählen. Laut Marcos Peña, einem der Chefs der Kampagne des Präsidentschaftskandidaten Macri, sind es sieben bis acht Prozent.
Über das Land verteilt sind 94 979 mesas, Tische, die der Wähler aufsucht, um seine Stimme abzugeben.
12.30 Uhr.
(CW.) Man kann die Wahlpflicht übrigens umgehen: Wer mehr als 500 Kilometer entfernt von seinem Wohnort ist, braucht nicht abzustimmen. Es gab sogar mal die studentische Bewegung 501, deren Mitglieder sich einen Spaß daraus machten, am Wahltag abzuhauen, nämlich genau 501 Kilometer weit.
12.36 Uhr.
(CW) Vor einer halben Stunde habe ich die Kinder durch ein Wahllokal bei uns im Viertel geführt und ihnen alles erklärt. Wenn die das verstehen, verstehen Sie das auch. Also, es gibt in Argentinien keinen Zettel, auf dem man ankreuzt, wie wir das aus zivilierten Ländern Deutschland kennen. Stattdessen schafft jede Partei oder jedes Bündnis die boletas ins Wahllokal; die sehen ein bisschen aus wie Werbeflyer, schön bunt. Das hier ist zum Beispiel die boleta von Scioli:
Wenn man ihn wählen will, packt man den Schein in einen Umschlag und wirft diesen dann am Wahltisch in die Urne. Von 18 Uhr an wird ausgezählt.
»Aber die Leute, die da zählen, die können auch betrügen.«
Mein Sohn!
Das geschieht natürlich, weshalb die Parteien und Bündnisse versuchen, an jeden Wahltisch einen Aufseher zu platzieren, einen sogenannten fiscal. Der muss natürlich belohnt werden, weil er nur dann genau hinguckt. Und zu niedrig sollte der Lohn auch nicht sein, weil der Aufpasser sonst von der Konkurrenz abgeworben werden könnte. Meistens gibt es ein paar Hundert Pesos und ein Verpflegungspaket. Aber man braucht natürlich Leute, Leute, Leute − ein Nachteil für kleine Parteien, vor allem in den hintersten Ecken des Landes.
12.45 Uhr.
(CW) »Hecha la ley, hecha la trampa«, sagt ein argentinisches Sprichwort. Frei übersetzt: Der Argentinier findet immer einen Weg, um ein Gesetz zu umgehen. Scioli hat vorgestern jedenfalls ordentlich gegen den vorgeschriebenen Waffenstillstand verstoßen, als er sich mit dem Bürgermeister von Esteban Echeverría traf und sich dabei von Anhängern bejubeln ließ.
Seit Freitag, 8 Uhr, ist dies verboten. Auch Wahlkampfspots dürfen nicht mehr gesendet werden. Scioli hat das natürlich reichlich Häme im Netz beschert, nicht mal sein Name war mehr heilig: Aus Scioli wurde Yoli. Yo gleich ich, kapiert? Schon vor Wochen schrieb die Zeitung Clarín, die es mit dem Kandidaten der Regierung eigentlich gut meint: »Scioli sagt ich, Macri sagt wir.«
13 Uhr.
(CW) Noch ein bisschen was zur Ausgangslage. In allen Umfragen liegt Macri vorne, was nicht bedeuten muss, dass er auch gewinnt heute. Der Favorit aber ist er. Er hat sich das Jahr über stetig verbessert, und allein dass er es in die Stichwahl schafft, hatten Fachleute, zu denen wir uns zählen, nicht unbedingt erwartet. Und Scioli? Der war eigentlich schon durch und saß auf gepackten Koffern, bereit für den Umzug in die Casa Rosada. Infobae nennt ihn den »Benjamin Button der Politik«, nach jener Filmfigur, verkörpert von Brad Pitt, die alt auf die Welt kommt und als Baby stirbt. »Er fing an als Präsident und endete als Herausforderer.«
Herr Koch kennt den Film natürlich nicht. Guckt halt nur Ingmar Bergman und Wim Wenders.
Mittagessen!
13.30 Uhr.
(CW) Mauricio Macri, der Kandidat von Cambiemos (Lasst uns verändern), hat vor knapp einer Stunde gewählt.
Ein historischer Tag? Mal schauen. Einer aus dem Macrismus, der heute als Aufpasser im Einsatz ist, schreibt uns gerade: »Wir gewinnen mit vier Punkten Vorsprung. Oder mehr.«
17.40 in der Ersten Welt Deutschland
(MC) Ein klassischer Novembertag auf der Oberen Erdhälfte geht zu Ende: Strahlender Sonnenschein, Kinder im am Fluss, Kaffee&Kuchen in viel zu dicken Menschen. Vor 3-einhalb Stunden hat sich der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur AFP einen dürren Bericht über die Wahlen abgerungen. Die Agentur schreibt vom »von Kirchner unterstützten Linkspolitiker Daniel Scioli«. Haha! Ob Daniel S. das auch so sieht? Am Ende menetekelt AFP, der Wahlsieger trete »ein schwieriges Erbe an«. Um es mal freundlich auszudrücken.
18:04 in Deutschland
(MC) Die Meldungen aus Argentinien überschlagen sich!!: Die Lange-Brüder Klaus und Yago aus Argentinien sind 7. geworden. Nicht bei der Präsidentenwahl, Mensch! Da steht das Ergebnis doch noch gar nicht fest! Obwohl … wer weiß …? Nein, die Lange-Lümmels sind Segler. 49er-Klasse. Klingt n bisschen wie 6-7-8 im argentinischen TV. Da, wo die Macht wirklich kritisiert wird. Haha. Scherz!
18:15 in Deutschland
(MC) Ich müsste meine Sendung (Haha: jetzt warten Sie auf den Link. Ist aber noch geheim!) für morgen vorbereiten. Aber es ist so spannend!!! Nicht die Wahl, Mensch! Da steht das Ergebn Hm? … Was? Ah, ich höre gerade aus der Regie, dass ich diesen Gag schon gemacht habe. Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich die Praktikantin rauswerfe. Die geht mit Gag-Zetteln um wie der argentinische fiscal mit Wahlzetteln … Spannend ist das Spiel zwischen Ingolstadt und Darmstadt. Jawohl, mein Herr: Erste Liga.
18:30 in Deutschland
(MC) Apropos Wahlen: Was passiert eigentlich mit dem Indek, wenn Daniel S. nicht gewinnt?
18:54 in Deutschland (und in Italien)
(MC) Ganz sicher ist: Wenn Daniel S. nicht gewinnt, kommt Besuch nach Argentinien. Der Italiener Roberto Caradelli und seine Jungs vom Internationalen Währungsfonds (FMI, por sus siglas en español perdón: casteschahno) wollen mal wieder vorbeischauen. Nach einer Dekade! Die manche »die Gewonnene« nennen. Aber gute Freunde kann halt niemand trennen. No es así, Cris?
19:00 in Deutschland
(MC) +++EILMELDUNG+++EILMELDUNG+++Nach Auszählung der ersten Wahllokale in Rio Gallegos liegt die amtierende argentinische Präsidentin Crist … Ach neee!: Die Meldung soll ja erst in ein paar Stunden raus! Die aktuelle Eilmeldung: Ingolstadt hat das Spiel gedreht.
19:06 in Deutschland (und in Spanien)
(MC) Unfasslich: Real Madrid schmeißt Rafa Benítez doch nicht raus! Da ist Argentinien einfach weiter! #Präsidentschaftswahlen #Cristina
19:10 in Deutschland
(MC) Apropos Rausschmiss: Was wird jetzt eigentlich aus unserem Spezi Axel K.? Und dem dolar blue? Gehen die jetzt nach Uruguay?
19:24 in Deutschland
(MC) Kriege gerade einen sentimentalen Anfall
Que lo hagas bien hoy, Argentina!
19:30 in Deutschland
(MC) Fast 2 Stunden ohne Unterbrechung von den argentinischen Präsidentschaftswahlen berichtet. Objektiv! Fair! Unbestechlich! Und der Dank? Kein Honorar vom Herausgeber CW. Ich werde mich bei den zuständigen Aktivisten beschweren. Und auch bei ihr ! Jawohl!
(MC) Darmstadt 98 hat in Ingolstadt verloren. Unter anderem durch einen Elfmeter, der natürlich unberechtigt war. Der Schiedsrichter hieß übrigens Kircher. Also fast wie. Ne? Oder? Ich verabschiede mich und übergebe an den Herausgeber CW. Möge der Bessere gewinnen. Forza, Argentina! Good night. And good luck.
