Posts Tagged ‘Schule’

Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.

Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.

Helsinki

Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.

Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.

Messi

Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.

»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.

»Und wie!«

»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«

»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«

»Super Trainer.«

»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«

»Äh.«

Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.

»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.

Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland  besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.

In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.

Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.

Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.

Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«

So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.

Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.

Drei Tore in einem Spiel.

Mein Sohn.

Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien

Die Herkunft der angeblichen Quilmes-Läuse (Richtigstellung)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich entschuldige mich in aller Form bei den Fans des Quilmes Atlético Club für die Unterstellung, meinen Sohn neulich im Fußballstadion mit Kopfläusen versorgt zu haben. Ich wurde unzureichend eingebunden. Leider erst heute, also viel spät, hat mich die Schuldirektorin des Siebenjährigen korrekt informiert.

Betreff: Zweite Antiläuse-Session

Liebe Familien,

wir haben beobachtet, dass die Läusefälle in der Schule zugenommen haben. Wir setzen auf unsere Alltagserfahrungen und darauf, dass wir von Ihnen wissen, dass es sehr produktiv war, den gemeinsamen Kampf zu fördern. Wir schaffen es gemeinsam, zumindest für eine Zeit, den Ansteckungsherd zurückzudrängen.

Nachdem ein paar Monate vergangen sind, ist es jetzt nötig, die Aktion zu wiederholen. Deshalb bitten wir Sie, an diesem Wochenende bei Ihren Kindern eine Antiläusebehandlung vorzunehmen, die dann – wieder einmal – einmal erfolgreich ist. Auf unsere Teamarbeit!

Herzlicher Gruß

(Übersetzung von mir)

Ich trete als Kolumnist dennoch nicht zurück. Ich bleibe im Amt.

Auf Spanisch klingt die Rundmail so:

Queridas Familias:

Hemos observado que se han incrementado los casos de pediculosis en el Colegio. Basados en nuestra experiencia cotidiana y en aquello que muchos de Uds. nos han transmitido evaluamos que fue muy productivo promover un combate en conjunto. Logramos entre todos, al menos por un tiempo, disminuir los focos de contagio.

Pasados unos meses se vuelve necesario repetir la acción. Los invitamos entonces a que este fin de semana del 8 y 9 de junio les realicen el tratamiento antipediculosis a sus hijos para que triunfe, una vez más, ¡nuestro trabajo en equipo!

Un afectuoso saludo

 

Kinderquatsch mit Messi, der Mama von Fran und Onkel Siggi

von CHRISTOPH WESEMANN

Das fast vierjährige Vorschulmädchen schaut mit mir im Sportkanal Barcelona gegen Paris St. Germain, das Viertelfinalrückspiel der Champions-League. Barca liegt 0:1 zurück und braucht ein Tor, um das Halbfinale zu erreichen. Lionel Messi, als erster Spieler viermal in Folge Weltfußballer, soll eingewechselt werden und beginnt sich warmzuwachen. Der Argentinier ist noch verletzt und darf eigentlich nicht spielen.

 

»Kennst du Messi?«, frage ich.

»Ja!«

»Magst du ihn?«

»Ja!«

»Ist der gut?«

»Hm, ich glaube nicht.«

Zehn Minuten später tritt Messi einmal an, trickst zwei Spieler aus und bereitet den Ausgleich vor. »Einbeiniger Allmächtiger« titelt die Süddeutsche Zeitung zwei Tage später und staunt: Messi habe, obwohl erkennbar geschwächt und kaum fähig zu laufen, die »psychologische Balance des Spiels schlagartig« verändert. »Er kippte sie.« Stürmer David Villa wird mit dem Satz zitiert: »Messi entscheidet ein Spiel mit seiner alleinigen Präsenz.«

◊◊◊◊◊

Wir sprechen über das Verhältnis zu ihrem siebenjährigen Bruder.

»Weißt du, Papa, er sagt zu mir immer blöde Kuh.«

»Echt?«

»Ja. Und das ist doch ein schlimmes Wort, ja?«

»Eigentlich sind das sogar zwei schlimme Wörter.«

»Manchmal nennt er mich auch dumme Kuh

»Echt?«

»Ja!«

»Und was sagst du dann?«

»¡Cállate!« – Cállate heißt: Halt’s Maul!

