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Argentinien vor der Stichwahl (2): Mit Chewbacca, Bambi und der Mutter von McFly gegen die Angst

von CHRISTOPH WESEMANN

Doch, doch, witzig ist er, der Wahlkampf um die Präsidentschaft. Argentinier haben ja einen speziellen, sehr flinken und oft abgründigen Humor, der ihnen hilft, all den Irrsinn, der sie umgibt und zu dem sie natürlich selbst viel beitragen, erträglicher zu machen. Aber alles, was war, ist nichts gegen das, was nun kommt.

Vor Argentinien liegen nämlich – von heute an gezählt – noch 36 unbeschwerte Tage. Am 22. November wird ein neuer Präsident gewählt, und wenn der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri den linkspopulistischen Regierungskandidaten Daniel Scioli besiegt, beginnt mit seinem Amtsantritt am 10. Dezember unverzüglich der Untergang des Landes. Sagt die Regierung. Dann kürzt der neue Präsident das Kindergeld und streicht die staatlichen Hilfen für Arme, er nimmt den Leuten auch Fútbol para Todos (Fußball für Alle) weg, die kostenlose Live-Übertragung der Ligaspiele, und sieht gleichgültig zu, wie die Arbeitslosigkeit steigt, die Löhne sinken und der Peso an Wert verliert. Es gefällt ihm sogar.

Vor allem aber privatisiert Macri alles. Wirklich alles.

Macri grupo

> Scherz auf Whatsapp: Macri ist der Gruppe beigetreten. – Macri hat die Gruppe privatisiert.

Und nicht einmal dabei belässt er es. Wenn Macri gewinnt,

  • heiratet die Mutter von McFly Biff;
  • wird der Toast auf die Seite mit der Marmelade fallen;
  • fängt Wile E. Coyote Road Runner;
  • machen sie aus Bambi Pastete;
  • trinkt das Baby nicht mehr aus deiner Brust;
  • verlangt Chewbacca von dir, dass du ihn kämmst;
  • wird dir dein Hund nicht mehr das Stöckchen holen;
  • enthält das Überraschungsei keine Überraschung mehr;
  • lässt dich Rexona im Stich.
Bu

> Wenn Macri gewinnt, verlangt Chewbacca von dir, dass du ihn kämmst. Foto: Campaña Bu/Facebook

Es ist genial, wie die Facebook-Gruppe Campaña Bu (Motto: »Mit Angst wählst du besser«) vermeintlich die Wahl der Regierung empfiehlt, um genau das nicht zu erreichen. Auf einer anderen Seite im Netz werden falsche Nachrichten verbreitet, die behaupten, Macri sei verantwortlich für das Verschwinden der Dinosaurier, er plane, den Buchstaben K (für kirchnerismo) aus dem Wörterbuch zu entfernen, werde die Siesta verbieten und stehe unter dem Verdacht, Schneewittchen vergiftet zu haben.

Witzig also ist der Wahlkampf. Aber das kann er nur sein, weil er zugleich schmutzig ist. Das eine bedingt das andere, der Witz ist die Antwort auf den Schmutz. Die Regierung von Cristina Kirchner versucht gerade, und zwar ganz ernsthaft, den Oppositionskandidaten in einen Alleskaputtmacher zu verwandeln. Von Stärke zeugt das nicht, im Gegenteil: Wer Angst schürt, fürchtet sich bekanntlich selbst, Machtwechsel bedeutet eben auch Machtverlust. Eine Regierung, der nach zwölf Jahren Herrschaft als Werbung für sich selbst nichts Besseres einfällt als das Warnen vor der Zeit ohne sie, misstraut ihrer Bilanz. Auch Meinungsforscher und Politikwissenschaftler glauben übrigens, dass die Angstkampagne zum Bumerang werden könnte.

