Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

Teil II: Die Drei-Tropfen-Töchter, der singende Papa und ein Auto im Sandkasten

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Tag 8. Puerto Madryn.

Eine Argentinierin beschimpft meinen Sohn oder mich, genau verstehe ich sie nicht, als »Idiot«. Einer von uns beiden soll den Pinguin verwirrt haben. Ich halte mich aber für unschuldig, und mein Sohn sich auch. Außerdem sind wir vorhin belehrt worden. Zwar habe ich die meisten Verhaltensregeln gleich wieder vergessen oder wegen des Genuschels der Belehrerin gar nicht erst verstanden. Aber an diesen einen Punkt erinnere ich mich noch: »Macht immer Platz für jeden Pinguin, der euch begegnet. Sonst kann’s passieren, dass er die Orientierung verliert und nicht mehr zu seiner Familie zurückfindet.«

Ich habe nicht herumgestanden, ich war höchstens langsamer als der Pinguin, und verwirrt bin ich selbst. Ich im Urlaub – das ist wie Rockstar auf Welttournee: Ich weiß gerade noch, in welcher Stadt wir übernachtet haben. Aber wo waren wir vor drei Tagen? Und wie sah das Hostel aus? Wir waren doch im Hostel, nicht wahr?

Dabei bin ich, alles in allem, ein schlechtes Rockstar-Imitat. Bei mir ist die Frau immer dieselbe, und ich schleppe alles selbst, auch die fast Fünfjährige, wenn’s sein muss, und ob es sein muss, entscheidet die fast Fünfjährige. Vor vier Stunden habe ich mich, mit ihr auf der Schulter, gebückt (und nicht hingehockt), um den von ihrem Fuß abgefallenen Badelatsch aufzuheben. Seitdem brennt und sticht es im linken Bein. Mitleid muss ich mir aber selbst verabreichen, denn die Frau hat ja drei Kinder auf die Welt gebracht. Was an Frauen wirklich nervt: das niemals endende Gejammer über die sogenannten Schmerzen der Geburt. Aus meiner Sicht, und ich war ja dreimal dabei, ist das Gebären kaum anspruchsvoller als das Ausbrüten.

»Hast du meinen Sohn gerade Idiot genannt? Spinnst du?«

»Schatz, ganz ruhig, vielleicht hat die blöde Kuh ja auch mich gemeint.«

»Dann hätt′ ich nichts gesagt.«

Wir sind am südlichsten Punkt unserer Patagonien-Reise, im Tierschutzreservar Punta Tombo, dem größten Pinguin-Nistplatz Lateinamerikas. Hunderttausende Magellan-Pinguine leben von September bis März auf der Halbinsel in der Provinz Chubut. Andere Quellen sprechen sogar von einer Million. Sobald es Frühling wird auf der Südhalbkugel, verlassen sie Brasilien und schwimmen 3000 Kilometer durch den Atlantischen Ozean, um beim Nachbarn ihre Jungen auszubrüten. Die Babys sind schon da, gucken aus Erdlöchern und hinter Sträuchern hervor.

Amerikanische Wissenschaftler, die von 1983 bis 2010 hier geforscht hatten, haben gerade ihre Studie veröffentlicht. Zwei von drei Geschlüpften, so das Ergebnis, überleben die ersten Wochen nicht. Sie sterben ohne das wasserfeste Federkleid an Nässe, Sturm und Kälte, finden keine Nahrung oder werden selbst gefressen. Einer der Autoren der Studie sagt Jahre voraus, in denen – Stichwort: Klimawandel – wegen der heftigeren und häufigeren Stürme keines der Jungtiere überleben werde.

Der Mensch hält sich bislang heraus. Die Pinguine werden nicht gefüttert und nur beschützt vor uns, den Besuchern. Der drei Kilometer lange, abgesteckte Weg durch den Park darf nicht verlassen werden, und Mülleimer gibt es genauso wenig wie Toiletten. Rauchen ist verboten. Wikipedia spricht von 65 000 Touristen jährlich – doppelt so viele wie in den Neunzigern. Clarín, die größte Tageszeitung Argentiniens, vermeldete Ende November 1500 Besucher pro Tag. Das Tourismusministerium der Provinz zählte 50 000 zwischen September und Dezember 2013. Die Zahlen klingen eher nach Geheimtipp, sind aber angesichts der Niemandsländlichkeit des Ortes wohl wieder recht beachtlich. Punta Tombo liegt ja nicht nur 125 Kilometer südlich einer Stadt (Trelew) und mehr als 1500 Kilometer entfernt von Buenos Aires, sondern auch am Ende einer langen Schotterpiste. Bis Arsch der Welt ist′s nur unwesentlich weiter. Trotzdem kommt jeder Zweite, der die Kolonie besucht, aus dem Ausland und zahlt, wie es sich in Argentinien und anderswo auf dem Kontinent gehört, einen deutlich höheren Eintrittspreis.

