Die letzte Woche mit Cristina Kirchner: Zu Besuch im Präsidentenpalast
von CHRISTOPH WESEMANN
Der Präsidentenpalast weiß von nichts. Oder er tut so. In den Büros wird auf Computerbildschirme geguckt, Gesprächsfetzen und Telefonläuten dringen auf den langen Flur, wo eine Putzfrau in Uniform den Boden wischt. Sie sieht auf, lächelt und erwidert den Gruß. Ruhig, beinahe still ist dieser Ort, an dem alles Alte bald endet und alles Neue bald beginnt. Am 10. Dezember zieht die Hausherrin Cristina Kirchner aus, und mit ihr eine ganze Reihe Getreuer. Es zieht ein: Mauricio Macri, und mit ihm eine ganz Reihe Getreuer. Die Casa Rosada aber, sie benimmt sich, als würde rein gar nichts anstehen. Wo ist der Machtwechsel, in dem das Land am Río de la Plata seit dem Stichwahl-Sieg des Oppositionskandidaten steckt? Wo sind die Umzugskartons?
»Wir nutzen das lange Wochenende«, sagt die Frau, die das Argentinische Tagebuch zu einem Gespräch empfängt, aber in dieser Geschichte keinen Namen haben will. Am Montag und Dienstag ist frei in Argentinien, aber hier wird dann gepackt und ausgemistet. Es dürfte sich allerlei angesammelt haben. Zwölfeinhalb Jahre lang hat der Kirchnerismus regiert. Es ist eine Epoche, die nun zu Ende geht, eine verdammt lange Zeit.
Die Frau, die bereit ist zu erzählen, wie es sich anfühlt, die Macht abzugeben, arbeitet seit vielen Jahren in leitender Funktion in der Casa Rosada. Was aus ihr wird, weiß sie noch nicht, sie hofft, dass sie weiter gebraucht wird. Sie gehört zur planta permanente, der Ebene der Staatsbediensteten mit unbefristeten Verträgen. Macri könnte sie versetzen, degradieren, mürbe machen, das ja, aber loswerden kann er nur die anderen, die auf der planta transitoria. Es sind die Beamten mit Verfallsdatum. Ihre Zeit im Staatsbetrieb läuft ab.
Eine Versammlung, um die Mitarbeiter – wie viele die Casa Rosada beschäftigt, weiß niemand – auf das einzustimmen, was komme, habe es bislang nicht gegeben, sagt die Frau. Geredet werde umso mehr. In manchen Büros säßen echte Fans der Chefin, sie tränken aus Cristina-Kirchner-Tassen ihren Kaffee und hätten Poster der Präsidentin an Wand. Sie verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Schutzheilige, und die Verzweiflung darüber passt in zwei Sätze: »Ich will nicht, dass sie geht. Wer hält denn in Zukunft zu mir?«
Macri will anders sein, anders als diese Präsidentin. Gleich am Morgen nach seinem Wahlsieg hat er sich den Journalisten gestellt. Sein Kabinett? Ein Truppe einstiger und aktueller Führungskräfte aus der Privatwirtschaft. Die erste Kabinettssitzung? Unter freiem Himmel, im Botanischen Garten von Buenos Aires. Die Kirchnerregierung traf sich nie, weil die Anführerin Durchstechereien fürchtete und die Minister deshalb einzeln zu sich bestellte. Pressekonferenzen gab sie – mit einer Ausnahme (2008) – in ihren acht Jahren auch nicht. Wozu denn? Kirchner wollte nicht überzeugen. Sie ordnete Meinungen an.
Rückblende. Die leitende Beamtin der Casa Rosada erlebt aus der Nähe, wie Cristina Kirchner nach einem triumphalen Wiederwahlsieg Ende 2011 nun die Landsleute vor die Wahl stellt: Folgt mir, oder ihr gehört nicht mehr dazu. Vamos por todo, heißt die Parole. Wir gehen aufs Ganze. Die Präsidentin setzt auf die jungen Argentinier, denn Jugend, so sagt es unsere Gesprächspartnerin, lasse sich leicht begeistern für jede »revolutionäre Schwärmerei«. Die Nachwuchsorganisation La Cámpora, gegründet vom Präsidentensohn Máximo Kirchner, erobert mit ihren Aufmärschen erst Straßen und Plätze, die politische Öffentlichkeit also – und bald darauf die Fleischtöpfe. Tausende camporistas ziehen in die Ministerien, Behörden und Staatsbetriebe ein. Der Kirchnerismus spaltet Argentinien, das Land sieht schwarz-weiß. »Grau hat nicht mehr existiert. Und wir, die Gesellschaft, haben nicht den Ausgang aus dieser Freund-oder-Feind-Dialektik gefunden.«
Macri verspricht, das Land zu befrieden, und eine Geste ist ihm schon gelungen, als er Wissenschaftsminister Lino Barañao im Amt beließ. Ein Überlebender der Zeitenwende. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht werden gar nicht viele Köpfe rollen, sondern nur die, die mit mehr Ideologie als mit Intelligenz gefüllt sind. »Hoffentlich kommen die Neuen mit guten Absichten«, sagt die Funktionärin.