15.45 Uhr. (deutsche Zeit: 19.45)
(CW) Ich bin’s wieder. Schauen wir doch mal, was unsere beiden Kandidaten gestern so getrieben haben. Also, Daniel Scioli hat die Jungfrau von Luján besucht, aber nicht zu Fuß, wie sich das gehört für echte Argentinier. Er dankte ihr und bat sie für heute um einen »friedlichen und demokratischen Wahlgang«. Anschließend wurde im Kreise der Familie gegrillt.
Mauricio Macri spielte Paddle-Tennis, und zwar mit Martín Palermo. Man kennt sich aus gemeinsamen Tagen bei den Boca Juniors. Macri führte den Verein als Präsident (1996 bis 2008), Palermo schoss die Tore. Ja, alle. Keiner hat für Boca häufiger getroffen als er, El Loco, der Verrückte: 236-mal in 404 Spielen.
16 Uhr.
(CW) In Santiago del Estero lässt die kirchneristische Regierung übrigens Wähler per Taxi zur Stimmabgabe bringen. Kann man ruhig mal machen, und Santiago del Estero ist ja auch nicht die ärmste Provinz Argent … ach so. Ähm, trotzdem nett, zumal es dort ja auch noch viel heißer ist als bei uns: 32 Grad. Am Dienstag regnet’s aber.
(CW) Wo wir gerade beim Fußball waren: Diego Maradona wählt wieder, wie im ersten Durchgang am 25. Oktober, Scioli, »weil ich will, dass in meinem Land die Dinge, die noch fehlen, von der Person erledigt werden, die am besten vorbereitet und am seriösesten ist, um sie zu lösen«. So kompliziert, wie meine Übersetzung klingt, kann Diego natürlich nicht reden. Er hat übrigens auch an einen Wahlsieg von Aníbal Fernández in der Provinz Buenos Aires geglaubt. »Kein Zweifel, du gewinnst«, sagt er in diesem Video. »Du bist ein guter Mensch, du beklaust niemanden.«
Das Gelächter, das Sie gerade hören, kommt von der Stehplatztribüne des Quilmes Atlético Club, dessen Präsident Fernández ist. Ich habe Cristina Kirchners Kabinettschef vor einem Jahr mal zufällig getroffen, und als er hörte, dass ich Fan und Mitglied seines Vereins sei, versprach er, mir ein Trikot zukommen zu lassen, signiert von Miguel der Chinese Caneo, einem unserer großen Idole. Aníbal, kommt das Trikot noch?
16.40 Uhr.
(CW) Noch mal ein paar Hinweise für die, die durchmachen wollen: Bis Mitternacht argentinischer Zeit, also vier Uhr Deutschland, soll die Auszählung beendet sein; erste Zahlen werden aber, heißt es jedenfalls, schon um 19.30 Uhr veröffentlicht. Für halb elf sind Ergebnisse angekündigt, die zuverlässig sein sollen und verraten, wer der nächste Präsident wird. Es kann natürlich auch wieder alles später werden, so wie am 25. Oktober. Da hatte der Justizminister, der Herr des Wahlverfahrens, eigentlich um 22 Uhr erste Ergebnisse verlesen sollen. Aber der Schock im kirchneristischen Regierungslager war so groß, dass es später und später wurde. Man wollte wohl warten, dass Scioli an Macri vorbeizieht. Erst nach Mitternacht gab es offizielle Zahlen.
Der Fernsehsender C5N hatte übrigens schon um 17.58 Uhr, also zwei Minuten vor Schließung der Wahllokale, einen triumphalen Sieg Sciolis verkündet und ihn zum neuen Präsidenten ausgerufen. Obendrauf kürte man noch Aníbal Fernández zum künftigen Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Scioli lag am Ende gerade einmal zweieinhalb Punkte vorn und musste in die Stichwahl; Fernández verlor sogar mit weitem Abstand. Der Eigentümer von C5N ist natürlich ultra K, also ein Freund des Kirchnerismus, der Argentinien seit zwölfeinhalb Jahren regiert.
16.55 Uhr.
(CW) Der Neunjährige hat seit Wochen nur noch vier Fragen an mich: Wer, glaubst du, wird Präsident? Wen würdest du wählen? Das Auto da, ist das teuer? Teurer als das da? Notiz an mich selbst: »Vergiss auf keinen Fall die Mutter von Dings zu autorisieren, damit sie deine Tochter morgen vom Kindergarten abholen darf.«
17 Uhr.
(CW) Kein Witz: In Mexiko bekommt der, der gerade gewählt hat, den Daumen gefärbt. Damit er nicht noch einmal versucht abzustimmen. Die Farbe ist nicht abwaschbar und verschwindet nach zwei bis vier Tagen. Ist in Argentinien natürlich üüüüüüberhaupt nicht nötig.
17.10 Uhr.
(CW) Hoppla, ist mir durchgerutscht: Daniel Scioli hat auch schon gewählt, vor etwa drei Stunden.
Sorry, musste den eingebundenen Tweet von Scioli wieder entfernen. Zerschießt mir das ganze Format, keine Ahnung, warum. Begnügen wir uns mit einem Foto.
»Ohne Zweifel wird heute das Volk gewinnen, und ich vertraue ihm.« Eine seltsame Aussage.
Was es nicht gibt, sind Bücher. Auch nicht in der Bibliothek. Denn dort treibt Scioli Sport. Eine Bibliothek ohne Bücher. Was willste auch machen, wenn der Architekt das Ding unbedingt gewollt hat? Wieder abreißen? Lesen lernen? Anfangen zu lesen?
Ich bin gleich zurück. Muss mal gucken, ob in meinem Bad eine Toilette ist.
17.45 Uhr.
(CW) Scioli gilt übrigens als schwer verbissen, verlieren kann er nicht, er will immer die Nummer 1 sein, und hat schon als kleiner Junge rumerzählt, dass er mal Präsident werde. Steht alles in Scioli secreto, der Biografie des Kandidaten, verfasst von den Journalisten Pablo Ibáñez und Walter Schmidt. Tolles Buch!
Und wie sind die Initialen von Daniel Osvaldo Scioli? DOS! Nicht UNO. Hätte uns ja auch mal ein- oder wenigstens auffallen können. Dann müsste ich das jetzt nicht klauen von Ibáñez und Schmidt.
Jedenfalls: Hahahaha. Oder wie der Argentinier schriftlich lacht: Jajajajajaja.
17.53 Uhr.
In sieben Minuten schließen die Wahllokale, aber es kommt in Argentinien durchaus vor, dass sie ein bisschen länger offen bleiben. Weil man wieder getrödelt hat.
Falls Sie sich fragen, wo meine Frau steckt, die Vierjährige sagt’s Ihnen: »Mamá está en Dienstreise.« Tja, dreieinhalb Jahre Argentinien gehen an der Sprache nicht spurlos vorbei. Der Neunjährige hat gerade mitgeteilt, dass es in Deutschland heute »geschneet« habe.
18 Uhr.
Schluss. Aus. Vorbei. Ein argentinischer Journalist, der vom Kirchnerismus absolut gar nichts hält, hat uns gerade das Versprechen abgenommen, dass wir auf keinen Fall verraten dürfen, dass Mauricio Macri die Stichwahl mit mindestens zehn Punkten Vorsprung gewonnen hat.
18.04 Uhr.
(CW) Die ersten Fernsehsender, auch die, die dem Kirchnerismus nahe stehen, verkünden: Macri hat gewonnen.
18.10 Uhr.
(CW) Zeit, dass ich auch mal mich selbst zitiere:
Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen. Text: Grünschnabel gegen Chamäleon
18.15 Uhr.
(CW) Im búnker (heißt wirklich so), der Halle, in der heute Macris Anhänger feiern, wird schon gerufen: »Se siente, se siente, Mauricio Presidente.« − Man spürt’s, man spürt’s, Mauricio ist Präsident.
Scioli hatte sein Kabinett schon vor dem ersten Wahlgang vorgestellt und daran festgehalten. Es war nur noch offen, wer Außenminister würde. Was auffiel: Nur einer der 16 Posten sollte an eine Frau gehen. Immerhin wäre Silvina Batakis für Wirtschaft zuständig gewesen und nicht für Familia y trasto (Familie und Gedöns). Auch bemerkenswert: Nur zwei Minister aus der Kirchnerzeit hätten überlebt.
Jetzt wohl gar keiner.
18.30 Uhr.
(CW) Pause. Ich muss die Kinder abfüttern. Und der Neunjährige will nachher unbedingt zu Macri in den búnker. Gute Nachrichten: Das Verbot, Alkohol zu verkaufen und auszuschenken, endet in zweieinhalb Stunden. (Nicht, dass wir keinen Vorrat angelegt hätten.)
