Pilgern mit Hurenkindern: Die viertägige Wallfahrt (3)
von CHRISTOPH WESEMANN
Was bisher geschah: Der Autor und sein argentinischer Freund sind mit ein paar Hundert anderen Pilgern seit zwei Tagen auf Wallfahrt von Buenos Aires nach San Nicolás de los Arroyos. Halbzeit. Es geht ihnen fabelhaft. Bueno, der damenbestrumpfte Autor hatte gestern Abend eine kurze Schwächephase, ausgelöst von Klo und Dusche im zweiten Etappenort San Pedro. Aber das ist fast überstanden. Also gar nicht.
Weiter geht’s.
♦♦♦♦♦
Dritter Tag. San Pedro > El Paraíso.
12 Uhr.
Es regnet seit viereinhalb Stunden ohne Pause. Wir stolpern und rutschen durch den Schlamm, der an den Sohlen kleben bleibt. Es geht zu wie beim Langlauf: Wir wechseln von links nach rechts, auf der Suche nach der schnellsten Loipe, es sind aber alle gleich seifig und langsam.
Wo ist Maria?
Plötzlich ist alles so sinnlos. Ich will nach Hause. Ich brauche eine Dusche und trockene Klamotten. Ich brabbele vor mich hin, keine Ahnung, ob Cristian unter seiner Kapuze zuhört. Mich kotzt das alles nur noch an. Dieser Scheißsportclub gestern in San Pedro: Da kommen 300 erschöpfte Pilger, und die Inhaber schrauben nicht mal Klobrillen auf die Keramik. Von Sauberkeit wollen wir gar nicht reden, oder davon, dass man ausnahmsweise den seit Monaten herumliegenden Müll aufsammelt oder sogar durchfegt. ¡La puta que los parió!1. Verlange ich zu viel? Ich finde das unmöglich: sich Gäste einladen und die dann so empfangen. Ohne Klobrille!
»Das sagtest du bereits«, sagt Cristian. »Hörst du bald auf zu jammern?«
»Ich jammere doch gar nicht.«
»Und wie.«
»Unsinn.«
»Seit drei Kilometern jammerst du. Ist aber sehr argentinisch.«
»Okay, dann jammere ich.«
»Ich gehe ein Stück vor. Bis später.«
»Wenn du das nächste Mal zu uns zum Grillen kommst«, ich brülle jetzt, »schraube ich vorher alle Klobrillen ab. Nur damit du’s weißt.«
Wo ist Maria?
Wo steckt der dunkelgraue Peugeot?
13 Uhr.
Junge, Junge, das sind heute Abstände wie auf der Königsetappe der Tour de France. El Paraíso wird wohl unser L’Alpe d’Huez. Schon die Verpflegungsstation im Städtchen Ramallo erreichen die Letzten eine Stunde nach uns, und wir haben schon zehn Minuten auf die Schnellsten verloren.
Wir würden uns gern einen Augenblick hinsetzen, es ist aber kein Stuhl mehr frei, und die Teenagertruppe, die sich von den Begleitfahrzeugen hat chauffieren lassen, steht auch nicht auf – weder für uns noch für die Alten. Nicht mal den vier Helden, die die zwei Jungfrauen getragen haben, bieten sie einen Platz an.
»So ein verdammtes Pack!«
»Die besuchen alle eine teure Privatschule. Mama und Papa haben Kohle ohne Ende«, sagt Cristian. »Was erwartest du?«
»Scheißhurensöhne. Scheißhurentöchter.«
»Truco, mein Freund?«
»Sehr gern.«
14 Uhr.
Nach dem Mittagessen schwärmt eine alte Frau vom Wallfahren. Eine wundervolle Erfahrung sei das, nicht wahr?, man habe ja so viel Zeit für »Reflexionen«. Und das Wetter heute sei auch gar nicht so schlimm. »Mit dem Regen segnet Gott euch«, sagt sie. »Genießt es!« Sie selbst würde auch gern pilgern, aber ihre Knie schmerzten leider.
»Kann die bitte mal jemand abstellen?«
»Truco.«
»Quiero. Retruco.«
»Quiero. Vale cuatro.«
»Quiero.«
Ich habe einen Lauf und besiege am Ende sogar unseren Freund Conejo, das Kaninchen. Ich schreie, ich jubele, ich mache die Beckerfaust, und wäre ich nicht so erschöpft, würde ich jetzt Anlauf nehmen und auf Knien einmal durch den verdammten Saal rutschen, alle müssten es erfahren. Demut? Pffffffffff! Bescheidenheit? Niemals!
»In zwei Jahren, mein lieber Freund«, sage ich zu Conejo, »wirst du das Radio anmachen und hören, dass zum ersten Mal ein Deutscher die Truco-Weltmeisterschaft gewonnen hat.«
»Hahahaha.«
»Und zwar, ohne zu bescheißen.«
»Geht gar nicht.«
»Dann halt mit bescheißen.«
»Weltsensation! Weltsensation! Unehrlicher Deutscher entdeckt!«
Noch 18 Kilometer lägen heute vor uns, verkündet einer der Organisatoren. Er schätzt: Ankunft in El Paraíso, dem Paradies, in fünf Stunden. Wer allerdings nach diesem Regenvormittag nicht mehr gehen wolle, könne auch im Bus fahren.
17 Uhr.
Fünf Stunden? Pah, keine drei brauchen wir ins Paradies.
Ich muss sagen: Cristian überrascht mich. Gewiss, er geht oft hinter mir, um in meinem Windschatten Kraft zu sparen, ja, ich leiste eindeutig mehr Führungsarbeit, und es ist sicher Zufall, dass er jedes Mal, bevor wir eine Handvoll sehr hübscher Klatschpuppen am Wegesrand passieren, vorangehen will und mich zu überholen versucht. Aber sonst ist er ein zäher Kerl, verdammt hart im Nehmen. Stundenlang erträgt er mich, weitgehend ohne Murren, ich bewundere ihn dafür. Selbst mir werde ich ja schnell zu viel. Cristian jedoch hört sich alles an, er diskutiert sogar mit mir, dann erkennt er die aussichtslose Lage, in der er steckt, weil ich zu praktisch allem eine Meinung habe. Immer eine dezidierte. Meist auch mehrere. Die sich widersprechen. Was ich sofort bestreite. Weil ich Recht habe.
Theoretisch könnten wir heute warm duschen, weil um die Ecke eine Oma ihr Bad vermietet. Aber erst um 22 Uhr kämen wir dran, und das ist heute keine Option, da wird zu Abend gefressen. Rumpsteak und Rinderfilet für alle! Auf dem Grill, so groß wie eine Tischtennisplatte, liegen schon die Fleischklumpen. Und darunter, im Qualm des Feuers, trocknen unsere Schuhe.
Wir gehen dann mal kalt duschen. Bei der Polizei von El Paraíso.
Fortsetzung folgt
- traditioneller argentinischer Flucht: Die Hure, die sie geboren hat [↩]