◊◊◊◊◊

Die Eineinhalbjährige wird im Kindergarten nur Colo gerufen, eine Kurzform des Adjektivs colorado/a, was bunt, obszön und pikant, aber auch rot bedeutet. Ich frage mich natürlich schon länger, warum sie als einzige in der Familie rote Haare hat. Angeblich kommen die von Onkel Siggi, wobei ich auf diversen Familienfeiern nie einen Onkel Siggi getroffen habe. Scheint ein sehr entfernter Verwandter zu sein.

Die Rothaarige könnte außerdem allmählich anfangen zu sprechen. Sie versteht sehr viel, beherrscht aber bislang nur vier Wörter: hola, mamá (wie im Spanischen endbetont), Kitty und no. Die Kommunikation mit ihr ist nicht immer ganz einfach, obwohl ich sogar bilingual unterwegs bin.

»Hunger?«

»No.«

»Willst du was trinken?«

»No.«

»Queres tomar algo?«

»No.«

»Gibst du mir einen Kuss?«

»No.«

»Un beso?«

»No.«

»Soll ich dich küssen?«

»No.«

»Hast du Papa lieb?«

»No.«

»He!«

»Mamá.«

»Hunger?«

»No.«

 

◊◊◊◊◊

Der Siebenjährige erzählt ein paar Tage lang immer wieder, dass sein Schulfreund Fran ihn zum Spielen eingeladen habe. Es gibt für solche Fälle ein Verfahren: Die Eltern sprechen eine Einladung aus, indem sie entweder anrufen, wenn sie die Telefonnummer haben, oder beim Klassenlehrer einen kurzen Brief abgeben, den der wiederum ins Mitteilungsheft des Eingeladenen legt. Frans Eltern melden sich jedoch nicht. Ich habe die Angelegenheit gerade vergessen, als ich in der Schultasche des Sohnes einen beschriebenen und zum Kuvert gefaltenen Zettel finde:

Hallo Mama von Fran darf ich irgendeinen Tag (unlesbares Wort) bei euch übernachten er kann dann am Sonnabend bei mir schlafen

(Übersetzung von mir)

Brief an Mutter Fran

Im Klassenraum findet er tags darauf zehn Pesos, und vielleicht um Spuren zu verwischen, investiert er sie sogleich am Schulkiosk in Kartoffelchips. Sein Klassenlehrer ertappt ihn und schreibt mal wieder ins Mitteilungsheft. Das Geld gehöre nämlich Alejandro, der es verloren habe und morgen bitte zurückbekomme. »¡Muchas Gracias! Saludos, Juan.«

◊◊◊◊◊

In den vergangenen Wochen hat mein Sohn seinen Schimpfwortschatz erheblich erweitert. Mittlerweile kennt er alle handelsüblichen Beleidigungen und Flüche Argentiniens, und zwar sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch.

Lieber Leser, alter Schwachkopf, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie stolz ich bin.

Mein Sohn und der Pferdekotismus

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn hat es nicht immer leicht in seiner argentinischen Schule. Wenn er die Wahrheit sagt und sich nicht aus Imagegründen zum Märtyrer stilisiert, dann ist er in seiner Klasse der einzige Fan des Fußballklubs Boca Juniors. Weil die Schule in einer vornehmeren Gegend von Buenos Aires liegt, ist sie Hoheitsgebiet von River Plate, dem Verein der Mittelschicht, dessen Fans sich auch »Millionäre« nennen und die Anhänger des großen Feindes »Bosteros« rufen. Die Bosteros haben früher im Stadtviertel La Boca die Straßen von der »bosta«, dem Pferdekot, befreit.

In der 1 c gibt es noch einen Jungen, der auch den Arbeiterklub Boca mag. Aber der zählt nicht so richtig, weil er auch Einwanderer ist, jedenfalls unterhält er sich mit meinem Sohn auf Russisch – auch über Boca, also vor allem über Boca.