23:19 in Deutschland
(MC) Ich bin gar kein argentinischer Journalist, aber ich habe es dem Herausgeber CW trotzdem verraten: AFP, die höchst zuverlässige französische Nachrichtenagentur, meldet: Macri hat gewonnen.
23:22 in Deutschland
(MC) Ich muss wieder ran. CW, der Herausgeber, hat eine kurzfristige Elternzeit beantragt. Phhhh …
23:26 in Deutschland
(MC) Das ist jetzt echt der Moment, ein bisschen nachdenklich zu werden. Wenn es so ausgeht:
Das Ende einer Ära
23:31 in Deutschland
(MC) Respekt: Nicht mal in so einem Moment hören sie bei FpV auf, sich den Erfolg einzureden!
23:38 in Deutschland (18:38 im Búnker von Macri)
(MC) Gut für das Land, wenn es so käme, wie es Cornejo aus Mendoza − ein Parteigänger von Macri − verspricht:
23:50 in Deutschland
(MC) Er hat gesagt:
• schätzt den Wert der Arbeit
• respektiert andere Meinungen
• lügt die Leute nicht an
Sportlich, aber zu schaffen.
23:56 in Deutschland
(MC) CW ist Herausgeber. Zu Recht. Weil er es schon immer gewusst hat: Der 53. Präsident Argentiniens wird ein ganz anderer sein als viele vor ihm. Es braucht aber nicht so arg viel, das vorherzusehen. (Deswegen ist CW Herausgeber. Und nicht Chefkorrespondent. Haha!) Was aber wird aus diesem Peronismus? Der Ursache für die argentinische Krankheit?
00:15 in Deutschland (politische Zeit in Argentinien: 00.00)
(MC) Da fängt jetzt etwas ganz Neues an in Argentinien. Macri hat 9 Punkte Vorsprung. 15 Prozent der Stimmen sind ausgezählt. Keine Chance mehr, Daniel S. Wir sind nicht enttäuscht und nicht betroffen. Aber: Vorhang zu. Und nicht mehr alle Fragen offen. Buenas noches y buena suerte.
(CW) Ich wollte mich vorhin an Marcos Peña ranwanzen, den zukünftigen Kabinettschef von Macri, und horchen, welche Posten denn für Herrn Koch und mich vorgesehen seien in der Regierung. Und dann das: Der Neunjährige und ich, wir kamen gar nicht rein in den búnker! Obwohl wir akkreditiert waren! Und mit uns standen Hunderte vor der Tür! Ein Skandal!
Ist das schon die Arroganz der Macht?
1.50 Uhr.
(CW) Auch wir gratulieren jetzt mal Mauricio Macri, dem neuen Präsidenten Argentiniens. Es wird natürlich noch ausgezählt, warum auch immer das so lange dauert; aktuell sind wir bei 99,17 Prozent. Aber der Vorsprung ist groß genug: Macri steht bei 51,40 Prozent, Scioli bei 48,60. Wir sind gespannt, was nun kommt nach dem Ende des Kirchnerismus.
Uns hat es Spaß heute gemacht, vielen Dank fürs Lesen. Hasta luego. Un abrazo fuerte.
Der Peronismus ist, vielleicht, die politische Bewegung mit der weltweit höchsten Dichte an Anekdoten und Kalendersprüchen. Sein Erfinder Juan Domingo Perón (1895 bis 1974), dreimal Präsident Argentiniens, war ein begnadeter Wortakrobat. Viele seiner Weisheiten sind längst Volkseigentum, sie werden zitiert und abgewandelt.
Ich habe Bösewichte gesehen, aus denen gute Menschen wurden. Aber niemals einen Idioten, der wieder intelligent geworden wäre.
Die Preise steigen im Fahrstuhl, die Löhne nehmen die Treppe.
Ich bin ein friedfertiger General, so was wie ein pflanzenfressender Löwe.
Wir Peronisten sind wie Katzen. Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.
Für den Peronismus gibt es nicht mehr als nur eine Klasse von Menschen: die, die arbeiten.
Doch trotz all der Beschreibungen, die das Idol der Bewegung hinterlassen hat, ist der Peronismus kaum zu begreifen. Er orientiert sich mal nach links und mal nach rechts, dann wieder tummelt er sich dazwischen; er hat kein festgelegtes Programm, nicht mal eine Organisation (sondern viele und viele untereinander verfeindete), ja selbst die Suche nach Ideen als Grundlage des Handelns führt ins Nichts. Fündig wird man eher im Tierreich, bei einem Wesen, das ähnlich anpassungsfähig ist: dem Chamäleon. Gefragt nach der wahren Ideologie dieser unvergleichbaren Bewegung, soll einer der Unternehmerfreunde Peróns mit einem Bonmot geantwortet haben: »Man muss immer dem Weg des Geldes folgen. Wenn Geld da ist, werden Eisenbahnen gekauft. Wenn nicht, werden sie verkauft.«1
Regierungsmann Daniel Scioli (58), scheidender Gouverneur der Provinz Buenos Aires, schafft es offenbar nicht, den Rückstand aufzuholen, den Meinungsforscher ermittelt haben. Seine vielleicht letzte große Chance, das 80 Minuten lange TV-Duell am vergangenen Sonntag, hat der frühere Motorbootrennfahrer nicht nutzen können. Allenfalls ein Unentschieden gelang ihm, die meisten Umfragen sahen sogar seinen Gegner vorn. Dabei hatte Macri (56) keineswegs brilliert. Er rezitierte ausgiebig aus seinem Wahlkampfredenbüchlein und bestritt alles, was Scioli einfiel an möglichen Folgeschäden einer Amtsübernahme Macris: die Abwertung des Pesos. Auch die Abwertung des Pesos. Und die Abwertung des Pesos, die sowieso. Er wirkte ruhig und unaufgeregt, mitunter fast eine Spur zu lässig. Wenn er nicht noch versucht, in den letzten Tagen über den Río de la Plata zu laufen, sollte er sein Ziel unbeschadet erreichen.
Alles andere wäre, mittlerweile, eine ziemliche Sensation. Erstaunlich, wie sich die Stimmung gedreht hat. Bei den Vorwahlen Anfang August hatte Macri noch acht Prozentpunkte hinter Scioli gelegen; in der ersten Wahlrunde am 25. Oktober waren es dann nur noch zweieinhalb; und jetzt führt er angeblich. Warum? Sieben der mehr als 32 Millionen wahlberechtigten Argentinier haben vor vier Wochen weder für ihn noch für Scioli gestimmt, sondern für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten der antikirchneristischen Opposition. Am Sonntag wollen die meisten von ihnen offenbar Macri wählen.
Scioli hatte für die Fernsehdebatte Attacken versprochen, und dann war es doch Macri, der als Erster angriff. »Was ist nur aus dir geworden? Du ähnelst einem der Experten von 6-7-8«, sagte er. 6-7-8 ist eine Talkshow am Sonntagabend, in der strenggläubige Kirchneristen gegen die Opposition in Politik und Medien hetzen. Ein paar Tage zuvor hatte Scioli die dicke Staubschicht von einem alten, aber unvergessenen Zitat gepustet: Wenn Macri regiere, »werden die Wissenschaftler wieder Teller spülen«. Es war ein weiterer Versuch, seinen Rivalen dem Volk als herzlosen Neoliberalen vorzuführen. »¡Andá a lavar los platos!«2, hatte 1994 Domingo Cavallo, der Wirtschaftsminister des Präsidenten Carlos Menem, einer Soziologin zugerufen, die sich über die steigende Arbeitslosigkeit beschwerte.
Macri soll Scioli diesen Vergleich übel genommen haben, oder er tat zumindest so. Die beiden sind alte Freunde, zumindest waren sie es. Schon José Scioli und Franco Macri, ihre Väter, hatten sich sehr nahe gestanden. Franco Macri, heute 85 Jahre alt, ist einer der schwerreichen Wirtschaftskapitäne Argentiniens – und ein besonders umstrittener, weil er dank bester Kontakte in die hohe Politik zu allen Zeiten Geschäfte mit dem Staat gemacht hat. Einer seiner Schachpartner war: Daniel Scioli.3
Überhaupt Schach, was für ein Thema! Die frühere Journalistin Gabriela Cerruti, heute kirchneristische Abgeordnete in der Hauptstadt, erzählt in El Pibe, der Biografie Mauricio Macris, wie dieser zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr jeden Sonntagvormittag drei Stunden lang mit dem Vater spielen musste. Anschließend stolzierte der Patriarch zum großen Tisch, an dem sich die Familie zum Mittagessen versammelte, und rief aus: »Dieser dämliche Grünschnabel wird mich nie besiegen.« Irgendwann war der Alte dann doch einmal dran. Schachmatt. Er schaute überrascht und schwieg, packte in aller Ruhe die Figuren ein und stellte sie mit dem Brett in das höchste Regal, das er, auf Zehenspitzen stehend, erreichte. Nie wieder hat er mit dem Sohn gespielt.
Im TV-Duell revanchierte sich Mauricio Macri für den Tellerwäscher-Satz und landete einen Wirkungstreffer, den Scioli und seine Berater – eingestellt auf einen zahmen Gegner – nicht hatten kommen sehen. Der Kirchnerist reagierte fahrig, sein Kopf pendelte hin und her; er sprach den Kontrahenten mit »Ingenieur Macri« an, als wäre der ein Fremder, und guckte dabei nicht einmal zu ihm hinüber. Später fing er sich ein wenig und argumentierte besser, aber überzeugend war sein Auftritt nicht. Die Zeitung Clarín schrieb, der Schachliebhaber Scioli sei »en zugzwang« gewesen, ein Gefangener »dieser seltsamen Stellung, in der jede Figur, die du bewegst, deine Situation vermutlich nur noch schlimmer macht«.
> Daniel Scioli gestern beim Wahlkampfabschluss in Mar del Plata Foto: Scioli/Facebook
Es sind zwar noch drei Tage bis zur Entscheidung, aber schon gestern haben die beiden Kandidaten ihren Wahlkampf mit einer letzten großen Kundgebung offiziell beendet. Macri reiste nach Humahuaca in die Nordprovinz Jujuy, wo er in der ersten Wahlrunde nur Dritter geworden war. Scioli zog es dorthin, wo der Argentinier gern mit vielen anderen Argentiniern seinen Sommerurlaub verbringt: an die Atlantikküste nach Mar del Plata. Seit Freitagmorgen um acht gilt der Waffenstillstand. Keine Auftritte. Keine Wahlkampfspots im Fernsehen und Radio. Nur im Internet und den sozialen Netzen darf noch geworben werden.
So wahrscheinlich ein Sieg Macris ist, der Peronismus wird stark bleiben. In mehr als der Hälfte aller 24 Provinzen stellt er den Gouverneur, manche von ihnen stehen Präsidentin Cristina Kirchner nahe, andere hassen sie, aber alle sind Peronisten. Gegen sie kann Macri nicht regieren. Und ohne sie auch nicht.
»In Argentinien wird dir alles verziehen, außer du sprichst schlecht von Perón und dem Peronismus«, schreibt die Journalistin Silvia D. Mercado in ihrem aktuellen Buch El relato peronista.4 »Der Spitzname Gorilla5 ist fast so, als würden sie im Nazi-Deutschland zu dir Jude sagen. Du bist außerhalb des Registers. Sie stecken dir einen gelben Stern ans Sakko, und deine Worte verlieren ihren Wert. Die Leute sehen dich auf der Straße und wechseln den Bürgersteig.«
> Mauricio Macri gestern beim Wahlkampfabschluss in Humahuaca Foto: Macri/Facebook
Auch deshalb hat sich Macri peronisiert – nicht erst, als er in der Hauptstadt, die er seit 2007 regiert, eine Perón-Statue einweihte. Den Wandel, den er Argentinien verspricht, hat er schon hinter sich, nur entgegengesetzt. Er will nicht mehr der sehr liberale Reformer sein, vor allem, weil nur eine Minderheit den radikalen Neuanfang will. Er bekennt sich zur Rückverstaatlichung des Ölkonzerns YPF, eine der überaus populären Entscheidungen des Kirchnerismus, gegen die seine Partei noch 2012 im Parlament gestimmt hatte. Der Staat soll bitte stark bleiben, so wünscht es das Volk bis hoch in die Mittelschicht, und Macri versucht nicht mehr, es ihm auszureden.
Eine Obsession für die Neunziger, die »verlorenen Dekade«, hat die Zeitung La Nación den Argentiniern jüngst bescheinigt. Eine neue goldene, unbeschwerte Zeit schien aufzuziehen, denn die große Privatisierung löste so viele Probleme auf einmal. Präsident Menem benahm sich wie ein Popstar, fuhr im Sportwagen herum und umarmte die Rolling Stones. Seine Untertanen, jedenfalls die mit Geld, drehten ähnlich durch und ließen es krachen. Doch Menem vererbte dem Nachfolger ein ausverkauftes Land und ist heute als Überträger von Pech und Unglücken aller Art verschrien, weshalb sich Abergläubische, wenn sie seinen Namen hören oder aussprechen, gern in den Schritt (Männer) oder an die Brust (Frauen) fassen. Das soll die Ansteckung verhindern.
Der Kirchnerismus hat versucht, Macri zum Wiedergänger Menems zu machen, und tatsächlich gibt es Zitate, die den Kandidaten überführen. »Der große Transformator« sei Menem, sagte er 2003, als er gerade in die Politik eingestiegen war. Vier Jahre brauchte er, um sich öffentlich zu widerrufen. »Bei Menem habe ich mich geirrt«, sagte er. »Menem war für alle ein Desaster.«
Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen.
Man kann ihn für unerfahren halten, weil er erst vor acht Jahren sein erstes und bislang einziges politisches Amt angetreten hat, das des Bürgermeisters von Buenos Aires. Zuvor war er allerdings 13 Jahre lang Präsident der Boca Juniors gewesen, und der mit Abstand populärste Fußballklub im Land hat die größten Erfolge seiner mehr als hundertjährigen Geschichte genau in dieser Zeit gefeiert. Unterschätzen sollte man Macri also nicht. Ein Gewinner ist er.
»Für einen Peronisten kann es nichts Besseres geben als einen anderen Peronisten«, hat Juan Domingo Perón einst gesagt. Es ist die sechste der 20 peronistischen Wahrheiten, die im großen Fundus aus Zitaten, Sprüchen und Schnurren ganz oben liegen. Mit Mauricio Macri wird sich die Bewegung trotzdem gut stellen wollen – und zwar aus reinem Selbsterhaltungstrieb: Seine Gouverneure und Bürgermeister im ganzen Land hängen seit Ewigkeiten am Tropf des Präsidenten. Ohne Geld aus der Staatskasse riskieren sie, was sie am meisten lieben: Macht.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
zitiert nach Silvia D. Mercado: El relato peronista. Porque la única verdad no siempre es la realidad, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2015, S. 279. [↩]
Wenn nichts Dramatisches mehr passiert, gewinnt Mauricio Macri am 22. November die Stichwahl um die Präsidentschaft. Gleich fünf Umfragen zeigen, dass der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister den Rückstand von zweieinhalb Punkten aus dem ersten Wahlgang in einen Vorsprung verwandelt hat. Mal liegt er sechs Punkte vor dem Regierungsmann Daniel Scioli, mal acht, bisweilen sind es sogar mehr als zehn. »Wär’s Fußball, würde man von einem Schützenfest sprechen«, schreibt Clarín.
Nun ist Argentinien eine der weltweit führenden Bühnen für große Dramen, und Umfragen werden am Río de la Plata gern bestellt, um Stimmungen zu machen statt sie zu messen. Dennoch spricht viel dafür, dass es kommt wie prognostiziert. Die Angstkampagne, die der Kirchnerismus nach dem für das Regierungslager enttäuschenden Wahlergebnis vom 25. Oktober ausgebrütet hatte, ist gescheitert. Dass sie nicht gestoppt wird, zeigt, wie ratlos die amtierende Präsidentin und ihre Leute sind. Am Sonntag treffen sich beiden Kandidaten zwar zum TV-Duell, aber Wunder sind auch da nicht zu erwarten. Sciolis Stärke ist das Zuschütten von Gräben, nicht das Ausheben, und unter den Rhetorikern gehört er zur Gattung der Einschläferer. Er wiederholt sich gern, und das mit monotoner Stimme. Die schwierigere Rolle hat er auch: Um seine Unabhängigkeit zu beteuern, muss er die Präsidentin mit Dreck bewerfen. Zu viel darf sie jedoch nicht abbekommen, schließlich ist er ihr Kandidat.
