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Habemus Leser weniger: Papst Franziskus und meine Kolumnen

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich weiß nicht, ob Papst Franziskus in Zukunft noch dazu kommt, meine Kolumnen zu lesen. Als Erzbischof von Buenos Aires hat er jedenfalls keine Kolumne verpasst, oft war Jorge Mario Bergoglio sogar der erste Leser. Nein, ich bilde mir nicht so viel darauf ein; der Mann hat Mitte der achtziger Jahre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt studiert, bestimmt hatte er immer auch Sehnsucht nach reiner deutscher Sprache.

Manchen Text, vor allem, wenn mein Nachbar Pablo darin vorkam, hat Jorge Mario Bergoglio dreimal gelesen. Meine statistischen Daten sind da eindeutig. Und wenn ich auf der Plaza de Mayo war, habe ich aus seiner kleinen Wohnung hinter der Kathedrale, gegenüber vom Präsidentenpalast, sein Kichern gehört – und manchmal durchs offene Fenster auch den Satz: »Dieser Pablo, wunderbar!«

Papst Franziskus (c) Danü

So gesehen bin ich seit der Papstwahl vor einer Woche hin und her gerissen: Einerseits freue ich mich, dass es einer meiner Stammleser ziemlich weit gebracht hat. Und ich gönne es Jorge Mario Bergoglio natürlich von ganzem Herzen, zumal ich ihn für die Idealbesetzung halte. Jemand, der Pablo mag, ist ein guter Mensch, und jeder, der meine langen Texte meistert, muss topfit sein, vor allem körperlich. Andererseits, tja, ist es so, dass ich eigentlich auf keinen Leser verzichten kann. So viele sind es ja nicht. Ich hätte also auch mit einem Papst aus Afrika gut leben können.

Schade finde ich nur, dass Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt nicht noch ein paar Wochen gewartet hat. Wahrscheinlich hätten Jorge Mario Bergoglio und ich uns sonst noch getroffen. Mir fällt ja auf, dass viele Leute in Buenos Aires den Mann, der jetzt Papst ist, schon gekannt haben, als er noch kein Papst war. Klar, er ist oft Subte gefahren, und in der vollen U-Bahn kommt man sich zwangsläufig näher. Außerdem sind neun von zehn Argentiniern katholisch, da hat ein Erzbischof und Kardinal natürlich eine ganz andere Fangemeinde als anderswo.

Obelisk

Papstfanhaus

Ich treffe kaum jemanden, der Franziskus fern steht. Mein Hausmeister fällt mir ein. Dem geht das ganze Gerede vom Papa Argentino auf die Nerven, aber der ist auch nicht katholisch. Außerdem ist er, was die Militärdiktatur betrifft, päpstlicher als der Papst. Die anderen? Schwärmen von seinen Predigten, seinem Händedruck, seiner Bescheidenheit, seinem Einsatz für die Armen, seiner unverkrampften Art. »Er war so warmherzig und hat sich immer nach den Kindern erkundigt«, hat die Frau aus meinem Stammbuchladen gesagt. Oder war es mein Zahnarzt? Wahrscheinlich beide.

Ich glaube trotzdem, dass sich der ein oder andere für ein bisschen Aufmerksamkeit gerade ziemlich an den Papst ranschmeißt. Man sollte niemals jede Geschichte glauben, die einem erzählt wird.

Pablo hat mich gestern gefragt, wann ich endlich eine Papstkolumne schreiben würde.

»Pablo, tut mir leid, aber mir fällt überhaupt nichts Witziges ein.«

»Das hält dich doch sonst auch nicht auf«, sagte er. »Also, wenn du Informationen brauchst, kein Problem. Ich kenne den Heiligen Vater ganz gut.«

♦♦♦♦♦

Die Zeichnung Franziskus‘ stammt natürlich von Danü, der übrigens jetzt auch in Buenos Aires lebt. Den eingefärbten Obelisken habe ich Herrn T. geklaut, der auch über den Papst nachgedacht hat.

Pablo und meine einlaufende Wäsche

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin quasi allein nach Buenos Aires umgezogen. Natürlich, ich hatte drei Kinder und eine Frau dabei sowie elf Koffer aus Berlin. Elf Koffer klingt viel, aber wie gesagt: drei Kinder, eine Frau. Betten, Tische, Stühle, die Mikrowelle, den Fernseher, Schränke, Töpfe, Pfannen, Teller, Tassen, fast einen ganzen Haushalt, habe ich zurückgelassen. Auch die Waschmaschine. Ja, die Waschmaschine.

Ich wollte hier nicht unsere Berliner Wohnung nachbauen. Zum einen bin ich sowieso ausgeschlossen von allerlei Vergnügen in Buenos Aires, weil ich zum Beispiel als dreifacher Vater nicht nachts durch die Clubs tanzen will – wahrscheinlich würde ich in meinem Alter sowieso an den Türstehern scheitern. Wenn ich schon nicht argentinisch feiere, will ich wenigstens argentinisch wohnen. Zum anderen brauche ich die Garantie, dass ich meine Lieben schnell in Sicherheit bringen kann, wenn es sein muss. Ich will nicht erst einen Spediteur suchen, der das von Uroma geerbte Kaffeeservice nach Deutschland verschifft.

Und Argentinien produziert ja im Augenblick nicht nur gute Nachrichten, ich mache mir durchaus Sorgen. Vielleicht ist’s nicht so dramatisch, wie ich denke, bestimmt übertreibe ich. Aber was soll ich denn davon halten, dass viele Geschäfte für eine Ratenzahlung keine Zinsen verlangen? Ich bin kein Unternehmer, ich kriege ja nicht einmal die Familienkasse anvertraut. Aber ein Produkt zu verkaufen, indem man dem Käufer mitten in einer  Inflation von mehr als 20 Prozent über Monate kostenlos das Geld dafür leiht – auf so einen Gedanken käme nicht mal ich. Klingt das nach guter Konjunktur oder einem gesunden Verhältnis von Angebot und Nachfrage?