Tja, und die Mädchen in seiner Klasse, die sind natürlich auch keine Hilfe. Die machen nur Hüpfgummi, sagt er.

Am Sonntagnachmittag ist Superclásico in Buenos Aires. River empfängt im »Monumental«, sieben Minuten entfernt von unserer Wohnung, die Boca Juniors. Wenn das Spiel nicht unentschieden endet, muss ich meinem Sohn für Montag eine Krankschreibung besorgen.

Das andere Problem hat mit dem Essen zu tun. Ich schmiere meinem Sohn jeden Morgen zwei Pausenbrote: die Butter schön dick, eine große Scheibe Salami, hin und wieder Käse, echt deutschtümelnd, aber eben auch nahrhaft. Dazu bekommt er einen Apfel (schon entkernt und geviertelt), und manchmal überrasche ich ihn auch.

»Die haben wieder alle mein Essen angeguckt«, hat er gestern gesagt.
»Dein Brot?«
»Nee, das kennen sie ja schon.«
»Was dann?«
»Den Joghurt.«
»Natur, mein Junge, bio, sehr gesund.«

Gelegentlich frage ich ihn, was die anderen Kinder zum Essen in die Schule mitbringen, also auch die Riverfans. Kekse, sagt er.

Ich bin unnachgiebig. Keine Kekse. Bisweilen diskutieren wir das Thema, bis Daniel Martín um kurz nach sieben mit dem Schulbus kommt. Dann verabschiede ich mich, kaufe mir am Kiosk eine Zeitung, fahre zu meinem Stammcafé und bestelle bei Sofia, der netten Kellnerin, mein Frühstück: vier Croissants mit süßer Butter und eine Cola.

»Also wie immer«, sagt Sofia.

Mein-Sohn-Kolumnen:

Mein Sohn und der Kussismus

Mein Sohn und der Datschaismus

Mein Sohn und der Willismus

Mein Sohn, der Gausbub

Mein Sohn und der Sandalismus

Mein Sohn und der Miauismus

Mein Sohn und der Kapitalismus

Mein Sohn und der Kussismus

von CHRISTOPH WESEMANN

Heute ist hier »Der Tag des Lehrers«. Und was wünscht der sich? Schulfrei. Kriegt er. Und eine Kolumne. Beim Schreiben wie damals getrödelt und zu spät fertig geworden »Der Tag des Lehrers« war am Dienstag.

Ich sollte die Klassenlehrerin meines Sohnes nicht »die Maus« nennen. Ich weiß das. Vor allem sollte ich sie nicht vor meinem Sohn »die Maus« nennen. Auch das weiß ich. Es rutscht mir aber hin und wieder raus. »Na, ist die Maus wieder gesund?«

In Berlin ist es einfacher gewesen. Die Klassenlehrerin hieß Frau Hartmann, war viel älter als ich, und einen Vornamen hatte sie nicht. Jetzt heißt die Klassenlehrerin Isabella, ist viel jünger als ich, und einen Nachnamen hat sie nicht.

Natürlich küsse ich sie auch.

Wenn mein Sohn von der Schule erzählt, erzählt er von Marce, Laura und Flo. Am Anfang habe ich das für Promiskuitätchen eines Sechsjährigen gehalten. Dann stellte sich heraus: Marce, Laura und Flo sind auch Lehrerinnen. Ich duze mich mit allen, und ich habe sie alle schon geküsst.

Der Kuss auf die Wange, un beso, ist der Handschlag der Argentinier. Geküsst wird, sobald ein Hauch Vertraulichkeit besteht – Frauen tun es mit Männern, Frauen tun es mit Frauen, Männer tun es mit Männern. Wenn die Fußballer der Boca Juniors gerade mit viel Aufwand und wenig Glanz ein Spiel gewonnen haben, beglückwünschen sie sich gegenseitig mit Schmatzer. Und im Supermarkt kann eine Riesenschlange sein – sobald ein Kollege vorbeihuscht, steht die Kassiererin auf, geht drei Schritte und holt sich ein Küsschen ab. Und kein Kunde kritisiert das.