> Cristina Kirchner und Daniel Scioli Foto: Casa Rosada
Immerhin, schaden kann sie ihm wohl kaum noch. Ihre große, besonders bizarre Rede am vorigen Freitag, als sie im Hauptstadtviertel Palermo den zweiten Abschnitt eines Wissenschafts- und Technologiezentrums einweihte, soll die letzte bis zur Stichwahl gewesen, und wenn wir ganz leise sind, können wir Scioli noch immer aufatmen hören. Die Amtsinhaberin darf jedenfalls in den kommenden eineinhalb Wochen nicht mehr im Fernsehen sprechen, wobei man besser nur kleine Beträge darauf setzt, dass sie sich an das Schweigegebot auch hält.
Diesmal hatte Kirchner etwas weiter hinten im Geschichtsbuch geblättert, um ihre Landsleute vor Mauricio Macri zu warnen. Nicht von Carlos Menem, dem neoliberalen Staatschef der Neunziger, erzählte sie, sondern von dessen Nachfolger, dem einstigen Hauptstadtbürgermeister Fernando de la Rúa, der am 20. Dezember 2001 um 19.52 Uhr mit dem Hubschrauber aus der Casa Rosada getürmt war. Ein ewiges Bild im kollektiven Gedächtnis.
Tatsächlich hat seit der Gründung des Peronismus vor 70 Jahren kein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt einer anderen Partei seine Amtszeit zu Ende gebracht. Arturo Frondizi (1962) und Arturo Illia (1966) wurden aus dem Amt geputscht; Raúl Alfonsín stürzte 1989 über die Hyperinflation, de la Rúa über die aufziehende Staatspleite. Der letzte Nichtperonist, der durchgehalten hat, war Marcelo Torcuato de Alvear (1922 bis 1928), und auch er hinterließ eine Wirtschaftskrise, was zumindest von Traditionsbewusstsein zeugte.
Eine Schmutzkampagne allerdings bestritt Kirchner. Darunter »leidet diese Präsidentin tagtäglich«, sagte die Präsidentin und beklagte die vielen Berichte über ihre angebliche bipolare Störung. Sie dementierte sogleich, jedenfalls sollte es wohl ein Dementi sein: »Es heißt doch, Einstein war bipolar, nicht? Schau an. Wie schade, ich könnte Einstein ähneln, aber ich bin ja nicht bipolar.« Einmal zeigte sie gen Himmel, genau genommen hinauf zu den beiden argentinischen Satelliten, und verriet den aktuellen Aufenthaltsort ihres 2010 verstorbenen Mannes und Amtsvorgängers Néstor Kirchner. »Wisst ihr, wo er ist, wo er ist? Dort oben, bei Arsat-1 und Arsat-2, ist er«, rief sie, die Stimme auf Krächzen moduliert. »Er ist dort oben, wie ein kosmischer Glücksdrache.«
Und Scioli? Der hatte paar Tage lang vorgegeben, er werde sich von der Amtsinhaberin absetzen, um die antikirchneristischen Wähler zu verführen. »Más Scioli que nunca«, hieß die Parole. »Mehr Scioli als je zuvor.« Der einstige Motorbootrennfahrer redete über Tabuthemen (»Ich werde weder die Inflation noch die Armut abstreiten.«) und ging sogar so weit, den Kirchnerismus, der sich selbst für einzigartig hält, mit anderen auf eine Stufe zu stellen. »Ich glaube, wie bei jeder Regierung oder politischen Kraft gibt es Dinge, die er gut gemacht hat, und andere, bei denen er nicht die Erwartungen der Gesellschaft erfüllt hat«, sagte er. Eine Selbstbefreiung, endlich. Dann kam der Freitag, den Argentiniern erschien Cristina, und der Kandidat hatte es wieder nicht geschafft, den Termin mit ihr abzusagen.
Es war ein jämmerlicher Anblick: Scioli kaute an den Fingernägeln, er hielt den Kopf gesenkt und schien sich bisweilen in sich selbst verstecken zu wollen. Er sah aus wie ein ungezogener Schüler, der nachsitzen muss – und noch denkt: zu Recht. Offenbar kann oder darf oder will er sich nicht lösen. Man wüsste zu gern, was die Präsidentin gegen ihn in der Hand hat. Es muss allerhand sein.
Die beiden verbindet ja ein schwer durchschaubares Verhältnis. Er ist Peronist wie sie und war von 2003 an vier Jahre lang Vizepräsident ihres Mannes. Danach gewann er zweimal die Gouverneurswahl in der Provinz Buenos Aires, und als Kirchner in die Casa Rosada einzog, begann sie mit ihm zu spielen. Warum? Weil sie es konnte. Wie viele andere Gouverneure brauchte er Geld aus ihrem Staatshaushalt; manchmal bekam er es, oft auch nicht, das hing von allerlei ab, meistens von der Laune der Präsidentin, auch da erging es ihm wie dem Rest der Provinzfürsten und Bürgermeister im Land.
Vor zweieinhalb Jahren stand Scioli kurz vor dem Gang in die Opposition. Er verhandelte mit dem peronistischen Rebellen Sergio Massa über eine Allianz für die Parlamentswahl. Man war sich schon einig, und dann sagte Scioli doch noch ab, was auch erklärt, warum er in diesen Tagen keine Unterstützung von Massa erhält, dem Drittplatzierten des ersten Wahlgangs. Kirchner hat diesen Verrat ohnehin nicht vergessen.
Wen die Präsidentin öffentlich zusammenfaltet, der gewinnt an Ansehen, so verrückt ist die argentinische Politik. Jahrelang hat sich Scioli von ihr schikanieren lassen − und davon profitiert, weil er als Kontrast wahrgenommen wurde. Doch seit sie ihm die Nachfolge angeboten hat, darf sie nicht mehr schlecht über ihn reden. Und da ihr Gutes nicht einfällt, das sie sagen könnte, ist jetzt Mauricio Macri ihr Opfer.
Auch dem bekommt das gut. Schon früh haben ihn seine Berater gedrängt, dem Duell mit der Präsidentin auszuweichen. Den Kirchnerismus darf er attackieren, dessen Chefin nicht. Angriffe hat er inzwischen fast eingestellt, er führt ja und kann sich aufs Verteidigen beschränken. Jetzt ist er der Kandidat, den man wählt, um Argentinien von Kirchner zu erlösen. Auch das erklärt die steigende Popularität des einstigen Präsidenten der Boca Juniors (1995 bis 2008).
Acht Jahre schon lauscht das Land dieser Präsidentin, und sie redet heute ja mehr denn je. Sie hört auch nicht auf zu drohen, sie genießt es, Furcht zu verbreiten. Giftig und verbissen, auch gehässig sind ihre Reden. Bisweilen dringt sie sogar − wie auf der Suche nach Néstor − in Sphären vor, die Zuhörern ohne Esoterik-Diplom verschlossen bleiben. Offen ist, ob solche Ausflüge geplant sind oder die Präsidentin improvisiert, weil sie gerade den Faden verloren hat (und schon vor langer Zeit die Kunst der kurzen Rede).
Macri spricht bekömmlicher. »No tengamos miedo«, ist einer seiner Standardsätze. »Lasst uns keine Angst haben.« Wo er auftritt, ist die Welt bunt und gut drauf, manchmal sieht man den Kandidaten vor lauter Luftballons nicht. Wahlkampf mit den Mitteln eines Kindergeburtstages. Gespart wird an den Inhalten. Zu den heiklen Themen schweigt Macri, »keine Wellen machen«, heißt die Strategie. Was mit den Renten passieren soll, dem Dollar, den vielen Staatshilfen, den teuren Fußball-Liveübertragungen − alles nach wie vor unklar. Macri verspricht vor allem, was populär ist: Investionen in Schulen, Polizei und Straßen, einen harten Kampf gegen Armut, Drogenhandel und Kriminalität, dazu mehr Flugrouten, damit das Staatsunternehmen Aerolíneas Argentinas weniger Verluste macht.
Aber er droht eben auch nicht, und das ist im Kirchnerland schon viel.
Sogar das, was Argentinier liderazgo nennen, die Tauglichkeit für Führungsaufgaben, bescheinigt ihm Kirchner, die Nummer eins im Land, neuerdings in fast jeder Ansprache. Wenn sie ihn fürchtet, muss er ja stark sein. Bei Daniel Scioli ist mittlerweile der Eindruck: Der braucht Hilfe. Und eine große Schwäche für schwache Politiker haben Argentinier nicht.
♦♦♦♦♦
Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Doch, doch, witzig ist er, der Wahlkampf um die Präsidentschaft. Argentinier haben ja einen speziellen, sehr flinken und oft abgründigen Humor, der ihnen hilft, all den Irrsinn, der sie umgibt und zu dem sie natürlich selbst viel beitragen, erträglicher zu machen. Aber alles, was war, ist nichts gegen das, was nun kommt.