Doch die Angst ist so etwas wie die letzte Patrone, die der Kirchnerismus noch hat vor der gefürchteten Stichwahl. Denn ein Zusammengehen mit den peronistischen Rebellen um Sergio Massa wird es wohl nicht geben. Massa, mit 21 Prozent der Drittplatzierte des ersten Wahlgangs vom 25. Oktober, hat sich festgelegt: Für den Regierungsmann Scioli wird er nicht stimmen. Das bedeutet im Umkehrschluss, wenngleich er es nicht ausdrücklich sagt, dass er Macri will. Wie viele seiner mehr als fünf Millionen Wähler ihm folgen, lässt sich schwer sagen. Klar ist aber, dass diese Masse auf Präsidentensuche die Wahl entscheidet.

Verglichen mit den cleveren Gegenkampagnen im Netz, die das Angstmachen übertreiben und die Angstmacher lächerlich machen, wirkt das, was der Kirchnerismus den Wählern auftischt, plump und einfallslos. Mit Macri, das ist die Kernbotschaft, kehrt der Neoliberalismus der neunziger Jahre zurück, die berühmte Epoche von Pizza y Champagne, als es scheinbar Geld im Überfluss gab, weil Präsident Carlos Menem Staatsbetrieb um Staatsbetrieb verscherbelte. Das Ende ist bekannt: erst Urlaube in Miami und ein Leben in Saus und Braus für die Mittelschicht, dann 2001 Staatspleite, Chaos, Straßenschlachten, Tote, Elend. Man hat es nicht vergessen – und auch nicht, dass es die Kirchners waren, unter denen es seit 2003 wieder eine ganze Weile bergauf gegangen ist. Deshalb wird Macri den Argentiniern als neuer Menem verkauft, als Schreckgespenst und Mann von gestern. Das Volk soll bitte glauben, dass seine Ideen das Land zurück in diese Vergangenheit führten.

Diese Argumentation hat freilich drei – mindestens drei – Schwächen: Erstens hat nicht Macri in den neunziger Jahren an der Seite Menems gestanden, sondern sein aktueller Gegner Daniel Scioli, der damals von eben diesem Präsidenten in die Politik geholt wurde und ihn bald darauf als Abgeordneter »mit Krallen und Zähnen« verteidigte, genau wie Cristina Kirchner übrigens; zweitens hat sich Menem selbst gewandelt, heute ist er: Kirchnerist; und drittens ist Macri erst seit 2003 politisch aktiv.

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

> Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

Oder auch das: Macri bringe die Armut zurück nach Argentinien, behauptet die Regierung, die sich seit zwei Jahren nicht mehr traut, sie zu messen, wohl aus gutem Grund. Unabhängige Studien gehen davon aus, dass die Armut wieder wächst, sie soll sogar das Niveau der neunziger Jahre erreicht haben – trotz all der Sozialprogramme, die der Kirchnerismus aufgelegt hat, trotz des Kindergeldes, das ständig erhöht werden muss, damit es von der Inflation nicht aufgefressen wird. Und der Peso, der mit Macri angeblich an Wert verlieren würde, verliert ja schon Monat für Monat an Wert. »Die Frage ist, warum die Armen nach so vielen Jahren mit günstigen internationalen Rahmenbedingungen für Argentinien so viel Angst haben sollen, noch ärmer zu werden«, meint der Rechtsprofessor Ezequiel Spector. »In wirklich prosperierenden Ländern sind Regierungswechsel nicht traumatisch. Man feiert die Demokratie und die Alternative.«

Gewiss, man weiß nicht, was mit Macri kommt, er selbst hat über seine Pläne bislang auch wenig verraten; seine Versprechen sind eher vage: Wandel, Arbeitsplätze und Investitionen aus dem Ausland. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass es den Argentiniern – oder zumindest dem Großteil – besser gehen wird als jetzt, wenn er regiert. Nur: Schlau wird man ja aus sowieso immer erst aus der Regierung und nie aus den Kandidaten.