Mein Sohn lernt schnell, er findet sich in Buenos Aires mittlerweile wunderbar zurecht, ich weiß nicht, woran er sich orientiert, aber er tut es. Für mich sieht die Hauptstadt überall gleich aus: viele enge und sehr lange Einbahnstraßen nacheinander, dann eine breite Avenida, wieder viele enge und lange Einbahnstraßen nacheinander, dann wieder eine breite Avenida. Ich verfahre mich sogar mit Navigationsgerät. Immerhin habe ich die Stimme, die mir alles vorsagt, nach drei Wochen am Steuer ein bisschen leiser gestellt.

Im Küssen aber bin ich meinem Sohn deutlich überlegen. In Berlin hatte ihn Frau Hartmann zum Abschied nicht mal umarmen dürfen, und Frau Hartmann war auch deshalb eine wunderbare Lehrerin, weil sie das verstand. Auch nach zwei Monaten in Buenos Aires leistet er noch Widerstand, wenn Isabella küssen will. Wäre er hier in den Kindergarten gegangen, wäre das wahrscheinlich anders. Dort wird der Widerstand gebrochen. Wenn ich meine Töchter abgebe, werden sie – wie alle Kinder – als »meine Liebe«, »oh Schönheit« oder »Wunderhübsche« begrüßt. Die Dreijährige ist längst Profi und tritt, weil sie weiß, was kommt, und es die Sache beschleunigt, der Erzieherin gleich mit nach oben gerecktem Mund entgegen. Dann holt sie sich ihren beso ab.

Mein Sohn findet sich wahrscheinlich auch deshalb besser zurecht in der Stadt, weil er ist, was ich als Kleinstadtjunge nie war: Schulbuskind. Um 7.15 Uhr klingelt es an der Tür, woraufhin ich zur Sprechanlage mit Videoübertragung taumele, die hier »portero electrico« heißt. (Der nichtelektrische Pförtner heißt Luis und schläft zu dieser Zeit natürlich noch.)

»Wir sind schon fast fertig, Daniel Martín«, rufe ich, lege auf und sehe, dass mein Sohn noch die Schlaf- statt der Schuluniform trägt. Eine Schuluniform ist eine tolle Sache, weil die Kleiderwahl am Morgen entfällt. Aber wenn sich der Trainingsanzug mit dem aufgestickten Schulemblem in der Wohnung versteckt, hätte man doch gern die Wahl, irgendein Kleidungsstück aus dem Schrank zu zerren. Und dienstags, mittwochs und donnerstags, wenn kein Sport auf dem Stundenplan steht, gehört zur Uniform noch eine Art Arztkittel, der »guardapolvo blanco« heißt, also »weißer Staubfänger«.

Dann steigt mein Sohn mit Freude in den orange-weißen Schulbus. Er ist immer das zweite Kind, das abgeholt wird. Die Fahrt zur Schule dauert 45 Minuten. Den Rückweg nachmittags schafft Daniel Martín manchmal in knapp unter einer Stunde.

Ich würde meinen Sohn öfter abholen, damit er früher zu Hause ist. Ich brauche aber schon zur Schule, obwohl ich keine zehn Kinder einladen muss, länger als Daniel Martín. Es gibt so viele Staus, das Dauergequatsche im Radio fördert auch nicht meine Konzentration, und wenn ich Schleichwege nehme, drehe ich kurz vor Montevideo, Uruguay, um und höre wieder auf die Stimme der Navigation.

Ganz am Anfang hatte ich ein anderes Bild von den schulbusfahrenden Porteños. Die ersten Tage habe ich meinen Sohn von der Schule abgeholt. Mit mir warteten ein paar Männer auf das Ende des Unterrichts. Und sie erzählten sich Witze, die eindeutig gegen das Reinheitsgebot verstießen. Welche bedauernswerten Kinder, dachte ich, haben solche Väter? Waren aber gar keine Väter. Waren die Busfahrer.