Boca immer Junior: schrumpfende Wäsche (Symbolfoto)

Und es kommt vor, und zwar nicht selten, dass die Tankstellen kein Benzin haben. Gewiss, auch das ist kein Grund, Argentinien gleich krankzuschreiben, einerseits. Spätestens nach der fünften Tankstelle ohne kommt ja eine sechste mit Benzin. Anderseits habe ich leere Zapfsäulen zuletzt als kleiner Beifahrer meines Vaters Ende der achtziger Jahre erlebt – in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Staatsführung übrigens ließ von treuen Journalisten – andere gab es nicht – noch Erfolge verkünden, als längst Millionen jeden Glauben daran verloren hatten und Tausende in die Bundesrepublik abgehauen waren. So behauptete die SED-Parteizeitung Neues Deutschland im Sommer 1989, das rapide Wirtschaftswachstum der DDR zeige sich am »steigenden Ausstattungsgrad mit hochwertigen industriellen Konsumgütern wie Waschmaschinen, Kühlschränken, Fernsehgeräten, Pkw usw.«. Ja, auch Waschmaschinen.

Ich vermisse übrigens nichts, was ich in Berlin zurückgelassen habe – also, fast nichts, nur die Waschmaschine, und auch die erst, seit mich mein Nachbar Pablo an sie erinnert hat. Pablo hält mich für den größten boludo de la Capital Federal, nein, eigentlich von Gran Buenos Aires. Wenn wir uns treffen, mal zufällig, mal absichtlich, reden wir über dies und das, über Carlos Gardel und Diego Torres, Messi und Maradona, über die Krise von 2001/02 und den Dólar paralelo1, über die wunderbaren Menschen in diesem Land, an die wir glauben, und die Regierung.

Wir sind selten einer Meinung, und wenn es um mich geht, um mein Leben, dann erst recht nicht. Ich mag ihn trotzdem, weil er sich Mühe gibt, mir Argentinien zu erklären, obwohl ich als Zugewanderter nicht alles begreife. Neulich fragte Pablo: »Du hast in Deutschland eine Waschmaschine und bringst sie nicht mit? Du kaufst lieber eine in Argentinien? Eine argentinische Waschmaschine? Du bist wirklich der größte boludo …«

Seitdem schrumpfen die neu gekauften Klamotten der Kinder mit jeder Wäsche, und ich weiß nicht, warum. Liegt das an Industria Argentina, also an der Waschmaschine oder dem Pulver, dem Wasser oder sogar dem Kleiderstoff selbst? Bin ich, der Trottel made in Germany, bloß zu blöd, das richtige Programm zu wählen? Oder ist alles am Ende Pablos Schuld? Vielleicht bilde ich mir das Schrumpfen der Hemdchen und Söckchen ein – weil mein argentinischer Nachbar meine argentinische Waschmaschine nicht leiden kann.

  1. Ein Dollar kostet nach offiziellem Kurs 5 Pesos, ist aber nicht erhältlich; der Schwarzmarktkurs liegt bei 7,80 Pesos, steigend. Aktueller Kurs des so genannten blue dólar. []

Pablos Götterspeise vom Grill

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo glaubt, ich hätte den Gott des Asados verhöhnt.

Bis gestern hatte ich nicht gewusst, dass über das Grillen in Argentinien höhere Mächte wachen, und ich weiß noch immer nicht, ob das nun eine bedeutende Glaubensrichtung hier zu Lande ist oder doch nur eine Ein-Personen-Religion, gewissermaßen die kleinste Kirche der Welt von Pastor Pablo.

Mein Nachbar missioniert jedenfalls.

Es begann damit, dass sich Pablo bei mir zum Grillen einlud. Ich solle alles vorbereiten und dürfe ihm im Gegenzug über die Schulter schauen, er werde mir seine Geheimnisse verraten, sagte er und schaute dabei sehr geheimnisvoll.

»Welche Geheimnisse, Pablo?«

»Große Geheimnisse, sehr große Geheimnisse.«

Bislang bin ich in meinem Leben ganz gut ohne Grillgötter und Grillgeheimnisse zurechtgekommen. Wenn mein Feuer nicht brannte, fluchte ich und warf mehr Anzünder hinein. Ich platzte also nicht gerade vor Neugier. Allerdings steht in jedem Argentinien-Reiseführer auch, es gebe nichts Tolleres, als ein Asado zu erleben.

Am Nachmittag rief mich Pablo an und erkundigte sich, wie weit ich sei.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte ich.

»Super«, sagte Pablo.

»Danke.«

»Kohlen?«

»Riesentüte.«

»Zeitung?«

»La Nación

»Olé brennt besser.«

»Keine mehr gekriegt.«

»Na gut.«

»Alles klar«, sagte ich.

»Ordentlich Fleisch gekauft?«

»Hatte noch was eingefroren.«

Stille.

Ein Fehler. Mein Fehler. Ich mache dauernd Fehler. Ich mache in meinem Leben das meiste falsch und den Rest nicht richtig. Ich bestreite das manchmal, aber es ist wohl so. Das Traurige ist, dass ich mir bei allem Mühe gebe.

Vor zwei Wochen war mein Laptop kaputt. Er ließ sich anschalten und zeigte mir dann Risse auf dem Bildschirm. Aber zu fühlen waren sie nicht. Ich brauchte schnell Hilfe und ging schräg über die Straße zu einem Laden, der auch Computer repariert. Das Wort auch scheint mir im Rückblick wichtig zu sein. Das Gespräch mit dem jungen Mann im Laden war angenehm, ich hatte ein gutes Gefühl. Wir waren uns sofort einig, dass es ein Virus ist. Er sagte: »Alles kein Problem, krieg ich hin, ich ruf dich an.« Dann kümmerte er sich weiter um einen grauen Schlauch, der wohl undicht war.