Vor Argentinien liegen nämlich – von heute an gezählt – noch 36 unbeschwerte Tage. Am 22. November wird ein neuer Präsident gewählt, und wenn der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri den linkspopulistischen Regierungskandidaten Daniel Scioli besiegt, beginnt mit seinem Amtsantritt am 10. Dezember unverzüglich der Untergang des Landes. Sagt die Regierung. Dann kürzt der neue Präsident das Kindergeld und streicht die staatlichen Hilfen für Arme, er nimmt den Leuten auch Fútbol para Todos (Fußball für Alle) weg, die kostenlose Live-Übertragung der Ligaspiele, und sieht gleichgültig zu, wie die Arbeitslosigkeit steigt, die Löhne sinken und der Peso an Wert verliert. Es gefällt ihm sogar.
Vor allem aber privatisiert Macri alles. Wirklich alles.
> Scherz auf Whatsapp: Macri ist der Gruppe beigetreten. – Macri hat die Gruppe privatisiert.
Und nicht einmal dabei belässt er es. Wenn Macri gewinnt,
heiratet die Mutter von McFly Biff;
wird der Toast auf die Seite mit der Marmelade fallen;
fängt Wile E. Coyote Road Runner;
machen sie aus Bambi Pastete;
trinkt das Baby nicht mehr aus deiner Brust;
verlangt Chewbacca von dir, dass du ihn kämmst;
wird dir dein Hund nicht mehr das Stöckchen holen;
enthält das Überraschungsei keine Überraschung mehr;
Witzig also ist der Wahlkampf. Aber das kann er nur sein, weil er zugleich schmutzig ist. Das eine bedingt das andere, der Witz ist die Antwort auf den Schmutz. Die Regierung von Cristina Kirchner versucht gerade, und zwar ganz ernsthaft, den Oppositionskandidaten in einen Alleskaputtmacher zu verwandeln. Von Stärke zeugt das nicht, im Gegenteil: Wer Angst schürt, fürchtet sich bekanntlich selbst, Machtwechsel bedeutet eben auch Machtverlust. Eine Regierung, der nach zwölf Jahren Herrschaft als Werbung für sich selbst nichts Besseres einfällt als das Warnen vor der Zeit ohne sie, misstraut ihrer Bilanz. Auch Meinungsforscher und Politikwissenschaftler glauben übrigens, dass die Angstkampagne zum Bumerang werden könnte.
Doch die Angst ist so etwas wie die letzte Patrone, die der Kirchnerismus noch hat vor der gefürchteten Stichwahl. Denn ein Zusammengehen mit den peronistischen Rebellen um Sergio Massa wird es wohl nicht geben. Massa, mit 21 Prozent der Drittplatzierte des ersten Wahlgangs vom 25. Oktober, hat sich festgelegt: Für den Regierungsmann Scioli wird er nicht stimmen. Das bedeutet im Umkehrschluss, wenngleich er es nicht ausdrücklich sagt, dass er Macri will. Wie viele seiner mehr als fünf Millionen Wähler ihm folgen, lässt sich schwer sagen. Klar ist aber, dass diese Masse auf Präsidentensuche die Wahl entscheidet.
Verglichen mit den cleveren Gegenkampagnen im Netz, die das Angstmachen übertreiben und die Angstmacher lächerlich machen, wirkt das, was der Kirchnerismus den Wählern auftischt, plump und einfallslos. Mit Macri, das ist die Kernbotschaft, kehrt der Neoliberalismus der neunziger Jahre zurück, die berühmte Epoche von Pizza y Champagne, als es scheinbar Geld im Überfluss gab, weil Präsident Carlos Menem Staatsbetrieb um Staatsbetrieb verscherbelte. Das Ende ist bekannt: erst Urlaube in Miami und ein Leben in Saus und Braus für die Mittelschicht, dann 2001 Staatspleite, Chaos, Straßenschlachten, Tote, Elend. Man hat es nicht vergessen – und auch nicht, dass es die Kirchners waren, unter denen es seit 2003 wieder eine ganze Weile bergauf gegangen ist. Deshalb wird Macri den Argentiniern als neuer Menem verkauft, als Schreckgespenst und Mann von gestern. Das Volk soll bitte glauben, dass seine Ideen das Land zurück in diese Vergangenheit führten.
Diese Argumentation hat freilich drei – mindestens drei – Schwächen: Erstens hat nicht Macri in den neunziger Jahren an der Seite Menems gestanden, sondern sein aktueller Gegner Daniel Scioli, der damals von eben diesem Präsidenten in die Politik geholt wurde und ihn bald darauf als Abgeordneter »mit Krallen und Zähnen« verteidigte, genau wie Cristina Kirchner übrigens; zweitens hat sich Menem selbst gewandelt, heute ist er: Kirchnerist; und drittens ist Macri erst seit 2003 politisch aktiv.
> Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt
Oder auch das: Macri bringe die Armut zurück nach Argentinien, behauptet die Regierung, die sich seit zwei Jahren nicht mehr traut, sie zu messen, wohl aus gutem Grund. Unabhängige Studien gehen davon aus, dass die Armut wieder wächst, sie soll sogar das Niveau der neunziger Jahre erreicht haben – trotz all der Sozialprogramme, die der Kirchnerismus aufgelegt hat, trotz des Kindergeldes, das ständig erhöht werden muss, damit es von der Inflation nicht aufgefressen wird. Und der Peso, der mit Macri angeblich an Wert verlieren würde, verliert ja schon Monat für Monat an Wert. »Die Frage ist, warum die Armen nach so vielen Jahren mit günstigen internationalen Rahmenbedingungen für Argentinien so viel Angst haben sollen, noch ärmer zu werden«, meint der Rechtsprofessor Ezequiel Spector. »In wirklich prosperierenden Ländern sind Regierungswechsel nicht traumatisch. Man feiert die Demokratie und die Alternative.«
Gewiss, man weiß nicht, was mit Macri kommt, er selbst hat über seine Pläne bislang auch wenig verraten; seine Versprechen sind eher vage: Wandel, Arbeitsplätze und Investitionen aus dem Ausland. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass es den Argentiniern – oder zumindest dem Großteil – besser gehen wird als jetzt, wenn er regiert. Nur: Schlau wird man ja aus sowieso immer erst aus der Regierung und nie aus den Kandidaten.
Ein kultureller Wandel ist jedoch wahrscheinlich. Fútbol para Todos wird Macri wohl nicht antasten − er bestätigte damit ja alle Vorurteile, er mache Politik für die Reichen. Versprochen hat er aber, die kostenlosen Live-Spiele nicht als Dauerwerbesendung für die Regierung zu nutzen, wie es der Kirchnerismus seit Jahren tut. Auch die Fernsehansprachen mit Überlänge − vor einer Woche redete die Präsidentin 168 Minuten − sollen ein Ende haben.
Sein Kontrahent Scioli repräsentiert dagegen − kulturell betrachtet − eher schlechte argentinische Angewohnheiten. Die Präsidentschaftsdebatte Anfang Oktober, die erste in der Geschichte des Landes, hat er als einziger der sechs Kandidaten geschwänzt. Dies zeige, so schreibt Pablo Sirvén in der Zeitung La Nación, »dass er nicht toleriert, oder es ihm Angst macht, dass andere anderer Meinung sind als er«. Obendrein, so Sirvén, »verwechselt er den Staat mit sich selbst«. Gemeint ist: Der Gouverneur begreift sich als Eigentümer der Provinz Buenos Aires, die er seit acht Jahren regiert. Und schließlich könne man bei Scioli noch »ein anderes Kennzeichen peronistischer Anführer ausmachen: die Vetternwirtschaft«. Tatsächlich ist die Politik am Río de la Plata voller Ehefrauen und Ehemänner, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Schwager und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen, die nicht nur Beiwerk sind, sondern selbst nach Ämtern streben, als wären’s Erbgüter.
Sciolis Frau, das Ex-Model Karina Rabolini, führt als Präsidentin die Bank-Stiftung der von ihrem Mann regierten Provinz. Sein Bruder José, genannt Pepe, spielt als Wahlkampfstratege eine wichtige Rolle. Lorena, die Tochter, die der einstige Motorbootrennfahrer erst nach 15 Jahren anerkannt hat, zieht als »Fahnenträgerin« von Desarrollo Argentino, der Denk- und Spendensammelfabrik ihres Vaters, durchs Land. Man sollte eher nicht erwarten, dass Daniel Scioli nach dem Einzug in den Präsidentenpalast diesen Familienbetrieb auflöst.