»Kommt alle raus, Pingus, kommt alle raus!«

Die Zweijährige ist für ihre Verhältnisse sehr gesprächig heute. Sie hat seit zwei Tagen Heimweh nach Buenos Aires und vermisst ihre Freundinnen aus dem Kindergarten. Wenn ihre Geschwister miteinander spielen, sitzt sie abseits, nimmt sich mein Telefon und redet auf Valentina, María und vor allem Laila ein. Sie hält sich auch Schuhe, Flaschen und Bauklötze ans Ohr. Laila nimmt immer ab – beste Freundin eben.

Schaut, Kinder, wie nett die Pinguine miteinander umgehen, wie lieb die sich haben. Es wird gekuschelt, ohne dass einer den anderen Sekunden später würgt. Es wird gewatschelt, ohne dass einer den anderen irgendwann umschubst. Es wird sich ausgeruht, ohne dass einer dem anderen ins Ohr schnarcht. Sind die immer so? Streiten die nie? Auch die Eltern nicht? Macht mir richtig schlechte Laune, dieses Gutpinguinentum: Kopf größer als ′n Gartenzwerg, aber Riesen in Sachen Moral. Fehlen nur noch VegetarierInnen, die aus »Respekt vor Natur, Tieren und Menschen« keinen Fisch essen.

Auf dem Rückweg überfahre ich ein Gürteltier, das über die Straße läuft. Die Kinder brauchen zweieinhalb Tage, um mir zu verzeihen.

Tag 9. Puerto Madryn.

Das schreibt der Reiseführer:

Das geschützt in der Bucht des Golfo Nuevo liegende Städtchen ist das Tor zum Tierschutzgebiet Península Valdés. Obwohl Tourismus und Industrie boomen, hat es seinen Kleinstadtcharakter bewahrt. Das Radio gibt Suchmeldungen nach vermissten Hunden durch, die Einheimischen sind gastfreundlich und gemütlich.

Gemütlich? Das ist untertrieben. Eine Minute dauert in Patagonien 90 Sekunden, mindestens, und jeder Patagonier scheint einen Tempomat zu tragen, der zu niedrig eingestellt ist. Zum Glück halte ich mit, seit ich nur noch humpeln kann. Die Ärztin im Krankenhaus diagnostiziert an meinem linken Bein gerade eine Art Hexenschuss für Anfänger, gibt mir Schmerztabletten und schickt mich dann ins Nebenzimmer. Jetzt noch eine Spritze, und dann wird es bestimmt gleich besser.

Der Spritzer macht aus dem Stich eine Zeremonie, murmelt vor sich, hoffentlich sind′s patagonische Flüche gegen Hexenschüsse, lässt sich meinen Namen buchstabieren, zieht am Mate, erfragt den Vornamen und reicht mir den Kugelschreiber für die Unterschrift. Um ihn zu beschleunigen, frage ich, mit schon heruntergelassener, also ohne Hose: »Wohin? In den Arsch?«

»Ganz genau.«

»Okay.«

»Dann wollen wir mal.«

»Ja.«

»Augenblick.«

»Ja?«

»Welche Backe?«

Er kassiert 30 Peso (2,77 Euro) – und lässt mich dann noch zehn patagonische Minuten aufs Wechselgeld warten.

Wir hatten auf dieser Reise noch keine so schöne Unterkunft. Gleich gestern, am ersten Abend, wurde uns zwar aus unserem Fach in der Gemeinschaftsküche ein Plastikbehälter samt schon gekochter Spaghetti (sehr al dente) geraubt. Und gesäubert wird das Geschirr, ein Klassiker des hostelismo latinoamericano, mit dem Helmut Schmidt unter den Abwaschschwämmen: Hat schon alles gesehen und könnte viel erzählen, ist ordentlich ramponiert, aber nicht totzukriegen.

Das alles gehört selbstverständlich zum Ambiente.

Hier könnten wir bleiben. Die Kinder sind ja ganz pflegeleicht, wenn man ihnen nicht dauernd begegnet. Der Siebenjährige lebt im Fernsehraum, er guckt alles, mexikanische Liga, Truckrennen, zwischendurch gern was Schlüpfriges und notfalls auch die Präsidentin, wenn gerade der Mann nebenan auf dem Ledersofa das Programm bestimmt; sobald der eingeschlafen ist, ist er die Fernbedienung natürlich los.

Habe ich eine Lust auf das Egocentro. Es »feiert die maritimen Schätze der Region«, steht im Reiseführer. Oje, bunte Fische vor Korallen auf Fotos also. Wir könnten zum Strand gehen und dann hunderte Meter hineinlaufen, es ist gerade Ebbe. Wie könnten zuschauen, wie die Sonne untergeht und das Wasser wiederkommt. Viele machen das so, vermutlich sogar alle außer uns, so voll ist der Strand. Der Sohn meint, wir könnten auch fernsehgucken.

Warum findet das Navigationsgerät denn dieses verdammte Museum nicht? Muss ja furchtbar angesagt sein.

»Ecocentro, nicht Egocentro. Wundert mich aber nicht.«

Immer diese unqualifizierten Kommentare.

Es sind tatsächlich noch andere Besucher hier, guck an, hätte ich nicht gedacht. Acht andere, um genau zu sein. Und um ganz genau zu sein: weitere acht Deutsche, zwei Familien, vier blonde Kinder, deren Köpfe von Weitem leuchten. Mein Sohn fragt ja jeden zweiten Tag, wann er sich endlich die Haare färben dürfe, damit sie genauso schwarz seien wie die seiner Schulfreunde. Seit einem halben Jahr vertröste ich ihn auf »nächste Woche«.

Die Vierjährige hat wieder einen ihrer Stolpertage erwischt. Sie stolpert ja jeden Tag mehrmals, über Steine und winzige Unebenheiten auf dem Bürgersteig. Aber an Stolpertagen stolpert sie ohne Grund, sozusagen präventiv. Wenigstens rennt sie nicht gegen das rote Riesenwal-Ding, um sich ordentlich den Kopf zu stoßen. Sie ist natürlich auch viel kleiner als ich.

»Wie kann man das denn nicht sehen?«

Es ist ja so: Alles Schlechte haben die Kinder sowieso von mir. Und alles Gute haben sie von anderen, vor allem von ihrer Mutter, manchmal auch von unserem Stromableser, von irgendeiner Frau, die ihnen mal über den Kopf gestrichen hat, oder ähnlich wichtigen Bezugspersonen, auf keinen Fall aber von mir. Aufregen bringt auch gar nichts. Wenn ich mich darüber aufrege, heißt es nur: »Das haben sie auch von dir, das Aufregen.« Ich bin doch aber auch sensibel.

Die Zweijährige hält sich die Eintrittskarte ans Ohr und telefoniert schon wieder mit Laila. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich das deutsch-spanische Kuddelmuddel, das sie da spricht, dechiffrieren. Ihre Mutter, klar, hört sogar, was Laila sagt.

Ist gar nicht so übel, das Museum. Gerade waren wir in einem Dunkelraum mit Walgeräuschen. Jetzt stehen wir vor einem Brunnen und lassen uns was erklären. Am Ende sitzen die Kinder unten im Unterrichtsraum an einem runden Tisch und lernen, dass der Wal kein … ähm … und der Delfin auch nicht … ist jedenfalls sehr interessant, was die junge Museumsmitarbeiterin erzählt. Ihre Neugierde haben die Kinder eindeutig von mir.

Jetzt wird es aber Zeit, die anderen Deutschen kennen zu lernen. Wenn sich Landsleute am Ende der Welt begegnen, gibt es ja tausend Themen.

»Seid ihr auch auf dem Zeltplatz?«

»Nee, wir sind im Hostel in der Avenida … also in der Nähe vom äh … ach, und ihr auf dem Zeltplatz, ja?»

Eineinhalb Jahre wollen sie Südamerika bereisen. Sie kommen gerade aus Uruguay und werden in zwei Wochen Chile erreichen. Ich gebe ein paar wertvolle Tipps, Valparaíso, da müsst ihr hin, Santiago de Chile ist hingegen nur Durchschnitt, hat mich nicht gerockt, die Hauptstadt, die Fahrt über die Anden lohnt sich natürlich, kann ich nur empfehlen, ja, nach Bolivien unbedingt, nehmt euch aber an der Grenze vor Rotkäppchen in Acht, und vergesst mir den Norden Argentiniens bitte nicht. Sie schauen, als hätte ich nachträglich Christoph Kolumbus die Entdeckung Amerikas streitig gemacht.

»Haben die’s gut«, sage ich, als wir wieder im Auto sitzen.

»Niemals.«

»Aber überleg doch mal: Ecuador, Peru, Kolumbien, Guatemala. Und alles als Familie. Da wäre man richtig aufeinander angewiesen, und jeder müsste sich ein bisschen zurücknehmen.«

»Papa, können wir endlich losfahren? Mir ist heiß, und ich habe Hunger.«

»Ich muss pieseln.«

»¡Hola Laila!«

»Mir reicht, dass ihr euch zweieinhalb Wochen zurücknehmt.«

»Stimmt: niemals.«