Es ist ja so: Ohne Vertrauen geht nichts in Argentinien. Wenn ich das Auto ins Parkhaus bringe, gebe ich den Schlüssel entweder ab oder lass ihn stecken. Wenn ich wiederkomme, steckt der Schlüssel oder er liegt draußen auf der Scheibe neben den Wischern. Manchmal steht das Auto auch anderswo. Es wird in Abwesenheit der Fahrzeughalter viel hin und her geparkt, weil oft fünf Autos hintereinander stehen, wobei links und rechts kein Platz ist. Es kann passieren, dass der zuerst eingeparkte Wagen auch zuerst abgeholt wird – dann müssen zunächst die anderen vier nacheinander umgesetzt werden.

Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, um mich damit abzufinden, dass ich das Auto samt Schlüssel zurücklasse. Die Parkhausmänner sehen nicht immer sehr vertrauenserweckend aus, für meinen Geschmack tragen sie die Haare zu lang. Wahrscheinlich bin ich da befangen. Ich hatte auch mal lange Haare, und das war keine angenehme Zeit – nicht für mich, nicht für die anderen. (Ich sah ein bisschen aus wie John Lennon, was ein Problem ist – außer, man ist John Lennon.)

Für Frauen wird natürlich eingeparkt – für hübsche sogar kompliziert. Das soll erstens Eindruck machen und zweitens sicherstellen, dass für die Dame auch wieder ausgeparkt werden muss.

Ich habe mir um meinen Laptop also überhaupt keine Sorgen gemacht.

Pablo hatte ein anderes Gefühl. »Du hast ihn doch nicht einfach dagelassen, oder? Und du hast bestimmt nichts, um zu beweisen, dass du da warst?«

»Doch!«

»Gut. Bin stolz auf dich. Zeig mal her!«

»Am Kühlschrank.«

»Das ist eine Visitenkarte, boludo

»Eine magnetische Visitenkarte.«

»Kein Name. Keine Adresse. Und lies mal, was drauf steht: Der Typ repariert Waschmaschinen, Mikrowellen und Kühlschränke.«

»Computer auch«, sagte ich. »An seiner Ladentür klebt ein Poster vom Pentium

»Wie heißt der Typ überhaupt?«

»Adriano. Glaub ich. Oder Andres. Irgendwas mit A.«

»Irgendwas mit A«, schrie Pablo. »Hallo Polizei, bitte Großfahndung: Gesucht wird irgendwas mit A, das Kühlschränke, Waschmaschinen und Mikrowellen repariert. Ach ja, und Laptops klaut. Aber mein deutscher Freund hat eine verdammt heiße Spur: eine Visiten … pardon … eine magnetische Visitenkarte.«

Ein paar Tage später lief ich durch die Avenida Corrientes. Sie ist berühmt für ihre Buchläden, ihre Theater und Opern, man nennt sie auch den Broadway von Buenos Aires. Ich beschloss, einem der Schuhputzer, die dort Tag für Tag auf dem Bürgersteig sitzen, einen Besuch abzustatten. Natürlich putze ich meine Schuhe auch selbst. Aber zum einen erzählt der Journalist Sebastian Schoepp in seinem wunderbaren Buch »Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann« von einem Erlebnis in Nicaragua:

Einmal erwischt Douglas mich dabei, wie ich meine Schuhe putze. »Warum gibst du die nicht einem der Schuhputzer, die überall draußen herumlaufen, der muss auch Geld verdienen, um zu überleben?

Zum anderen gebe ich in der Corrientes so viel Geld für Bücher aus, um dann immer aufs Neue schon beim Vorwort – überfordert von der Fülle unbekannter Wörter – auszusteigen, dass viel dafür sprach, umgerechnet 2,50 Euro einmal sinnvoller anzulegen.

»Zieh deine Schuhe aus, ich nehme die mit nach Hause.«

Ich schaute von meiner Zeitung auf. »Wissen Sie, was ich gerade verstanden habe?«

»Wie sollte ich?«

»Dass Sie meine Schuhe mitnehmen wollen. Witzig, oder?«

»Wie man’s nimmt. Ich hab’s ja gesagt. Die Dinger muss ich über Nacht behandeln. Sind morgen fertig. Dort drüben ist ein Schuhgeschäft. Gruß von Alfredo, kriegst einen schönen Rabatt.«

Natürlich ist mir zu Hause Pablo im Fahrstuhl begegnet.

»Schicke Schuhe. Neu?«

»Ja.«

»Bisschen zu grün vielleicht.«

Pablo hörte sich meine Geschichte bis zum Ende an. »Warte«, sagte er dann und drückte die Stopptaste des Fahrstuhls. »Erzähl sie mir noch mal. Du bist ja noch dümmer, als ich dachte.«

Ich habe dann gleich gemerkt, dass Pablo wegen des eingefrorenen Fleisches nicht so richtig Lust hatte, mit mir zu grillen. Immer wieder murmelte er etwas vom Wetter, ging hinaus auf die Terrasse und schaute minutenlang schweigend gen Himmel, kam in die Küche, roch am Fleisch, redete Unverständliches mit seinem Asadogott und ging wieder nach draußen.