> Cristina Kirchner bei ihrer 168 Minuten lange Rede imPräsidentenpalast Foto: Casa Rosada
In ihrer langen Rede am vergangenen Donnerstag erwähnte die Amtsinhaberin Scioli mit keinem Wort − dafür dessen Rivalen: Macri »denkt, dass Homosexualität eine Krankheit sei«, sagte Kirchner. Am Sonntagabend, als Argentinien vor dem Fernseher saß, um zu schauen, wie Boca seine 25. Meisterschaft holt, wurde in der Spielpause von Fútbol para Todos ein Spot ausgestrahlt. »Macris Wirtschaftsplan ist der gleiche wie der der Militärdiktatur«, verkündete eine Stimme.
Alles sauber? Kein Schmutz?
Am Abend zuvor, bei einer anderen Partie, hatte einer der ultrakirchneristischen Kommentatoren in der Halbzeit gesagt: »Alle Tore gehören weiter allen … weil du sie nicht den Propheten des Hasses zurückgeben wirst, nicht?« Der Satz, eine Blutgrätsche mit Anlauf, legte nahe, dass unter dem Präsidenten Macri der Fußball wieder – wie vor 2009 – im Bezahlfernsehen ausgestrahlt werde.
Am Dienstag twitterte der Gesundheitsminister, von dem man gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt, die zwölf neuen Krebstherapiezentren »bleiben bestehen, wenn Scioli Präsident ist. Überleg dir deine Wahl gut«. Bald darauf löschte er den Tweet und klagte, sein Account sei gehackt worden.
Alles friedlich? Keine Angst?
Macri erzählte im Radio übrigens: »Meine Tochter Antonia hat mich gefragt, ob es wahr sei, dass die Überraschungseier keine Überraschung mehr haben werden, und ich musste ihr sagen, dass es nicht stimmt und sie sich keine Sorgen machen soll.«
Auch das war, natürlich, nur ein Witz.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Wie also hält es Daniel Scioli, der Mann, der Argentinien die kommenden vier Jahre regieren will, mit der Frau, die noch bis zum 10. Dezember regieren wird? Mehr Cristina Kirchner in den letzten Wochen? Oder doch weniger? Wobei die Frage streng genommen lauten müsste: Noch mehr, echt jetzt? Die scheidende Präsidentin ist ja bereits überpräsent, sie bricht, was die Anzahl ihrer Fernsehansprachen betrifft, alle Rekorde – die eigenen, wohlgemerkt. Anlässe für Volksreden gibt es genug, manchmal steigt das Kindergeld, oft ist etwas einzuweihen, wie jüngst zwei Schwimmhallen in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz, und ab und zu muss sich Kirchner auch einfach jemanden vorknöpfen. Gestern Abend hielt sie Ansprache Nummer 45 in diesem Jahr, es war die 164. seit ihrem Amtsantritt am 10. Dezember 2007. Zum Vergleich: Amtsvorgänger Néstor Kirchner, ihr 2010 verstorbener Mann, brachte es in seinen vier Jahren auf gerade einmal zwei.
> Daniel Scioli und Cristina Kirchner Foto: Casa Rosada
Überdies hat sie bislang auch in der Präsidentschaftskampagne des Regierungskandidaten Daniel Scioli kräftig mitgemischt – da aber eher im Verborgenen. Kirchneristen, die etwas werden wollten im argentinischen Superwahljahr, ob Abgeordneter, Bürgermeister oder Gouverneur, wurden von ganz oben auf Gesinnungshärte geprüft. Kirchner sucht verlässliche Erben, sie will die Errungenschaften der zwölfjährigen Herrschaft in guten Händen wissen. Ihre Werkzeuge bei der Nominierung der Kandidaten waren lapicera y guadaña, wie man in Argentinien sagt, Kugelschreiber und Sense.
Selbst Scioli gab die Allmächtige ja ihren Segen – und bestellte auch gleich noch den Aufpasser: ihren ewigen Vertrauten Carlos Zannini, der Vizepräsident wird, wenn es der Spitzenmann in die Casa Rosada schafft. Scioli akzeptierte diesen Vorschlag und erzählte hinterher, der Chinese (Zanninis Spitzname) sei seine Idee gewesen. Falls das stimmt, dann hatte er die Eingebung aus vorauseilendem Gehorsam. Oder wollen wir wirklich glauben, dass der politisch so erfahrene Gouverneur der Provinz Buenos Aires aus freien Stücken ausgerechnet den Mann angeworben hat, der seit fast 30 Jahren die Familie Kirchner auf Engste begleitet?
Nein, Cristina Kirchner will die Kontrolle in den Ruhestand verlängern – und den Preis dafür hat am vergangenen Sonntag der frühere Motorbootrennfahrer bezahlt. Er gewann zwar die erste Runde der Präsidentschaftswahl knapp, muss aber nun dorthin, wo er keinesfalls hinwollte: in die Stichwahl. Er hatte ja ganz darauf gesetzt, direkt gewählt zu werden, entweder mit mehr als 45 Prozent oder aber mit 40 und dann zehn Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzieren. Die beiden Ziele verfehlte er klar, obwohl die Umfragen zumindest Variante zwei für möglich bis wahrscheinlich gehalten hatten. Doch nicht nur das. Er verspielte auch den großen Vorsprung vom August: Bei den Vorwahlen hatte er noch acht Punkte vor Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri und dessen zwei Bündnispartner im internen Kandidatenrennen gelegen. Nun sind sie fast gleichauf: Scioli bei 36,86 Prozent, Macri solo bei 34,33.
Am 22. November wählen die Argentinier noch einmal, sie müssen sich dann zwischen diesen beiden, fast gleich alten Männern – Scioli ist 58 Jahre alt, Macri 56 – entscheiden. Sieben Millionen Wähler, die am Sonntag für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten gestimmt haben, suchen in den nächsten drei Wochen noch einmal neu. Wobei: Sie müssen gar nicht suchen, sie werden schon gefunden. Begehrt sind vor allem die 21 Prozent, die den antikirchneristischen Peronisten Sergio Massa in der ersten Runde unterstützt haben – umgerechnet mehr als fünf Millionen Wähler. Wer von diesem Riesenbatzen das große Stück bekommt und noch einmal seine Stimmen vom ersten Durchgang einsammelt, wird gewinnen.
Am wenigsten muss man sich um Massa sorgen; als Stimmenbeschaffer kann er im Grunde alles werden, was er will, außer natürlich Präsident und Vize. Schwer zu ködern wird er sein. Massa ist jung, gerade einmal 43 Jahre alt, und hat noch Zeit. Er muss nicht jetzt ein wichtiges Amt erobern, er könnte sich auch daran machen, den zerstrittenen Haufen zu befrieden, der sich Peronismus nennt, um dann als großer Anführer 2019 ein neuen Anlauf zu nehmen. Dafür allerdings müsste Scioli die Stichwahl verlieren – sonst ist er der starke Peronist.
