Banner WM-Tagebuch Blog

 

Bei Bedarf bin ich Deutscher.

Normalerweise gebe ich mich in Buenos Aires nicht zu erkennen, und falls ich ertappt werde, versuche ich, meinen Akzent zu überstimmen: »Cheeeee boludo1, ich bin Argentinier, la puta madre.« Seit Montagabend wehre ich sogar die Glückwünsche für das 4:0 gegen Portugal ab. Der Bäcker, der Fleischer, der Friseur, der Blumenmann und sämtliche Nachbarn: Die Männer im Viertel, mit denen ich zu tun habe, sind begeistert von der deutschen Mannschaft. (Dass sie das Spiel gesehen haben, obwohl der Anpfiff bei uns um 13 Uhr war, verrät übrigens auch manches über Argentinien.)

Müllertollfinder, wohin man schaut und hört. So einen hätten sie auch gern.

Ich habe das Spiel nicht mal geguckt; ich saß stattdessen mit Marketing (und mit Mate natürlich) auf der Terrasse, was auch manches über mich verrät: Vielleicht brauche ich einfach ein bisschen länger, um Sachen zu begreifen und zu behalten. Außerdem hatte ich es befürchtet: dass die Deutschen gut sein würden, viel besser wir am Vorabend beim tristen 2:1 gegen Bosnien und Herzegowina.

Ich setze trotzdem auf Argentinien, ich nehme sogar so Heimaturlaub, dass ich als Weltmeister in Berlin lande und im weißhimmelblauen Trikot von Diego Maradona ein Taxi winke. Und ich habe meinem Sohn versprochen, mir ein Tattoo stechen zu lassen. Ich weiß noch nicht, von wem oder von was, ob vom Dicken, von Che, den Malwinen oder doch vom Siegtorschützen im Endspiel, also Leo Messi, ist doch auch egal.

Ich will den Pokal. Und Messi braucht ihn, um zum größten Spieler der Geschichte aufzusteigen, was den tollen Nebeneffekt haben wird, dass sich zwei Männer besonders ärgern: Pelé, die brasilianische Marionette, und der Schöne Cristiano Ronaldo aus Portugal.

Außerdem: Wenn ich schon mal in Argentinien bin, dann doch bitte nicht Deutschland.

Mein Zeitungsverkäufer im Viertel wurde regelrecht ungehalten. »Ist ja toll, dass es dir bei uns gefällt«, sagte er. »Nur, mein Freund: Deine Heimat ist Deutschland. Deutschland ist deine Heimat.«

Cheeeeee bolu…

Aber bei Bedarf bin ich Deutscher. Gestern Abend war Bedarf.

Ich saß mal wieder im Raum 5.5. der Universität Palermo und versuchte mich am dritten Marketingexamen. Es stand 1:1 zwischen mir und der Wissenschaft: Einmal war ich durchgefallen, einmal hatte ich bestanden. Nun, ein paar Minuten nach acht, kam die Aufgabe 9. Ich brauchte nur die ersten vier Wörter zu lesen und wusste: Das Thema wirst du nicht finden in deinem Kopf.

Die meisten Studenten hatten längst abgeben, Raum 5.5 war fast leer. Sergio, der Professor, hatte Damenbesuch, wahrscheinlich eine Kollegin, sie plauderten und lachten und erledigten Anrufe.

Nur noch die Klassenschönste war da. Und ich. Und Aufgabe 9. Keine Chance. Man geht natürlich in sich, bedauert, den Stoff nicht gelernt zu haben, gelobt sich selbst Besserung, man trägt so was also mit Fassung, mit Würde.

Oder man beklagt sich beim Professor, und zwar schriftlich, dass man dieselben schwierigen Fragen bekommen habe wie die Argentinier. Man schreibt also anstelle der Lösung unter die Aufgabe Nummer 9: »Es gab Zeiten in Argentinien, da wurden Deutsche besser behandelt. ¡Viva Perón!«

 

Mein Freund Pablo ist stolz auf mich. »Dafür musst die volle Punktzahl bekommen«, sagt er. »Tja, es sei denn, dein Professor ist ein Gorilla. In dem Falle brennt dir der Kittel.«

Gorillas werden in Argentinien die Feinde des Peronismus genannt – von Peronisten.

Eine Mitternachts-SMS von M., dem anderen Deutschen in Buenos Aires:

Das heißt, es war Mörderspitze, und Du gehst mit Note 82 raus – zwei Punkte Abzug wegen Perón-Ironisierung. Felitaciones! Wie heißt eigentlich die Haartönung, in die Dani Alves gefallen ist? Und die Vokuhila von Neymar hat jetzt Unterschnitt.

 

 

  1. Hey Schwachkopf! []
  2. 2,0 []