Heute ist hier »Der Tag des Lehrers«. Und was wünscht der sich? Schulfrei. Kriegt er. Und eine Kolumne. Beim Schreiben wie damals getrödelt und zu spät fertig geworden »Der Tag des Lehrers« war am Dienstag.

Ich sollte die Klassenlehrerin meines Sohnes nicht »die Maus« nennen. Ich weiß das. Vor allem sollte ich sie nicht vor meinem Sohn »die Maus« nennen. Auch das weiß ich. Es rutscht mir aber hin und wieder raus. »Na, ist die Maus wieder gesund?«

In Berlin ist es einfacher gewesen. Die Klassenlehrerin hieß Frau Hartmann, war viel älter als ich, und einen Vornamen hatte sie nicht. Jetzt heißt die Klassenlehrerin Isabella, ist viel jünger als ich, und einen Nachnamen hat sie nicht.

Natürlich küsse ich sie auch.

Wenn mein Sohn von der Schule erzählt, erzählt er von Marce, Laura und Flo. Am Anfang habe ich das für Promiskuitätchen eines Sechsjährigen gehalten. Dann stellte sich heraus: Marce, Laura und Flo sind auch Lehrerinnen. Ich duze mich mit allen, und ich habe sie alle schon geküsst.

Der Kuss auf die Wange, un beso, ist der Handschlag der Argentinier. Geküsst wird, sobald ein Hauch Vertraulichkeit besteht – Frauen tun es mit Männern, Frauen tun es mit Frauen, Männer tun es mit Männern. Wenn die Fußballer der Boca Juniors gerade mit viel Aufwand und wenig Glanz ein Spiel gewonnen haben, beglückwünschen sie sich gegenseitig mit Schmatzer. Und im Supermarkt kann eine Riesenschlange sein – sobald ein Kollege vorbeihuscht, steht die Kassiererin auf, geht drei Schritte und holt sich ein Küsschen ab. Und kein Kunde kritisiert das.

Mein Sohn lernt schnell, er findet sich in Buenos Aires mittlerweile wunderbar zurecht, ich weiß nicht, woran er sich orientiert, aber er tut es. Für mich sieht die Hauptstadt überall gleich aus: viele enge und sehr lange Einbahnstraßen nacheinander, dann eine breite Avenida, wieder viele enge und lange Einbahnstraßen nacheinander, dann wieder eine breite Avenida. Ich verfahre mich sogar mit Navigationsgerät. Immerhin habe ich die Stimme, die mir alles vorsagt, nach drei Wochen am Steuer ein bisschen leiser gestellt.

Im Küssen aber bin ich meinem Sohn deutlich überlegen. In Berlin hatte ihn Frau Hartmann zum Abschied nicht mal umarmen dürfen, und Frau Hartmann war auch deshalb eine wunderbare Lehrerin, weil sie das verstand. Auch nach zwei Monaten in Buenos Aires leistet er noch Widerstand, wenn Isabella küssen will. Wäre er hier in den Kindergarten gegangen, wäre das wahrscheinlich anders. Dort wird der Widerstand gebrochen. Wenn ich meine Töchter abgebe, werden sie – wie alle Kinder – als »meine Liebe«, »oh Schönheit« oder »Wunderhübsche« begrüßt. Die Dreijährige ist längst Profi und tritt, weil sie weiß, was kommt, und es die Sache beschleunigt, der Erzieherin gleich mit nach oben gerecktem Mund entgegen. Dann holt sie sich ihren beso ab.

Mein Sohn findet sich wahrscheinlich auch deshalb besser zurecht in der Stadt, weil er ist, was ich als Kleinstadtjunge nie war: Schulbuskind. Um 7.15 Uhr klingelt es an der Tür, woraufhin ich zur Sprechanlage mit Videoübertragung taumele, die hier »portero electrico« heißt. (Der nichtelektrische Pförtner heißt Luis und schläft zu dieser Zeit natürlich noch.)

»Wir sind schon fast fertig, Daniel Martín«, rufe ich, lege auf und sehe, dass mein Sohn noch die Schlaf- statt der Schuluniform trägt. Eine Schuluniform ist eine tolle Sache, weil die Kleiderwahl am Morgen entfällt. Aber wenn sich der Trainingsanzug mit dem aufgestickten Schulemblem in der Wohnung versteckt, hätte man doch gern die Wahl, irgendein Kleidungsstück aus dem Schrank zu zerren. Und dienstags, mittwochs und donnerstags, wenn kein Sport auf dem Stundenplan steht, gehört zur Uniform noch eine Art Arztkittel, der »guardapolvo blanco« heißt, also »weißer Staubfänger«.

Dann steigt mein Sohn mit Freude in den orange-weißen Schulbus. Er ist immer das zweite Kind, das abgeholt wird. Die Fahrt zur Schule dauert 45 Minuten. Den Rückweg nachmittags schafft Daniel Martín manchmal in knapp unter einer Stunde.