»Pablo, ich gucke mal im Internet, wie das Wetter wird, ja?«

»Du glaubst dem Internet?«, fragte er und machte ein Geräusch, das wie pffffffff klang. Dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. »Che Augustin! Holabuendiaquetal? Geh mal schnell zum Fenster. … Ja, ich weiß, dass du viel zu tun hast. … Haben wir alle. … Die Señora an Tisch drei kann warten. … Ist sie wenigstens hübsch? … Siehst du, dann kann sie erst recht warten. … Ja, bei mir ist alles gut. … Nun sag mal, was ist mit Uruguay? … Echt? Hmmh. Wusst ich’s doch! … Du kannst die Speisereste in den Bärten erkennen? … Nicht mal ordentlich essen können die, hehe. … Du, die Señora mit den breiten Hüften wartet auf dich. Wir sehen uns. Hasta luego!«

Pablo legte sein Telefon beiseite und sagte: »Bestellen wir uns eine Pizza. Asado fällt aus. Regnet nachher.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Augustin, alter Freund von mir, absolut zuverlässig. Arbeitet als Kellner im 22. Stock, feinster Blick über unsere herrliche Stadt.«

»Und?«

»Er sieht Uruguay, also nicht das ganze Land oder vielleicht doch, ist ja nicht so groß. Die Küste sieht er jedenfalls. Und wenn Augustin im 22. Stock über den Río de la Plata nach Uruguay schauen kann, gibt’s bald Regen in Buenos Aires. Ist so. Sehr altes Wettergesetz. Die Wäsche kannst du schon mal abnehmen. Übrigens, welches Land liegt am dichtesten am Himmel?«

»Argentinien?«

»Nee, mein Lieber, Argentinien ist ja der Himmel.«

»Dann wohl Uruguay.«

Ja, Humor haben sie, die Argentinier. Neulich war ich mit der Einjährigen im Kinderkrankenhaus. Sie hatte Fieber und sollte Urin abgeben. Die Schwestern erzählten etwas von aseptisch und schickten mich über die Straße zur Apotheke, um einen Becher zu kaufen. Als ich zurück war, ermahnten sie mich, beim Wasserholen sozusagen Abstand zum Brunnen zu halten, wegen aseptisch. War sicher alles nett gemeint und medizinisch vorbildlich. Wenn das keimfreie Gefäß aber leer bleibt, weil Vaters ballistische Kenntnisse nicht ausreichen, um den weiblichen Strahl aufzufangen, hätte es auch der ausgewaschene Joghurtbecher getan, den die Bolivier neben uns gereicht bekamen.

Ich hatte mittlerweile Kohlen und Kohlenanzünder im Verhältnis 2:1 gemischt. Das Feuer brannte noch nicht, da begann ich schon, die Steaks auszupacken und den fettigen Chorizos Schnittwunden zuzufügen. Pablo versuchte noch immer, in die Wolken zu schauen, wurde aber von Minute zu Minute unruhiger. Er ging jetzt auf und ab, kam zu mir und lief wieder weg, fummelte an seinem Telefon herum und blätterte in La Nación, drehte noch eine Runde. Und wenn er sich einen Augenblick nicht bewegte, nicht mit sich selbst sprach, nicht getrieben war, stach ich mit der Gabel tief ins Fleisch hinein. Das wirkte.

»Waaaaaas machst du da?«, schrie er irgendwann.

»Ich grille, und ich gucke, ob das Fleisch schon durch ist.«

»Du grillst nicht, du entweihst unser Fleisch, unser heiliges argentinisches Fleisch, das beste Fleisch der Welt, unseren Stolz.«

»Oh bitte, Pablo!«

»Ich sag dir: Der Asadogott sieht alles. Du bist hier nur Gast!«

Pablo nahm mir das Grillbesteck ab und schob mich beiseite. Dann zog er seinen Pullover aus. Er stand vor mir im Unterhemd und versuchte, mich auf seine vielen Brusthaare neidisch zu machen. Was ihm auch gelang.

»Showtime«, sagte er und klatschte in die Hände. »Es ist das erste und das letzte Mal, dass ich dir meine Geheimnisse zeigen werde. Und pssssst! Kein Wort zu niemandem!«

Es hat nicht geregnet an diesem Abend. Und ich habe alles wiederbekommen: erst meine Schuhe, die wie neu aussehen, dann nach einer Woche den Laptop. Ich weiß nicht, was genau kaputt war. Aber ein Virus war es nicht. Sogar das Wasserholen bei der Einjährigen hat geklappt. Mit Katheter.

Der überfragte Pablo

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo ist mein Wirklichkeitserklärer. Wenn ich etwas über Argentinien oder Buenos Aires wissen will, gehe ich nicht mehr zu Google, sondern zu Pablo. Die Trefferquote ist in Ordnung. Manchmal fühle ich mich sogar wie ein Argentinier. Das politische Geschehen zum Beispiel kann mir Pablo exakt so erklären, dass ich es nicht verstehe. Klar, er hat auch Wissenslücken. Ich habe ihn mal nach Bettina Wulffs Vergangenheit gefragt, das war eher nicht so ergiebig. Und ja, manche Antwort scheint mir ein bisschen kurz geraten. Andererseits, Freunde, ich schreibe Kolumnen, in meinem Scherzzeugkasten ist kein Platz für Komplexität.

Neulich sollte mir Pablo sagen, warum sich der Verkehr in Buenos Aires an vielen Stellen staut. Ich weiß nicht, welche Antwort ich mir erhofft hatte – jedenfalls nicht die, die mir Pablo gab. Er sagte: »Viele Autos.« Danach habe ich erst mal mich selbst gefragt, ich wollte von mir wissen, ob ich vielleicht nerve. Meine Antwort an mich war: Nein.

Manchen Fragen kann ich nun einmal nicht ausweichen. Wenn ich in Buenos Aires unterwegs bin, sehe ich einen Supermarkt nach dem anderen, und alle sind in chinesischer Hand. Der Fleischverkäufer, die Kassiererin, der Mann an der Obstwaage – alle Chinesen. Und sie sprechen das Castellano, das südamerikanische Spanisch, besser als ich. Dazu gibt es noch viele chinesische Restaurants in Buenos Aires. Ich sehe überall Chinesen. Warum? So etwas beschäftigt mich.

Pablo sagte: »Viele Chinesen.«
»Hmmh.«
»Das ist die Antwort, Nachbar. Es gibt einfach viele Chinesen. Einskommairgendwas Milliarden.«

Strichmännchen

Eine andere Frage, die mich verfolgt, ist: Warum fahren Argentinier zwischen zwei Spuren und machen so das Überholen unmöglich? Ich muss zweimal pro Woche in die Avenida Rivadavia, die angeblich längste Straße der Welt. Meine Navigation prophezeit mir die Ankunft in 16 Minuten. Die erste Viertelstunde verbringe ich damit, mich über die Leute zu erregen, die hupen, obwohl das überhaupt nichts bringt. Danach beginnen die Kinder, mich unter Druck zu setzen. Wenn sich nichts bewegt, obwohl die Ampel grün ist, rufen sie: »Hup doch mal!«

Inzwischen gelingt es mir, diesen Satz fünfmal zu ignorieren.