> Daniel Scioli mit Carlos Zannini am Wahlabend im Luna Park Foto: Daniel Scioli/Facebook
Massa scheint eher geneigt, Macri zu helfen, jedenfalls lassen das seine Äußerungenin dieser Woche vermuten. »Ich will nicht, dass Scioli gewinnt«, sagte er und erklärte die Präsidentin zur ersten Verliererin der Abstimmung: »Das Volk hat am Sonntag gesagt, dass es keine Kontinuität will.« Kirchner war mal, es ist schon ein paar Jahre her, seine Vorgesetzte und Massa ihr Kabinettschef. Er ist dann weitergezogen und Bürgermeister der Stadt Tigre vor den Toren von Buenos Aires geworden, er hat sich politisch verändert und vom Kirchnerismus losgesagt – Peronist aber ist er bis heute geblieben. »Cristina muss weg, sie geht, am 11. Dezember ist sie Rentnerin«, sagte er. »Ich würde den Kirchneristen raten, dass sie sich darum kümmern, ihre Papiere zu ordnen und ihre Amtsgeschäfte abzuwickeln.«
> Sergio Massa am Wahlabend in Tigre Foto: Sergio Massa/Facebook
Das alles klang wie die Bewerbung um einen Posten im Kabinett des Präsidenten Mauricio Macri. Doch wie gesagt, Massa ist Peronist – genauso wie Scioli und offiziell auch Cristina Kirchner. Schon der Heilige des Peronismus, sein Gründer Juan Domingo Perón, hat Gegner vor falschen Schlüssen gewarnt, als er das Innenleben dieser weltweit einmaligen politischen Bewegung beschrieb. »Wir Peronisten sind wie die Katzen«, lautet eines seiner unsterblichen Zitate. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Und selbstverständlich hat Massa, als er sich in dieser Woche einmauerte, nicht vergessen, eine Fluchttür einzubauen. Er sagte nämlich auch: »Wenn Scioli doch Präsident werden will, muss er aufhören, der Kandidat des Kirchnerismus und ein Angestellter von Cristina zu sein.«
Zu den Kuriositäten des Wahljahres gehört, dass die Präsidentin wieder unheimlich beliebt ist; das war nicht immer so in den vergangenen Jahren. Auf den ersten Blick erscheint deshalb die Mehr-Kirchner-Strategie durchaus naheliegend, ja vielversprechend: Scioli hängt sich an die populäre Staatschefin, die noch häufiger im Fernsehen redet als bislang, und lässt sich von ihr in die Casa Rosada schleppen. Wählen aber wird er wohl Variante zwei: weniger Kirchner, viel weniger, so wenig wie möglich. Er dürfte auf größtmöglichen Abstand zur Amtsinhaberin gehen. Prognose: Nach diesem Wochenende kennt er sie nur noch flüchtig, und spätestens zwei Tage vor der Stichwahl, also am 20. November, hat er ihren Namen noch nie gehört. Und der Chinese, der von ihr ausgesuchte Vizekandidat Carlos Zannini, wo steckt der eigentlich gerade? – Scioli: »Wer?«
> Cristina Kirchner bei der Stimmabgabe in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz Foto: Casa Rosada
»Jedes Mal, wenn Cristina eine Fernsehansprache hält, verlieren wir 700 000 Stimmen«, hat einer von Sciolis Unternehmerfreunden gerade gesagt. Das ist übertrieben, es zeigt aber das Problem: Der Kandidat wird als Marionette wahrgenommen und erscheint deshalb jenen Wählern unattraktiv, die einen Wechsel wollen. Die Kirchnerallianz Frente para la Victoria, für die Scioli antritt, wurde zwar auch bei der Wahl vom 25. Oktober die stärkste Kraft – aber schon wieder stimmten sechs von zehn Argentiniern für die Opposition.
Der Gouverneur hat bereits im Wahlkampf versucht, in diesem feindlichen Lager zu punkten, indem er von Tag zu Tag ein bisschen mehr Neuanfang versprach und ein bisschen weniger Kontinuität. Monatelang hatte er den Ultrakirchneristen gegeben und die Präsidentin gepriesen. Mitten in der Kampagne rückte er davon ab und war nun wieder, was er schon gewesen war, bevor er Ultrakirchnerist wurde: ein undogmatischer Peronist mit breitem Profil. Aber wer sollte und wollte bei all diesen Häutungen noch durchsehen? Eine Strategie war das jedenfalls nicht, dieser Zickzack, eher ein Fürblödhalten der Leute, und natürlich hat es nicht funktioniert.
Scioli wird diesen Weg trotzdem weitergehen. Er hat keine Wahl. Er braucht die Stimmen aus dem Oppositionslager, weil Kirchnerismus allein nicht reicht für einen Sieg gegen Macri. Riskant bleibt es allemal. Es ist nicht absehbar, wie die Präsidentin und ihre Freunde auf die Trennung reagieren werden. »El candidato es el proyecto«, heißt noch immer das inoffizielle Wahlkampfmotto. »Der Kandidat ist das Projekt.« Nichts ist wichtiger als das Erreichte; es zählt ausschließlich, was Néstor und Cristina Kirchner seit 2003 geschaffen haben. Nichts anderes steht zur Wahl und muss verteidigt werden – von jedem Kandidaten, und erst recht von dem, der Präsident werden will.
Was werden die kirchneristischen Stammwähler (30 Prozent) machen, wenn Scioli nun das Projekt vergessen lassen will und einen Dreiviertel-Macri gibt, also fast so viel Wechsel verspricht wie der angeblich rechte Rivale, der den Neoliberalismus der neunziger Jahre auferstehen lassen würde? Wählen sie den Überläufer mit Parteibuch dennoch? Oder wird er bestraft? Begeistert hat Scioli die standfesten Kirchneristen nie. Er gehört nicht zu ihnen, er war politisch schon überall, weil er wie jeder gute Peronist anpassungsfähig ist. »Es lo que hay«, sagten sie aber bislang. Frei übersetzt: Das ist nun mal der, der da ist, was willste machen.
> Mauricio Macri am Wahlabend im Centro Costa Salguero
Sicherheitshalber hat Cristina Kirchner ihr Erbe in den vergangenen Monaten wetterfest gemacht. Ihrem Nachfolger wird es fast unmöglich sein, die vom Kirchnerismus verstaatlichten Unternehmen wie YPF und Aerolíneas Argentinas abermals zu privatisieren; im Nationalparlament werden viele Vertraute sitzen, und eine Mehrheit hätte Macri dort ohnehin nicht. Man könnte also vielleicht auch ihn vier Jahre werkeln lassen. Kirchner darf ja 2019 wieder antreten.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass es so kommt. Ausgeschlossen aber auch nicht.
Bis zur Stichwahl am 22. November sind es noch 23 Tage. Es sieht nicht danach aus, dass die Präsidentin bis dahin zum Wohle Sciolis öfter den Mund hält und sich zurücknimmt. Sie soll ja – es ist nur ein Gerücht – bereits einen Unterhändler losgeschickt haben, der Sergio Massa eine Einladung zum Kaffeetrinken überbrachte. Der Peronist mit den fünf Millionen Wählerstimmen hat angeblich angenommen und auch gleich einen Termin vorgeschlagen: den 11. Dezember. Den ersten Tag nach Kirchners Abschied von der Macht.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Was für eine Nacht, muchachos. Da haben wir komplett − auch alle Ersparnisse des Argentinischen Tagebuchs (6,70 Pesos) − auf einen klaren Triumph der Kirchner-Regierung bei der gestrigen Präsidentschaftswahl gesetzt. Und dann das: Daniel Scioli (Frente para la Victoria), der Kandidat des Kirchnerismus, schmiert ab. Der Gouverneur der Provinz Buenos Aires liegt zwar nach Auszählung von 97,19 Prozent der Stimmen vorn, kommt allerdings nur auf 36,86 Prozent. Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri (Cambiemos) ist mit 34,33 Prozent auf Schlagdistanz.
Das Ergebnis ist damit sehr viel enger, als so gut wie alle Umfragen prophezeit hatten. Mit 45 Prozent hätte Scioli die Präsidentschaft in der ersten Runde gewonnen − ebenso mit 40 Prozent und zehn Punkten Vorsprung vor dem Zweiten. Zumindest die zweite Variante war vielfach prognostiziert worden. Nun, am Tag danach, liegen die beiden Kandidaten nahezu gleichauf.
Argentinien hat eine in vielfacher Hinsicht historische Nacht hinter sich. Zum ersten Mal wird es eine Stichwahl um die Präsidentschaft gehen; am 22. November heißt es Scioli gegen Macri, der frühere Motorbootrennfahrer gegen den früheren Boca-Präsidenten. Es riecht nach Machtwechsel im Kirchnerland. Nach zwölf Jahren Herrschaft von Néstor und Cristina Kirchner hat die Opposition tatsächlich eine realistische Chance auf den Einzug in die Casa Rosada, den rosafarbenen Präsidentenpalast.
> Die neue Gouverneurin der Provinz Buenos Aires: María Eugenia Vidal gestern Abend nach dem Triumph
Historisches hat sich auch in der Provinz Buenos Aires zugetragen, wo fast 40 Prozent aller argentinischen Wähler zu Hause sind. Nach 28 Jahren verliert der Peronismus das Gouverneursamt aller Gouverneursämter in Argentinien − an Macris Parteienallianz Cambiemos. Eine Sensation. Ein Paukenschlag. María Eugenia Vidal, derzeit Vizebürgermeisterin der Hauptstadt, schlägt Cristina Kirchners Kabinettschef Aníbal Fernández und tritt die Nachfolge von Scioli an. Dessen Zukunft ist ungewiss. Er muss die Stichwahl gewinnen und die Macht verteidigen, um politisch zu überleben, denn der Peronismus verzeiht keine Niederlagen. Verlierer jagt er vom Hof und vergisst sie ganz schnell.
Mehr spricht im Augenblick für Macri. Nur: Verlassen sollte man sich darauf nicht − die vergangene Nacht hat ja gerade so ziemlich alle Vorhersagen und Gewissheiten über den Haufen geworfen.
Wir verschnaufen erst einmal und melden uns später mit einer Analyse.
Wir sind schnell. Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes- wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.
2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)
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