Der Argentinier liebt das Schlangestehen. Je länger die Schlange ist, um so eher gesellt er sich dazu. »Wenn wir auf der Straße eine Schlange sehen, nähern wir uns mit dem unbewussten Wunsch, uns einzureihen«, schrieb neulich ein Ex-Wirtschaftsminister in der Zeitung. Vielleicht erklärt das auch, warum Buenos Aires weltweit die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychologen und Psychiatern ist. Jeder Fünfte geht regelmäßig zum Seelendoktor.

Die häufigste Schlangenart ist die im Supermarkt. Es empfiehlt sich, Verpflegung und Wechselwäsche einzupacken. Der Kunde zahlt selten bar und zeigt deshalb allerhand Karten vor, Personalausweis inklusive. Da das Laufband kaum länger ist als eine deutsche Kreuzotter, wird aufgetürmt, während die Kassiererin gemütlich scannt und einpackt. Ich sehe die Gefahr, dass ich meine Einkäufe bald stehle – und die Kinder würden mich nicht mal vermissen: Papa wäre aus dem Gefängnis schneller zurück als aus dem Supermarkt.

Leben in Buenos Aires bedeutet: warten. Warten auf einen der 150 000 Busse, die durch die 13-Millionen-Metropole fahren. Warten auf die Subte, die erste U-Bahn Südamerikas (1913), eine stets überfüllte Sauna auf Gleisen. Einmal fuhr sie wegen eines Streiks zehn Tage gar nicht. Die Porteños, die Bürger der Hauptstadt, warteten auf den Bus, der sich anschlich, aber nicht anhielt, weil er längst vollgestopft war. Danach warteten sie auf ein Taxi. Irgendwann stiegen sie auf ein Transportmittel um, das ihnen niemand streitig machen konnte: Sie gingen auf eigenen Beinen heim.

Wo der Porteño nicht aufgehalten wird, hält er sich selbst auf. Er befragt Fremde, bis die zugeben, in der tollsten Stadt der Welt zu leben, er geht sowieso keinem Geplauder aus dem Weg. Aber eigentlich hat er keine Zeit. Erstaunlich, dass die Seelendoktoren in dieser Stadt nur jeden Fünften kriegen.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)