In der rechten Spur schleichen die Taxifahrer auf der Suche nach Kunden, in der linken Spur wird zweitereihegeparkt, um schnell etwas einzukaufen, wobei auch das nicht schnell geht. Man biegt ab, ohne zu blinken, und schaltet das Warnblinklicht ein, bevor man hält. Ich könnte rückwärts laufen und wäre nicht langsamer. Nach 35, 40 Minuten brauche ich die Kinder nicht mehr als Anstifter. Ich lasse die Hupe kaum noch los. Und soll mir bloß keiner sagen, das bringe nichts. Es bringt was.

Dass Argentinier auf zwei Spuren fahren, würde mich wahrscheinlicher weniger beschäftigen, wenn’s nicht ansteckend wäre.

Ich habe zunächst Señor G. gefragt, einen Paraguayer, den ich zufällig getroffen hatte und der schon lange in Buenos Aires lebt. Er schien sich über meine Frage sehr zu freuen. Er hat jedenfalls weit ausgeholt und mir zwanzig Minuten lang erklärt, warum der Argentinier zu den eher unsympathischen Wesen auf dem Kontinent gehöre. Weitere zehn Minuten hat er sich abfällig über Porteños, die Hauptstädter, geäußert.

Um sowohl das Verhältnis Argentiniens zu mir als auch zu Paraguay nicht zu belasten, halte ich es für sinnvoll, den Monolog zu zensieren. Zitiert werden dürfen folgende zwei Sätze von Señor G.: »Argentinier wollen sich immer, in allen Lebenslagen, alle Optionen offenhalten. Sie sind Opportunisten.«

Mit diesem Recherchematerial habe ich mich zu Pablo begeben. Um den erhobenen Datensatz, also die Antworten, vergleichen zu können, achtete ich darauf, ihm die Frage genau so zu stellen, wie ich sie Señor G. gestellt hatte: gleiche Wörter, gleicher Tonfall.

»Du meinst diese Linien auf der Straße, diese weißen Striche, ja?«, fragte Pablo.
»Bitte beantworte nur meine Frage.«
»Das sind doch bloß Empfehlungen.«

Und so wie gefahren wird, wird auch gesprochen. Ich spreche ja nach wie vor ein sehr sauberes Oberschichtenspanisch. Ich habe zwar den Wortschatz eines Zweijährigen, halte mich aber an alle grammatischen Regeln. Über das Nichts kann ich druckreif reden.

In der Spanischschule habe ich gelernt, dass der Porteño das s vor Konsonanten und auch am Ende eines Wortes oft verschluckt, vernuschelt und verschweigt. Ich höre das auch die ganze Zeit. Ich gehe ins Café und bestelle drei Croissants. Ich sage: »Tres medialunas!«
Antwort des Kellners: »Bueno. Tre medialuna.«

Kein Porteño versteht, was ich mit dem fehlenden S von ihm will. Pablo sagt jedes Mal: »Weiß echt nicht, was du meinst, Krietoff.«

 

Pablo, der Russe und eine fernsehsüchtige Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Neulich hat mein Nachbar Pablo geklingelt und mich um einen Kochtopf gebeten. Um genau zu sein, hat er gesagt: »Dodó, rück mal einen Kochtopf raus. Am besten einen großen. Ich will Spaghetti machen. Kriegst du vielleicht auch wieder.«

»Können Sie bitte …«, »Würdest du vielleicht …«, »Ich hätte gern …« – so reden nur Ausländer. Porteños sind Freunde klarer Befehle. Und den Spitznamen hat sich Pablo für mich ausgedacht, weil mein Spanisch angeblich klingt wie das von Dodó, dem Assistenten von »Inspektor Clouseau«. Wenn ihm mein Akzent zu französisch wird, also ungefähr nach jedem dritten Satz, den ich sage, zitiert Pablo den Zeichentrickdetektiv: »¡No digas si, Dodó, di oui!« – »Sag nicht si, Dodó, sag oui.« Er findet das wahnsinnig witzig.

Nur seinen Freunden stellt er mich nicht als Dodó vor. Da bin ich, seit ich ihm erzählt habe, dass ich eine Weile in der Ukraine gelebt hätte, »el ruso«. Klar ist das geografisch und historisch ein wenig ungenau. Aber Europa, und erst recht dessen Osten, liegt auch nicht gerade um die Ecke. Und wie viele Deutsche wiederum können Venezuela von Ecuador unterscheiden?

Vorgestellt werde ich übrigens so:

»Daniel, findest du nicht auch, dass der Russe wie ein Franzose Spanisch spricht?«
»Also wenn du mich fragst, Pablito, schlimmer als Dodó.«
»Das habt ihr doch geprobt, oder?«, frage ich.
Und dann rufen zwei Porteños gemeinsam: »¡No digas si, Dodó, di oui!«

Weil es mit meinem Spanisch nicht schnell genug vorangeht, bin ich dazu übergegangen, die Zeit, die ich schon in Buenos Aires lebe, zu verkürzen, und Wörter, die ich nicht kenne, zu umschreiben. Neulich wusste ich nicht, was »Zitronenpresse« heißt, wollte aber unbedingt eine kaufen.
»Ich brauche so ein Ding, um Saft aus einer Zitrone zu machen«, sagte ich zum Verkäufer und bewegte meinen Arm wie anno siebenundachtzig, als mir auf dem Rummel der Einarmige Bandit mein ganzes Taschengeld abgenommen hatte.
»Exprimidor?«, fragte der Verkäufer.
»Kann sein.«
»Exprimidor!«, sagte er und spielte für einen Augenblick auch an einem unsichtbaren Einarmigen Banditen.
»Ja!«, rief ich. »Verzeihung, ich lebe erst seit zwei Wochen hier und lerne die Sprache noch.«
»Erst zwei Wochen? Mann, dein Spanisch ist toll.«
»Danke.«

Wenn ich weiter so schleppend lerne und deshalb meine Ankunft in Buenos Aires noch mehr vorverlegen muss, kaufe ich bei dem Mann bald einen Mixer und bin eigentlich noch gar nicht da.

