Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse
von CHRISTOPH WESEMANN
Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.
Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.
Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.
Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.
Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.
»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.
»Und wie!«
»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«
»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«
»Super Trainer.«
»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«
»Äh.«
Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.
»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.
Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.
In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.
Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.
Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.
Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«
So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.
Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.
Drei Tore in einem Spiel.
Mein Sohn.
Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien