Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

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Buenos Aires, Freitag, 4. Juli 2014

11.45 Uhr. Deutschland könnte heute gegen Frankreich ausscheiden. Ich brauche einen Text. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass Deutschland ausscheidet. Ich kann nur nicht auf das Ende warten. Aber auch seriöse Zeitungen haben ja für jede halbwegs bedeutende Persönlichkeit einen vorbereiteten Nachruf im Stehsatz – damit sie vom Tod niemals überrascht werden. Und wie sollte das kein Tod sein: ein Ausscheiden dieser hochbegabten Truppe im Viertelfinale, nach diesen schwachen Partien gegen Ghana, die USA und Algerien?

Nach dem Abpfiff muss ich meine drei Kinder bewachen und die zwei argentinischen Schulfreunde des Sohnes, die sich zum Spielen angemeldet haben. Fünf Kinder zwischen zweieinhalb und neun Jahren, ganz oder weitgehend sozialisiert in Argentinien: Da werde ich nicht an Deutschlands Nachruf denken, höchstens an meinen eigenen. Also schreibe ich jetzt vor und veröffentliche mit dem Abpfiff. Erster! Wenn das Ergebnis stimmt.

Ein paar hübsche Ideen, ringsum Wörter und Wortspiele, und dann ruht hier gleich der deutsche Männerfußball.

12.05 Uhr. Mir geht diese Weltmeisterschaft ja mitunter sehr auf die Nerven. Mich nervt das demonstrative Gottangebete der brasilianischen Spieler. Mich nervt, dass man im Fernsehen wenig vom Spiel sieht, weil schon wieder eine Superzeitlupe von Neymars verzerrtem Gesicht eingespielt wird. (Und Neymar, darum natürlich wissend, verzerrt das Gesicht.) Viele Spieler scheinen sehr auf das Bild bedacht zu sein, das die Kameras von ihnen einfangen. Wenn Mario Götze eingewechselt wird, sieht er aus, als käme er nicht vom Aufwärmen, sondern geradewegs aus der Maske, und wolle weiter zum Fotoshooting. Frisuren sind auch wichtig geworden. Es wird getönt, gescheitelt und haargesprayt wie nie. Jeder hat seine Rolle. Selbst Thomas Müllers Empörung über einen nicht gegebenen Einwurf wirkt immer ein bisschen zu empört. Er ist der letzte deutsche Volkfußballspieler.

12.15 Uhr. Eine Idee reicht auch.

12.22 Uhr Die verkleideten und geschminkten Zuschauer nerven mich übrigens noch mehr als die winkenden. Sind die nächsten zwei Weltmeisterschaften – Russland 2018 und Katar 2022 – vielleicht auch eine Chance für den Fußball? Weil alle Tribünenspaßvögel – der Goudaaufdemkopfbalancierer, der Perückte, der Federschmuckträger – wegbleiben. Scheichs verkleiden sich ja wohl eher nicht noch mal.

12.29 Uhr. Ich könnte kritisieren, dass Joachim Löw bei diesem Turnier mit vier Innenverteidigern auf 1986 gemacht hat, weil er unbedingt und egal wie Weltmeischter werden wollte. Jedes Mittel war ihm recht, um nicht für alle Zeiten der Bundestrainer zu sein, der mit der goldensten Generation, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat, ohne Titel bleibt.

Übrigens, eine üble WM muss das gewesen sein, für Fußballästheten, damals vor 28 Jahren in Mexiko, aus deutscher Sicht, meine ich. Die Deutschen rumpelten, grätschten und mauerten sich durchs ganze Turnier. Teamchef Franz Beckenbauer sagte am Abend vor dem Endspiel gegen Argentinien zu seinem Assistenten Vogts: »Stell dir das mal vor, Berti. Mit dieser Trümmertruppe stehen wir im Finale. So schlecht ist der Fußball geworden.« Solche Sätze konnte der Franz also schon damals sagen. Ich dachte viele Jahre, Beckenbauer wäre erst 1990 – mit dem WM-Triumph in Italien – cool geworden.

12.36 Uhr. Ich könnte auch über Höwedes schreiben, der, sobald er schwitzt, aussieht wie Al Bundy. Höwedes schwitzt immer, schon in den ersten Minuten, er arbeitet ja Fußball nicht nur, er sieht dabei auch noch aus, als schöbe er schon die dritte unbezahlte Überstunde an diesem Tag.

Mir fällt gerade auf, dass mir nicht einfällt, wie Höwedes mit Vornamen heißt. Google sagt: Benedikt. Sieht der schwitzende Benedikt Höwedes wirklich aus wie Al Bundy? Vielleicht bilde ich mir das auch ein, weil ich in meinem Leben ein bisschen zu oft Al Bundy und viel zu oft Benedikt Höwedes gesehen habe. Außerdem: Wenn ich bei Höwedes bin, bin ich wieder bei Löw. Ohne Löw kein Manndecker als linker Verteidiger.

Der neue deutsche Fußball wurde in Argentinien in jüngster Zeit sehr bewundert. Für das Stürmische, Wilde, Leidenschaftliche und zugleich Leichte der Jahre 2006ff.; für die kurzen und schnellen Pässe, die in den besten Augenblicken eine Präzisionsarbeit waren, ohne je nach Herstellung am Fließband auszusehen. Es waren Künstler am Werk, keine Schrauber und Schweißer. Das passte überhaupt nichts ins Bild, das der Argentinier vom fútbol alemán hatte. Jahrzehntelang hatte man am Río de la Plata von »El Panzer«gesprochen. Die Deutschen zerstörten den schönen Fußball der anderen; und sie taten es mit deutscher Gründlichkeit.

12.56 Uhr. Argentinische Männer haben mir, dem Deutschen in Buenos Aires, oft Fußballkomplimente gemacht. Das war mir unangenehm. Argentinierinnen haben mir schöne Augen gemacht. Dagegen habe ich mich nicht gewehrt, obwohl ich ja schon ewig verheiratet bin. Und: weil. Natürlich dachten die Frauen an Jogi Löw und Oliver Bierhoff, aber man darf nicht alles im Leben hinterfragen. Verdammt schöne Augen!

Hätte Deutschland den Titel geholt, hätte ich in Buenos Aires eine Weile mit dem Weltmeischtertrainerdialekt gesprochen. Español badense. Hola, cómo eschtás? Haschta luego!

13.12 Uhr. Haha, das ist gut. Eine Idee! Me guschta mucho. Weiter! Weiter! Weiter! Jetzt habe ich einen Lauf und …

Fernseher: »Goooooooooooooooooooooooooooooooooooooool! Gooooooooooooooooooool para Alemania! Gooool de Mats Uuuuuummmmmmmmmeeeeeelts!«

Hmmmh.

14.45 Uhr. Nach 95 Minuten ist Schluss. 1:0 für D.

14.46:30 Uhr. Der Text liegt jetzt in der Schublade »Nachrufe, noch zu überarbeiten«.