Auch für die Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat Pablo einen Spitznamen. Er nennt sie immer nur: la Señora Botox. Pablo mag nichts an ihr. Es stört ihn alles, und keineswegs bloß das, was inzwischen ziemlich vielen auf die Nerven zu gehen scheint: die aufgespritzten Lippen, die langen Reden, die schwarzen Kleider, die sie aus Trauer um ihren vor fast zwei Jahren verstorbenen Mann noch immer trägt, natürlich paillettenbesetzt, die Tränen, die sie seinetwegen weint. Pablo fühlt sich auch von ihrer Politik, den immer neuen Gesetzen, gegängelt und kontrolliert.

Angesichts einer Inflation von 20 bis 30 Prozent ist es zum Volkssport geworden, Peso in Dollar umzutauschen, wogegen Cristina, die oberste Argentinierin, aus fiskalpolitisch verständlichen Gründen etwas hat. Zum offiziell festgelegten Wechselkurs von viereinhalb Pesos für einen Dollar kriegt man ohnehin nichts mehr. Also tauscht man auf dem Schwarzmarkt an der Straßenecke für 6,35 Pesos »blue dollar« oder reist ins Ausland. Oder man bedrängt den Nachbarn, der Ausländer ist, doch endlich mal Dollar aus der Heimat zu besorgen. Mein Glück ist, dass mich bislang niemand aus Deutschland besucht hat, ich weiß aber nicht, wie lange ich Pablo noch hinhalten kann, zumal das mit dem Ausland gerade wieder schwieriger geworden ist: Wer nämlich dort mit seiner Kreditkarte bezahlt oder auch nur für die nächste USA-Reise im Internet einen Mietwagen bestellt und die Kosten von seinem Pesokonto abbuchen lässt, dem nehmen die Banken neuerdings zusätzlich 15 Prozent ab.

Es wäre wirklich hilfreich für mein Verhältnis zu Pablo, wenn endlich jemand zu Besuch käme.

Die Präsidentin hat in diesem Jahr bereits 17-mal, insgesamt 15 Stunden, elf Minuten und 38 Sekunden, im Fernsehen zu ihrem Volk geredet. Laut Verfassung soll die TV-Ansprache des Staatsoberhauptes eine Ausnahme sein, eine Sache für den Ernstfall. Und die staatlichen Sender müssen übertragen, obwohl Cristina eine Quotenkillerin ist. Als sie neulich zum »Tag der Industrie« um kurz vor halb elf – nachts, wohlgemerkt – zu reden begann, lief in jedem zweiten argentinischen Haushalt ein öffentlicher Kanal. Die Sender unterbrachen das Programm, um die Präsidentin zu zeigen, und eine Viertelstunde später schauten nur noch 36 Prozent zu. Frau Kirchner sprach eine Stunde und vier Minuten. Pressekonferenzen und Interviews gibt sie selten bis nie.

Ich hätte die Rede fast verschlafen, wenn mich nicht ein ungeheurer Lärm geweckt hätte. Er schien von draußen zu kommen. Ich taumelte aus dem Bett, um nachzuschauen, was los sei. Auf dem Weg zum Balkon wurde der Lärm klarer: Ich erlebte zum ersten Mal cacerolazo, den berühmten Protest der argentinischen Mittelschicht gegen die Politik, populär geworden in der großen, auch blutigen Staatskrise Ende 2001, als zwei Tage geplündert wurde und 28 Menschen starben.

Auf dem Balkon über meinem stand Pablo und schlug auf einen Kochtopf. Als er mich im Schlafanzug entdeckte, schrie er: »Hast du nicht mitbekommen, dass bei Facebook aufgerufen wurde, die Rede der La Señora Botox zu stören?«
»Pablo, ist das mein …«
»Ich verstehe dich nicht, ist so laut hier. Wir haben es satt …«
»… Kochtopf?«
» … sie ständig im Fernsehen zu sehen.«
»Wolltest du nicht Spaghetti kochen?«
»Die haben einfach meine Serie unterbrochen.«
»Paaaaaabloooooooooo, ist das mein Kochtopf?«
»Ja natürlich, denkst du denn, ich nehme für diese Frau meinen, Doooooooodóóóóóóóóóóóóóó?«

Manuel und der Detektiv

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich kenne mich, und ein Mensch, der mir sehr nahesteht, behauptet sogar, das täte ich überaus gern. Ich kann ausschließen, dass ich eines Tages im Bad mein Spiegelbild anschreien werde. Ja, vielleicht schreie ich dann auf der Straße Wildfremde an, einfach so, das wiederum schließe ich nicht aus. Um ehrlich zu sein: Ich gehe davon aus, dass das hin und wieder passiert, so ein-, zweimal pro Woche. Seit heute Morgen weiß ich, dass ich ein bisschen auf mich achtgeben muss.

Gestern war noch alles in Ordnung.

Ich hatte im Supermarkt neben dem Kindergarten ein Baguette gekauft, so ein Ding, das sich der Nichtfranzose in die Achselhöhle des Franzosen denkt. Dann ließ ich mir von Fernanda, der Erzieherin, die Kinder aushändigen, zählte auf der Straße nach, kam auf drei und war zufrieden. Das Baguette klemmte ich am Dach des Kinderwagens fest. Der hatte nun ein bisschen Überbreite, aber mit drei Kindern hat die ja jeder Spaziergang.