Ich würde meinen Sohn öfter abholen, damit er früher zu Hause ist. Ich brauche aber schon zur Schule, obwohl ich keine zehn Kinder einladen muss, länger als Daniel Martín. Es gibt so viele Staus, das Dauergequatsche im Radio fördert auch nicht meine Konzentration, und wenn ich Schleichwege nehme, drehe ich kurz vor Montevideo, Uruguay, um und höre wieder auf die Stimme der Navigation.

Ganz am Anfang hatte ich ein anderes Bild von den schulbusfahrenden Porteños. Die ersten Tage habe ich meinen Sohn von der Schule abgeholt. Mit mir warteten ein paar Männer auf das Ende des Unterrichts. Und sie erzählten sich Witze, die eindeutig gegen das Reinheitsgebot verstießen. Welche bedauernswerten Kinder, dachte ich, haben solche Väter? Waren aber gar keine Väter. Waren die Busfahrer.

Mittlerweile weiß ich, dass sie zu den zuverlässigsten Kräften im Land gehören und die Eignungstests sehr streng sind. Um zu begreifen, was Männer wie Daniel Martín leisten, muss man nur einmal eine Stunde in einem argentinischen Café mit Spielecke verbracht haben. In Deutschland hinge an der Eingangstür das blaue Schild mit den weißen Ohrenschützern. Daniel Martín verteilt Bonbons, wenn’s ihm mit dem Durcheinandergequassel in seinem Bus zu bunt wird. Dann halten alle für eine Weile die Klappe. Ich wünschte, das ginge mit den Radioleuten auch.

Ich mag die Art der Porteños. Es geht lockerer und weniger förmlich zu als in Deutschland. Niemand siezt mich, und ich duze mittlerweile auch Polizisten, wenn ich irgendwo im Halteverbot stehe und verschwinden soll. Eigentlich sieze ich nur noch die Señoras, die mich manchmal nach dem Postamt fragen und die ich ein paar Tage später unterwegs nach Montevideo wiedersehe.

Ich mag es, dass sich die Leute Zeit für Zärtlichkeiten nehmen, obwohl doch so oft irgendwas drängt, ich sehe die Freude, mit der sie Kindern begegnen und ihnen an der Ampel über den Kopf streicheln. Sie geben ihnen das Gefühl, das Kostbarste auf der Welt zu sein.

Da ist die Oma, die meinen Sohn an die Hand nimmt und mit ihm in die Bäckerei geht, um drei »medialunas« zu kaufen, weil er Hunger hat und diese argentinischen Croissants natürlich längst liebt. Da ist der Kinderarzt Santiago, den mein Sohn Santi nennen darf. Er untersucht den Hustenden, er horcht und horcht und horcht, eine Ewigkeit lang. Und Santiago entdeckt, was deutsche Kinderärzte schon zweimal nicht entdeckt haben: eine Lungenentzündung.

Ich habe meinen Sohn an die heißen Nachmittage in der Berliner U-Bahn erinnert, als niemand aufstand, um einem erschöpften Erstklässler  einen Platz anzubieten. Hier wäre so etwas undenkbar.

In seinem Hausaufgabenheft stehen an jedem Freitag Sätze wie diese: »Du bist ein wundervoller Junge. Ich liebe dich. Bis Montag. Deine Isabella.« Frau Hartmann hat gestempelt, oft eine Sonne, manchmal eine Wolke, und am Montag schrieb sie ins Hausaufgabenheft: »Prima!« Meistens. Am Anfang. Zum Schluss selten.

Ich habe das »Prima!« die ersten zwei Monate auf meinen Sohn bezogen und ihn für ein Genie gehalten, dann aber gemerkt, dass ich gemeint bin: weil ich das Datum in seinem Hausaufgabenheft eingetragen hatte. Oder später eben auch nicht mehr. Wenn Frau Hartmann nicht »Prima!« schrieb, schrieb sie: »Datum!«

Isabella malt die Sonne selbst.

Die andere Seite der argentinischen Kinderliebe ist, dass Eltern einiges abverlangt wird. Ich kriege fast jeden Tag Hausaufgaben: Mal soll ich etwa basteln, dann ein Bild malen, mal auch nur ein Foto mitbringen. Neulich musste ich mir für das Kindergartengruppenbuch eine Geschichte ausdenken. Ich habe mich sehr angestrengt. Weil die Erzieherin sehr hübsch ist, sollte es eine gute Geschichte werden. Und weil die Erzieherin sehr hübsch ist, wurde es eine schlechte Geschichte. Die Erzieherin sieht das freundlicherweise bis heute anders.

All das habe ich meinem Sohn erzählt, um ihm zu erklären, dass es in seiner neuen Heimat anders zugeht.
»Jaja, weiß ich doch alles«, hat er gesagt. »Aber als du so alt warst wie ich, wolltest du von deiner Lehrerin geküsst werden?«
»Natürlich nicht.«
»Siehst du, Papa.«
Ich dachte an »die Maus« und schrie: »Aber meine Lehrerin sah auch anders aus.«

 

Mein Sohn-Kolumnen aus alten Zeiten:

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