Über den patagonischen Pilz einer Hure, der seit fast vier Monaten in meinem Ohr lebt
von CHRISTOPH WESEMANN
Rückblick. 24. Dezember 2014.
Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub. Wir wollen mit dem Auto von Buenos Aires bis nach Santiago de Chile fahren und wieder zurück. Wir sind seit einer Woche unterwegs und heute, am Heiligen Abend, in Villa El Chocón, einem Örtchen in der Erdöl- und Dinosaurierprovinz Neuquén, 1219 Kilometer entfernt von zu Hause.
Die Stimmung könnte schlechter kaum sein, und in offener, also nicht geheimer Abstimmung stellt die Familie mit deutlicher Mehrheit (4:1) fest: Das liegt am Vater. An mir?
Okay, meine Betriebstemperatur ist cholerisch, und die habe ich schon vor Tagen erreicht, im Grunde gleich in den ersten Minuten auf der Autobahn. Es gibt nämlich haufenweise Argentinier, die ein Leben lang Überholspur fahren und ein Leben lang auch nicht in den Rückspiegel gucken. Ich blinke, ich lichthupe, meine Finger und Hände weisen den Fahrer − este hijo de puta1, diesen Hurensohn also − sehr bestimmt auf sein falsches Verhalten im Straßenverkehr hin. Ich könnte rechts überholen, wie’s die anderen machen, die Spur ist ja komplett frei.
Aber das sehe ich gar nicht ein.
Vom Beifahrersitz: ein Schnaufen.
»Schatz, man kann sich nicht alles gefallen lassen.«
»Aber der weiß doch überhaupt nicht, was du von ihm willst, du mit deinem Rechts-fahr-gebot.«
Außerdem tut seit Tagen mein linkes Ohr weh. Tropfen. Alkoholtupfer. Bier. Viel Bier. Nichts hilft. Also schauen wir im Dorfkrankenhaus von Villa El Chocón vorbei. In der Ambulanz wird heute tatsächlich gearbeitet, es streunt jedenfalls ein Pfleger herum. Der guckt ins Ohr und diagnostiziert: einen Pilz. Mit dem rechten Ohr, dem gesunden, höre ich den anerkennenden Jubel der im Untersuchungszimmer versammelten Familie. Man ist ausnahmsweise stolz auf das Familienoberhaupt. Tenor: Andere haben sowas am Fuß – unser Alter hat’s im Ohr.
»Muss ich sterben?«
Der Pfleger schaut meine Frau an, grinst und sagt, und zwar zu ihr: »Damit kann ich dir leider nicht dienen.«
»Und wenn er ein paar Tage auf Station bleibt, zur Beobachtung und so?«
»Ich verstehe. Aber, nein, tut mir leid.«
Die beiden sind kurz zuvor, sich abzuklatschen. Ich räuspere mich. Wollten wir nicht heute noch Dinosaurierknochen ausgraben mit den Kindern?
Der Pfleger ruft den Arzt an, um zu fragen, was zu tun sei, kommt wieder und bereitet eine Spritze vor.
»In den Arsch?«, frage ich.
»Da wirkt es nicht so schnell.«
Der Pfleger bindet den Oberarm mit einem Gummihandschuh ab und spritzt etwas Schmerzlinderndes. Der Wattetupfer, den er gleich auf die Einstichstelle kleben wird, klebt schon an seinem Kittel. Der Achteinhalbjährige schaut vorbei und fragt: »Warum nicht in den Arsch?«
Eine halbe Stunde später beginnt sich der Schmerz zurückzuziehen.
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15. April 2015.
Ich warte im Hospital Alemán, dem deutschen Krankenhaus in Buenos Aires, wo allerdings spanisch gesprochen wird, dass die Nummer 108 aufleuchtet. Noch steht auf der Anzeigetafel die 107. Ich wollte schon vor Tagen hier sein, weil das linke Ohr entweder schmerzt oder leicht taub ist. Aufgehalten hat mich das Wort otorrinolaringólogo (Hals-Nasen-Ohren-Arzt), das ich bei der Anmeldung ja vorbringen müsste. Dachte ich.
Es reichte dann aber der Versuch, es auszusprechen.
108! Zimmer 32. ¡Vamos!
Dr. Curi lässt sich kurz erklären, was mit mir los sei, und scheint zu verstehen. »Komm mit!«, sagt er. Er geht ins Nebenzimmer, legt mich dort − weil ich es selbst mangels Intelligenz nicht hinbekommen habe − »mit dem Kopf nach oben« auf die Pritsche und schaut zunächst ins gesunde rechte Ohr, dann ins kranke linke. Dann saugt er mit einem Schlauch sehr gründlich herum. Es knirscht.
»Un hongo«, sagt er schließlich.
Ein Pilz. Aha.
Mein Pilz.
Aus Patagonien.
Der hat also überlebt.
Dr. Curi verschreibt mir Dermizol Trio (»du nimmst drei Tropfen alle zwölf Stunden«) und entlässt mich mit Handschlag. In drei, vier Tagen erwartet er mich zur Nachkontrolle.
Wir kriegen Dich, diesmal kriegen wir Dich, hongo de puta!
- sehr häufiger Fluch in Argentinien [↩]