Ich wollte nach Hause gehen. Die Kinder wollten das auch, im Prinzip, also nicht gleich, lieber in zwei Stunden und unbedingt erst nach einem Ausflug auf den Spielplatz. Vielleicht bin ich auf der ganzen Welt der einzige Vater, der nicht gern Spielplätze besucht. Vielleicht liegt es daran, dass meiner Tochter immer eine halbe Sahara in den Nacken gekippt wird und ich meinen Sohn überreden muss, sich dafür zu entschuldigen. Und eine große Gemeinheit, zu der Kinder fähig sind, ist die, dass sie zwar überall allein hinaufkommen, aber nicht wieder hinunter, weshalb mir ständig irgendein rostiges Klettergerüst beweist, dass ich alt und ängstlich und schwach geworden bin. Wir verhandelten mehrere Minuten und einigten uns auf: erst ein Eis, dann eine Limonade und dann nur eineinhalb Stunden Spielplatz. Ich habe schon schlechter verhandelt.

Ein Weilchen später, nachdem ich ein paar Mal bemerkt hatte, wie alt und ängstlich und schwach ich geworden bin, entdeckte ich, dass der Kinderwagen keine Überbreite mehr hatte. Das Baguette war angebissen.

Meine Kinder behaupteten gleich, nichts gegessen zu haben. Ich ließ sie nebeneinander antreten und durchsuchte ihre Münder nach Brotresten. Bestimmt gibt es elegantere Methoden, ein Verhör vielleicht, aber bei meinen Kindern klappt das nicht. Die beschuldigen sich entweder gegenseitig oder geben einander ein Alibi. Und ich bin nun einmal nicht halb so schlau wie Inspektor Columbo.

Nichts. Keine Brotreste.

Mein Sohn hatte gleich einen Verdächtigen gefunden: den Jungen im Trikot von River Plate.

Es ist in Buenos Aires sehr verrückt mit dem Fußball. In keiner anderen Metropole, vielleicht mit Ausnahme Londons, gibt es so viele Erstliga-Fußballklubs. Die beiden wichtigsten Vereine der Stadt und damit auch des Landes sind die Boca Juniors und River Plate. 40 Prozent der argentinischen Fußballfans, vor allem viele Arbeiter, fiebern angeblich mit Boca, 32 Prozent, vor allem die Mittelschicht und die Wohlhabenden, halten zu River. Der Rest ist für Quilmes oder San Lorenzo oder Rosario, weiß der Teufel, warum. Und wenn die beiden Großen gegeneinander spielen, ist das natürlich kein »Clásico«, sondern ein »Superclásico«, der das Land tagelang lahmlegt.

Es gibt angeblich sogar Fans, die testamentarisch verfügen, dass sie im Trikot des Feindes beerdigt werden – damit wenigstens einer von denen geht. Verglichen mit diesem Duell, bestreiten Schalke und Dortmund zweimal im Jahr ein Kaffeekränzchen.

Mein Sohn steht auf Boca, obwohl sein Vater kein Arbeiter ist, und er hat seine Gründe. Der eine ist: Diego Maradona. Argentiniens »Goldjunge« hat zweimal für Boca gespielt, von 1981 bis 1982 und von 1995 bis 1997. Der andere Grund ist: Rivers Trikot hat einen roten Diagonalstreifen.
»Vorsicht, mit falschen Beschuldigungen, mein Sohn«, sagte ich.
»Nein, Papa, die von River sind wirklich böse.«

Nun weiß man von Fjodor Dostojewskis Rodion Romanowitsch Raskolnikow, dass der Täter ein Gewissen hat und sich selbst überführen kann. Ich stellte dem Brot-Dieb also eine Falle. Ich zog das verbliebene Baguette ein Stück aus der Tüte und legte es zurück auf den Kinderwagen, entfernte mich und schaukelte wie ein Irrer. Mein Brot ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Schon bald sah ich, wie sich ein Junge meinem Baguette näherte. Ehe er zugreifen konnte, stellte ich ihn.

Über die Verschlagenheit der Porteños braucht mir keiner mehr etwas zu erzählen. Die haben’s wirklich drauf, und ich bin von ihren Künsten jeden Tag aufs Neue überfordert. Ich kaufe in der U-Bahn oder an der Straßenecke immerfort Dinge, die ich schon besitze, nicht brauche oder nicht brauche und trotzdem besitze: Ich habe für umgerechnet acht Euro eine Armbanduhr gekauft, die nach drei Wochen eine Ex-Armbanduhr ist und ihren vorzeitigen Ruhestand in einer Schublade verbringt. Eine Ex-Umhängetasche habe ich auch. Ohne Schultergurt hängt sie jetzt irgendwo ab. Und wenn ich nachschaue, welches unfähige Volk auf Erden etwas herstellt, das sich selbst zerstört, steht irgendwo stolz und groß: »Industria Argentina«.

Ich lese gerade die neue Ausgabe der Straßenzeitung »Hecho«, die der Verkäufer als argentinisches »Hinz&Kunzt« bewarb, nachdem er erfahren hatte, dass ich aus Deutschland komme. Erst vorgestern habe ich einem übel zugerichteten Mann so viele Pflaster abgekauft, dass ich jede Nacht auf einem Kaktus schlafen könnte und trotzdem noch genug hätte für die ersten Schnittwunden im Jenseits. Andererseits, vielleicht kleben die Pflaster auch gar nicht.

Wenn ich in der U-Bahn ausnahmsweise einmal nichts kaufe, liegt das daran, dass der Waggon so voll ist und ich nicht an mein Geld komme, weil ich affenähnlich an der Stange hänge, um jemandem Platz zum Aussteigen zu machen. Die »Subte« ist eigentlich immer voll, also jedenfalls morgens, mittags, nachmittags und abends. Ich bin mittlerweile fünfzigmal gefahren und hab einmal gesessen: an einem Sonntagmorgen um halb zehn. Aber da benimmt sich die Hauptstadt auch, als hätte sie einen Kater. Zu allen anderen Zeiten sind die Züge so voll, dass immer Hände am Gesäß sind – entweder die eigenen an einem anderen oder die anderen am eigenen. Ich habe auch den zweiten Fall zu schätzen gelernt.