Mittlerweile weiß ich, dass sie zu den zuverlässigsten Kräften im Land gehören und die Eignungstests sehr streng sind. Um zu begreifen, was Männer wie Daniel Martín leisten, muss man nur einmal eine Stunde in einem argentinischen Café mit Spielecke verbracht haben. In Deutschland hinge an der Eingangstür das blaue Schild mit den weißen Ohrenschützern. Daniel Martín verteilt Bonbons, wenn’s ihm mit dem Durcheinandergequassel in seinem Bus zu bunt wird. Dann halten alle für eine Weile die Klappe. Ich wünschte, das ginge mit den Radioleuten auch.

Ich mag die Art der Porteños. Es geht lockerer und weniger förmlich zu als in Deutschland. Niemand siezt mich, und ich duze mittlerweile auch Polizisten, wenn ich irgendwo im Halteverbot stehe und verschwinden soll. Eigentlich sieze ich nur noch die Señoras, die mich manchmal nach dem Postamt fragen und die ich ein paar Tage später unterwegs nach Montevideo wiedersehe.

Ich mag es, dass sich die Leute Zeit für Zärtlichkeiten nehmen, obwohl doch so oft irgendwas drängt, ich sehe die Freude, mit der sie Kindern begegnen und ihnen an der Ampel über den Kopf streicheln. Sie geben ihnen das Gefühl, das Kostbarste auf der Welt zu sein.

Da ist die Oma, die meinen Sohn an die Hand nimmt und mit ihm in die Bäckerei geht, um drei »medialunas« zu kaufen, weil er Hunger hat und diese argentinischen Croissants natürlich längst liebt. Da ist der Kinderarzt Santiago, den mein Sohn Santi nennen darf. Er untersucht den Hustenden, er horcht und horcht und horcht, eine Ewigkeit lang. Und Santiago entdeckt, was deutsche Kinderärzte schon zweimal nicht entdeckt haben: eine Lungenentzündung.

Ich habe meinen Sohn an die heißen Nachmittage in der Berliner U-Bahn erinnert, als niemand aufstand, um einem erschöpften Erstklässler  einen Platz anzubieten. Hier wäre so etwas undenkbar.

In seinem Hausaufgabenheft stehen an jedem Freitag Sätze wie diese: »Du bist ein wundervoller Junge. Ich liebe dich. Bis Montag. Deine Isabella.« Frau Hartmann hat gestempelt, oft eine Sonne, manchmal eine Wolke, und am Montag schrieb sie ins Hausaufgabenheft: »Prima!« Meistens. Am Anfang. Zum Schluss selten.

Ich habe das »Prima!« die ersten zwei Monate auf meinen Sohn bezogen und ihn für ein Genie gehalten, dann aber gemerkt, dass ich gemeint bin: weil ich das Datum in seinem Hausaufgabenheft eingetragen hatte. Oder später eben auch nicht mehr. Wenn Frau Hartmann nicht »Prima!« schrieb, schrieb sie: »Datum!«

Isabella malt die Sonne selbst.

Die andere Seite der argentinischen Kinderliebe ist, dass Eltern einiges abverlangt wird. Ich kriege fast jeden Tag Hausaufgaben: Mal soll ich etwa basteln, dann ein Bild malen, mal auch nur ein Foto mitbringen. Neulich musste ich mir für das Kindergartengruppenbuch eine Geschichte ausdenken. Ich habe mich sehr angestrengt. Weil die Erzieherin sehr hübsch ist, sollte es eine gute Geschichte werden. Und weil die Erzieherin sehr hübsch ist, wurde es eine schlechte Geschichte. Die Erzieherin sieht das freundlicherweise bis heute anders.

All das habe ich meinem Sohn erzählt, um ihm zu erklären, dass es in seiner neuen Heimat anders zugeht.
»Jaja, weiß ich doch alles«, hat er gesagt. »Aber als du so alt warst wie ich, wolltest du von deiner Lehrerin geküsst werden?«
»Natürlich nicht.«
»Siehst du, Papa.«
Ich dachte an »die Maus« und schrie: »Aber meine Lehrerin sah auch anders aus.«

 

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)