Hilfe kann Macri brauchen. Er hat, das zeigt die Stichwahl, die er mit 51,34 Prozent nur knapp gewann, das halbe Land erst einmal gegen sich. Und der schlechte Brauch hiesiger Präsidenten, sich Legitimation zu erkaufen, ist keine Option. Nicht nur, weil dies ein Verrat am Wandel wäre, den Macri zugesagt hat. Es fehlt auch schlicht das Geld für Wohltaten. Die Frau aus der Casa Rosada bestätigt das mit einem schönen Bild: Das große Fest sei vorüber, sagt sie, das Fest der billigen öffentlichen Dienstleistungen, der günstigen Züge und Busse, des subventionierten Stroms, all der Staatshilfen und Sozialprogramme. »Wir Argentinier lieben, leider, fiestas. Wenn wir feiern, vergessen wir alles um uns herum. Erst wenn die Rechnung kommt, wird uns klar: Wir, die getanzt, gegessen und getrunken haben, sind auch die, die dafür bezahlen müssen.«
Und nun: la transición, der Übergang. Argentinien verfolgt mit offenem Mund, wie eine Kraft ihre Macht weiterreichen soll – und das ganz schnell, denn zwischen der Stichwahl und dem Amtseid des neuen Präsidenten liegen gerade einmal 18 Tage. Überdies neigen Argentiniens Regenten traditionell zum yo-ismo, der Ichbezogenheit. Sie sehen sich nicht als Verwalter des Staates für eine gewisse Zeit, sie sind der Staat. Er gehört ihnen, und was einem gehört, das gibt man ungern wieder her. »Wir haben keine Geschichte von demokratischen, transparenten Regierungswechseln, keine Kultur, keine Mentalität, keine klaren Regeln, kein Verfahren«, sagt die Funktionärin aus der Casa Rosada. Niemand wisse, was genau zu tun sei, nicht der Staat, nicht die Regierung, erst recht nicht die Angestellten. »Wir diskutieren gerade zum ersten Mal, was das überhaupt ist: transición.«
Das Loslassen beginnt mit ganz banalen Dingen: Welche Akten schreddere ich, welche bekommt mein Nachfolger? Machen wir eine Übergabe? Soll ich ihm helfen, sich zurechtzufinden? Darf ich das überhaupt? Aber meinen Computer nehme ich mit nach Hause. Nein? Wie, der gehört mir nicht?
Am Mittwoch, 9. Dezember, sollen die Büros geräumt sein. Dann kommen die neuen Direktoren und die Maler natürlich, und die Frau, die an diesem Ort schon lange arbeitet, hofft, dass Macris Strategen genau hingucken werden; dass sie nicht nur auf das Organigramm schauen, auf irgendwelche Titel, sondern sich jede Stelle vornehmen und den, der sie besetzt, fragen: »Was haben Sie hier eigentlich genau gemacht? Nur die Aufmärsche organisiert? Oder auch was Sinnvolles?« Was jemand könne, zähle für ihn, das hat Macri oft gesagt, weg mit der Ideologie, her mit Professionalität. Allerdings hat der öffentliche Dienst heute auch eineinhalb Millionen mehr Beschäftigte als 2003, dem Jahr, in dem der Kirchnerismus das Land übernahm. Ein Plus von 67 Prozent. Und Macris Leute und die seiner Verbündeten wollen ja jetzt auch noch mitmachen.
Auf einem der Fluren verrät sich der Präsidentenpalast übrigens dann doch: Da liegt ein Haufen aus Papier, Faxgeräten und Kabeln. Der Machtwechsel, er kommt.
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