Montevideo/Uruguay ♦ Donnerstagmorgen. Zeitungslektüre. Der Außenminister der sozialistischen Regierung verlangt von Venezuelas ebenfalls sozialistischem Präsidenten Nicolás Maduro, dass er die Schulden für die gelieferten Lebensmittel endlich bezahlt, es geht um 75 Millionen Dollar. Man fühle sich in seiner »Gutmütigkeit ausgenutzt«. Zudem haben heute 222 935 Oberstufenuruguayer keinen Unterricht, weil ihre Lehrer streiken. Einer von ihnen hatte eine Rauferei unter Schülern schlichten wollen und war dabei beleidigt und geschubst worden. Der Außenminister knöpft sich gleich noch die Pisa-Studie vor, deren Untersuchungsmethode er anzweifelt.

Ist es denn so wichtig, dass die Kinder mit dem Bleistift rechnen können, wenn sie doch Taschenrechner haben? Macht einer von Ihnen eine Division mit dem Bleistift?

Das hat er, berichtet El País, am Vortag auf einem Forum gefragt und seinen Zuhörern eine knifflige Aufgabe gestellt: »542 geteilt durch 24.«

Ist ganz schön was los in meiner neuen Heimat, nicht wahr? Ich glaube, ich lege mich noch ein bisschen … oh Wahnsinn: Am Abend empfängt Uruguays Großklub Nacional in der Copa Libertadores Palmeiras. Das Hinspiel in São Paulo war der Hammer.

Auf zu Redpagos. Wo der Uruguayer seine Strom-, Gas-, Telefon- und Sonstwas-Rechnungen bezahlt, die ihm der Postbote vorbeibringt. Redpagos verkauft auch Eintrittskarten für Konzerte und Fußballspiele.

Heute aber nicht. Darum.

Dann eben direkt zur Quelle. Der Kioskbesitzer nennt mir die Buslinie (329) und malt auf die Rückseite eines Kassenbons eine Wegbeschreibung von der Haltestelle zur Geschäftsstelle des Club Nacional de Football. »Hier vorne an der Ecke steigst du ein. 3-2-9.«

weg

Gerade fällt mir ein, ich soll ja am Abend zur Elternversammlung der fast Siebenjährigen. Keine Ahnung, was es drei Wochen nach Schulanfang schon so Wichtiges zu besprechen gibt. Die Lehrerin wird sich kurz fassen, denke ich. Ich kenne sie zwar bloß vom Hola-Winken am ersten Tag und weiß nicht einmal, wie sie heißt, was freilich auch zu viel verlangt wäre, ich habe schließlich drei Kinder. Ich dachte neulich, ich hätte mit ihr telefoniert, wegen irgendeiner Sache, die ich ebenfalls schon wieder vergessen habe. Aber das war die Klassenlehrerin des Zehnjährigen. Der Zehnjährige hat’s mir später bestätigt. Bislang jedenfalls hat sie uns in Ruhe gelassen, und das ist für mich die Kernkompetenz eines Pädagogen.

Die Eltern in Montevideo aber wirken irgendwie übermotiviert.

»Señor, buen día, qué tal, ich will ’ne Karte, bin ich hier richtig?« Der Dicke, der die Eingangstür des Vereinsheims von Nacional bewacht, schüttelt den Kopf und sagt, ihm lägen »keinerlei Informationen vor über die Modalitäten des Eintrittskartenverkaufs am heutigen Tage«. Alter, förmlich kann ich auch: »Hä?«

Ich soll es mal am Ticketschalter versuchen, er beschreibt den Weg und flüstert mir hinterher: »Wenn du keine Karte mehr bekommst, sprich mich nachher noch mal an. Vielleicht kann ich eine besorgen.«

Parque Central, Montevideo

> Parque Central, das Stadion des Club Nacional de Football

In der Schlange handeln sie eifrig mit Gerüchten.

»Alles ausverkauft, habe ich gehört.«

»Nein, gestern Abend haben sie gesagt, heute würden um 10 Uhr noch Karten verkauft.«

»Es ist zehn nach zehn, du Depp, und keine Sau sitzt am Schalter.«

»Mir wurde gesagt, es sollte noch welche bei Redpagos geben.«

»Redpagos ist der letzte Scheiß, amigo.« Die Schlange gibt mir in diesem Punkt absolut recht.

Die Frau vor mir, Nummer 34, Mate in der Hand, Thermosflasche unterm Arm, schwört, sie werde sterben, sollte sie es nicht ins Stadion schaffen. Und ich erst, señora! Plötzlich schreit der Bursche hinter mir in sein Telefon, er hat offenbar jemanden vom Verein dran: »Gestern Abend haben sie uns gesagt, dass heute … « Sekunden später legt er auf.

Feierabend. Keine Karten mehr.

Der Dicke von der Geschäftsstellenpendeltür erkennt mich wieder und speichert meine Nummer in seinem Telefon. Er werde einen Freund fragen, ob der eine Karte verkaufen wolle, angeblich sogar ohne Aufpreis. »Wenn dich keiner anruft, klappt es nicht.«

»Wann kann ich denn mit einem Anruf rechnen?«

»So um sieben, halb acht.«

»Mitten im Elternabend.«

»Was?«

»Perfekt. Anstoß ist um Viertel vor zehn?«

»Genau.«

»Gracias, querido.«

Also, das wird ganz sicher nix. Der Typ wirkt viel zu wenig verschlagen.

Ich will jetzt aber unbedingt zu diesem Scheißspiel. Von dem ich heute Morgen noch gar nichts wusste.

Meine letzte Hoffnung heißt Jorge. Jorge ist Vereinsmitglied von Nacional, und ich habe ihn schon mal begrillt, wir sind also Freunde. Eine warme südamerikanische Nacht. Vollmond. Zwei Kerle allein auf der Terrasse. Vor einem Haufen Fleisch. Von unten der hochblubbernde Verkehr. Gegenüber die eine Latina, die ganz zufällig vergessen hat, die Vorhänge zuzuziehen. Jorge verspricht, er werde sich umhören, und schickt fünf Minuten später eine Nachricht:

Mein Bruder hat seinen Stammplatz leider schon abgetreten. Aber der Onkel seiner Freundin hat eine Loge. Wenn er es schafft, mit ihm zu sprechen, sagt er mir Bescheid.

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Da war ja selbst die Kartenbeschaffung in Argentinien für Spiele der Boca Juniors weniger umständlich. Der Onkel der Freundin des Bruders meines Freundes, den ich seit sechs Wochen kenne – über mehr Ecken geht ja kaum.

Respekt, Uruguay. Ich denke, wir werden miteinander klarkommen.