Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Argentiniens Hauptstadt, gestern Abend: WM-Halbfinale. Ein Deutscher und seine Mannschaft. Viele Brasilianer und ihre Mannschaft. 

1.-16. Minute

Krawallende Glotze, kreischende Kinder, klingende Gläser, coole Caipis, Samba im Hintergrund. Alberne Schminke. Fingerfood ganz ok, Bier kalt und nicht von Quilmes. Schönes Spiel.

Die Brasilianer, als ob sie aus den Deutschen gleich einen Oliver-Kahn-Gedächtnisauflauf machen wollten: Luiz guckt, Hulk kratzt, Marcelo spuckt. Ich: nervös. CW, zu Hause: malt entspannt weiß-himmelblaue Papierstreifen. Und twittert.

11. Minute

Gol! GooooooooooooooooooooooooooooooolTomáßmuller.

17. Minute

A. (Name von der Redaktion geändert), der Brasilianer aus São Paulo, kommt rein, seinen fiebernden Dreijährigen auf dem Arm, seine unlustige Fünfjährige an der Hand und seine reizende Gattin an der Seite.

A. schaut auf den Fernseher. Ob das ein Scherz sei? BRA-GER 0:1? Ne Montage, oder sowas?

23. Minute

A. hat seine Plagen zu den anderen ins Kinderzimmer geschickt und will sich gerade mit seinem Bier setzen – da kommt Opa Klose. Null-zwo. A. lacht. Sein Sohn will noch eine von diesen Deutschlandfahnen haben, die einer zur Party mitgebracht hat.

24. Minute

Kroos. Das Dritte. Einfach so. Meine Frau heult. Wie Julio César und David Luiz. Im Gegensatz zu denen aber vor Rührung. Dass sie das noch erleben darf, sagt sie. (Im Viertelfinale ist sie noch Shoppen gewesen. Mit der Gattin von Hausherr CW!)

26. Minute

Kroos. Nochmal. Keine Wiederholung! Haha!

29. Minute

0:5. Ich finde, wir sollten jetzt gehen. Immerhin sind auch hier die Gastgeber Brasilianer.

Touristenführer Jogi Löw

Aber Merte hatte unrecht: Unter den letzten 16 war doch eine Karnevalsmannschaft.

Interessant: Einer, den ich nicht kenne, aber für einen Argentinier halte, stülpt die Nase über den linken Mittelfinger, hält sich den Zeigefinger an die Schläfe, legt die Stirn in Falten – und schweigt. Sehr ungewöhnlich für einen Argentinier. Klarer Fall: Die haben Angst! Jetzt schon! Ach, der Mann ist Bolivianer?! Ok, ok, ok: »Kannst du dich an Deutschland-Bolivien erinnern, WM 1994? Das 1:0?« Kann er. Will er nicht drüber reden. Fast ein Argentinier, irgendwie.

Halbzeit

Wir machen Späße. Mit den Brasilianern. Zum Aufheitern. So: »Hey, in der zweiten Halbzeit stellt sich Neuer in euer Tor. Zum Spaß. Haha!« Finden die nicht witzig.

Unser Gastgeber. Steht in der Küche. Im Glas: Cola. In der Hand: Veganerschnitte. Im Auge: eine Träne. Wir versuchen, zu trösten. Seelische Betreuung. Notfallseelsorge. Betreutes Fernsehen, sozusagen.

Zweite Halbzeit

Huy, die drücken. Ich twittere an CW: »Brasilien dreht das noch.« A., der Brasilianer, mantrat auf dem Teppich: »CincoGolesCincoGolesCincoGoles.«

69. Minute

Lahm. Und Schürrle. »Macht das halbe Dutzend voll«, würde Rubi wortmetzen. A. sitzt im Halbdunkel hinter dem Sofa und singt seinem Sohn melancholische Volkslieder aus Brasilien vor. Das Kind schwenkt die D-Fahne und grinst verzückt.

Ich lege mich fest: Brasilien dreht das Spiel nicht mehr.

70. Minute

Ich habe es geschafft. Ich habe den jüngeren Brasilianern von Zico, Sócrates und Pelé (kommt schon: Den kennt sogar ihr!) erzählt – jetzt sind sie wieder glücklich und lachen. Ach nee, es ist nur, weil Fred, der brasilianische Fußballer mit den sieben linken Füßen, endlich ausgewechselt wird.

79. Minute

Schürrle. Der alte Bruchwegboy! 0:7. Und A., der Brasilianer, so: »Deutscher Fußball ist geil.« Schon, A.! Eine deutsche Zuschauerin fragt: »Kommen wir jetzt ins Endfinale?«

90. Minute

Ja. Kommen wir.

Abpfiff

Beim Rausgehen treffe ich einen argentinischen Freund.

Bild 3 Brasilien

Ich frage: »Was steht an?« – Er: »Wir spielen gegen Holland.« – Ich: »So ein Zufall: Wir am Sonntag auch!«

*****

Weitere Text von Marc Koch