In der Klapsmühle
von CHRISTOPH WESEMANN
Vielleicht bin ich ein bisschen früh, ich lebe erst drei Tage hier, und von diesen drei Tagen wiederum habe ich viel Zeit verschlafen, erschöpft von der Wucht, mit der diese Stadt Neuankömmlinge empfängt. Aber steile Thesen sind ja durchaus reizvoll, also bitte: Buenos Aires, das ist nicht nur die Hauptstadt Argentiniens, sondern auch die tollste Klapsmühle der Welt.
»Dreihundert Millionen Widersprüche« hat der spanische Philosoph José Ortega y Gasset einst hier gezählt und gleich den Satz hinterher geschoben: »Buenos Aires ist eine absurde Stadt, die ich von Tag zu Tag mehr liebe.« Sie soll weltweit die höchste Dichte an Psychiatern und Psychologen haben, lässt also sogar das ach so notorisch neurotische New York gesund im Oberstübchen erscheinen.
Vielleicht kann nur in einer Stadt wie Buenos Aires die U-Bahn mit einem großen Schwindel für sich werben: »más fácil, más rápido«. Einfacher und schneller – das ist die Subte ganz sicher nicht. Sie ist: voll. Schon gut, ich weiß, auch in Berlin ist die U-Bahn manchmal voll. In Buenos Aires ist sie: manchmal nicht voll. So wie hier auch manchmal nicht gehupt wird und es manchmal nicht laut ist. Ja, und es gibt wohl Hunde, die nicht direkt auf den Bürgersteig wursten, und wohl auch Hundehalter, die den Kot aufsammeln. Meine Schuhsohlen bestreiten das aber.
Vielerorts erinnert mich Buenos Aires an Odessa: das Improvisierte mit seinen kleinen Ständchen voller Krimskrams am Straßenrand, das Löchrige und Holprige auf allen Lebenswegen, der morbide Charme, das Abgeranzte, das Geflickte. Und immer wieder: Fassadenmelancholie, ein Hauch von alter Herrlichkeit. Atemberaubend schön ist all das gewesen, damals, vor 100 Jahren, als Argentinien eine Wirtschaftsmacht war und Auswanderer aus Europa anzog.
Der Unterschied zwischen Odessa und Buenos Aires, zwischen Odessiten und Porteños ist: Hier weist der Kioskmann geduldig den Weg, der Kellner bindet mit einer Tischdecke das Zappelbaby am zu großen Kinderstuhl fest, die Wildfremde auf der Straße sieht die drei Kinder und ruft: »Ich würde sie sofort betreuen.« Es wird überhaupt mehr gelächelt als dort.
Eine absurde Stadt, gewiss. Liebe nicht ausgeschlossen. Ein Traum schon jetzt.
doctorrobert
8. Juli 2012 @ 07:22
Im beschaulichen Münster gibt es gefühlt genau einen Hundehaufen, aber diesen erwische ich häufig. Da zweifelt man schon mal an sich selbst.
Danke für den ersten Eindruck aus Buenos Aires. Freue mich auf viele weitere.