Im Augenblick ist die »Subte« leer. Sie fährt nämlich gar nicht, weil die Angestellten seit Freitag für höhere Löhne streiken. Die Stadt liegt lahm, als würden fünf »Superclásicos« am Stück gespielt; an den Haltestellen stehen 200 Menschen und warten auf den Bus; der kommt und fährt weiter, weil er schon voll ist. Ein Taxi zu finden ist fast unmöglich. Und auf den breitesten Straßen der Welt stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Es gibt im Fernsehen Sondersendungen, aber die Leute bleiben fröhlich. Niemand rempelt. Niemand flippt aus. Geflucht wird, als führe die »Subte«. Also pausenlos.

Ich fahre auch Auto in Buenos Aires. Ich hatte ein bisschen Angst vor der ersten Tour, auch vor der zweiten und dritten, das hört wohl nie ganz auf. Mag sein, dass es anderen egal ist, wenn sie etwas falsch machen und deshalb von vorne, von der Seite und von hinten beleidigt werden. Ich werde nie ganz loswerden, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Ich denke noch immer, das spricht sich rum unter den drei Millionen Argentiniern in Buenos Aires, ungefähr so: »Da ist ein Deutscher in der Stadt, hombre, wie der fährt, das glaubst du nicht. Eine Navi im Cockpit, die mehr wert ist als mein Auto, aber null Orientierung. Ohne Bordsteinkante stünde der mit seiner Kutsche schon in deinem Schlafzimmer.«

Aber Pablo hat mich beruhigt. Er wohnt über mir. Ich weiß nicht, was er beruflich macht, ich würde es wahrscheinlich ohnehin nicht verstehen. Er hingegen weiß schon allerhand über mich, ich habe mich als neuer Nachbar jedenfalls gleich ordentlich vorgestellt.
»Ich nenne dich Cristóbal oder jefe, vielleicht auch Deutscher oder Brille oder Nase, so machen wir das hier nämlich«, sagte er. »Und damit das klar ist: Deinen grässlichen Nachnamen merke ich mir gar nicht erst.« Ich sieze Pablo, aber auch nur, weil ich das »voseo«, die südamerikanische Form des Duzens, noch nicht richtig beherrsche.
»Eines solltest du wissen«, sagte Pablo. »Porteños sind schlechte Autofahrer. Porteños behaupten immer, alles zu können, ich weiß das, weil ich selbst einer bin.«
»Und was bedeutet das für mich?«
Pablo überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Weiß nicht.«
»Muss ich anders fahren?«
»Ich denk drüber nach«, sagte er und verabschiedete sich. »Ich kann übrigens sehr gut Auto fahren.«

Am nächsten Tag klebte an meiner Tür ein Zettel von Pablo. Darauf stand: »Habe noch mal nachgedacht, Schumi. An vielen Ecken stehen Jugendliche und bieten Dir etwas an, wollen die Autoscheibe putzen oder machen Kunststücke, wenn die Ampel rot ist. Sei höflich und zeig ihnen mit Deinen Händen ein no! Und für nichts auf der Welt öffnest Du das Fenster, für nichts auf der Welt, selbst wenn jemand auf dem Asphalt einen Kopfstand macht, der olympiareif ist, für nichts auf der Welt. Ist das klar?«

Mir ist gleich aufgefallen, dass Argentinier anders fahren. In Deutschland benutzt man gern die Lichthupe, hier lässt man das Licht weg. Zebrastreifen sind nur Zierde und darüber hinaus ohne jede Bedeutung. Ich habe noch keine Ahnung, wie das an einer Kreuzung ohne Ampel ist. Es ist alles sehr industria Argentina. Manchmal kommt es mir vor, als würde rechts vor links praktiziert. Aber diese Regel scheint nicht immer und nicht überall zu gelten. Manchmal fährt auch links vor rechts. Ich schließe nicht aus, dass es auf die Schönheit ankommt – nur: auf die Schönheit des Autos (gut für mich) oder die des Fahrers (gut für die anderen)?

Der argentinische Rodion Raskolnikow hat sich mir übrigens als Manuel vorgestellt, doch wahrscheinlich ist das nicht sein echter Name. In einem hundsgemeinen Dialekt, den ich kaum verstand, bestritt er alles. Ich ließ ihn erst mal ausreden und fragte dann nach seiner Mutter. Manuel sagte, er sei mit seinem Vater auf den Spielplatz gekommen, und zeigte auf einen in der Sonne dösenden Riesen.

»Na ja, wir können das ja auch alleine klären«, sagte ich. Mit einem hundsgemeinen Akzent, den er kaum verstand, redete ich auf ihn ein. Ich machte ihm erst ein schlechtes Gewissen und gab dann der Welt, dem lieben Gott und der Präsidentin eine Teilschuld. Irgendwo, zwischen zwei eher wirren Gedanken, verlor ich auch meine Grammatik. Um Manuel zu zeigen, dass er nicht stehlen müsse, sondern auf die Gutherzigkeit von lieben Menschen vertrauen solle, schenkte ich ihm zum Abschied noch ein Stück vom Baguette und bestand darauf, dass er es vor meinen Augen isst. Noch mit vollem Mund behauptete er, Weißbrot gar nicht zu mögen.

Ich fühlte mich gut. Ich hatte einem Kleinkriminellen den Weg aus dem Milieu gewiesen. Von meinen Kindern ließ ich mich feiern.

Das fehlende Baguettestück habe ich am nächsten Morgen auf dem Weg zum Kindergarten gefunden, an einer Stelle des Bürgersteigs, die für Kinderwagen mit Überbreite sehr eng ist.

Ich nehme die Beschuldigungen hiermit zurück. Tut mir Leid, Manuel.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)