Ein kultureller Wandel ist jedoch wahrscheinlich. Fútbol para Todos wird Macri wohl nicht antasten − er bestätigte damit ja alle Vorurteile, er mache Politik für die Reichen. Versprochen hat er aber, die kostenlosen Live-Spiele nicht als Dauerwerbesendung für die Regierung zu nutzen, wie es der Kirchnerismus seit Jahren tut. Auch die Fernsehansprachen mit Überlänge − vor einer Woche redete die Präsidentin 168 Minuten − sollen ein Ende haben.

Sein Kontrahent Scioli repräsentiert dagegen − kulturell betrachtet − eher schlechte argentinische Angewohnheiten. Die Präsidentschaftsdebatte Anfang Oktober, die erste in der Geschichte des Landes, hat er als einziger der sechs Kandidaten geschwänzt. Dies zeige, so schreibt Pablo Sirvén in der Zeitung La Nación, »dass er nicht toleriert, oder es ihm Angst macht, dass andere anderer Meinung sind als er«. Obendrein, so Sirvén, »verwechselt er den Staat mit sich selbst«. Gemeint ist: Der Gouverneur begreift sich als Eigentümer der Provinz Buenos Aires, die er seit acht Jahren regiert. Und schließlich könne man bei Scioli noch »ein anderes Kennzeichen peronistischer Anführer ausmachen: die Vetternwirtschaft«. Tatsächlich ist die Politik am Río de la Plata voller Ehefrauen und Ehemänner, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Schwager und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen, die nicht nur Beiwerk sind, sondern selbst nach Ämtern streben, als wären’s Erbgüter.

Sciolis Frau, das Ex-Model Karina Rabolini, führt als Präsidentin die Bank-Stiftung der von ihrem Mann regierten Provinz. Sein Bruder José, genannt Pepe, spielt als Wahlkampfstratege eine wichtige Rolle. Lorena, die Tochter, die der einstige Motorbootrennfahrer erst nach 15 Jahren anerkannt hat, zieht als »Fahnenträgerin« von Desarrollo Argentino, der Denk- und Spendensammelfabrik ihres Vaters, durchs Land. Man sollte eher nicht erwarten, dass Daniel Scioli nach dem Einzug in den Präsidentenpalast diesen Familienbetrieb auflöst.

Eine Angst-Kampagne gegen Macri hat er in dieser Woche bestritten. Sie war vielleicht nicht seine Idee, Scioli ist eher kein Raufbold, er hat den politischen Nahkampf immer gescheut. Mindestens jedoch fehlt ihm die Autorität, einzuschreiten und einen anderen Weg vorzugeben. Nicht einmal jetzt, so kurz vor der Stichwahl, ist er die starke Figur des Kirchnerismus. Die sitzt − noch − im Präsidentenpalast.

Kirchner in der Casa Rosada

> Cristina Kirchner bei ihrer 168 Minuten lange Rede im Präsidentenpalast                         Foto: Casa Rosada

In ihrer langen Rede am vergangenen Donnerstag erwähnte die Amtsinhaberin Scioli mit keinem Wort − dafür dessen Rivalen: Macri »denkt, dass Homosexualität eine Krankheit sei«, sagte Kirchner. Am Sonntagabend, als Argentinien vor dem Fernseher saß, um zu schauen, wie Boca seine 25. Meisterschaft holt, wurde in der Spielpause von Fútbol para Todos ein Spot ausgestrahlt. »Macris Wirtschaftsplan ist der gleiche wie der der Militärdiktatur«, verkündete eine Stimme.

Alles sauber? Kein Schmutz?

Am Abend zuvor, bei einer anderen Partie, hatte einer der ultrakirchneristischen Kommentatoren in der Halbzeit gesagt: »Alle Tore gehören weiter allen … weil du sie nicht den Propheten des Hasses zurückgeben wirst, nicht?« Der Satz, eine Blutgrätsche mit Anlauf, legte nahe, dass unter dem Präsidenten Macri der Fußball wieder – wie vor 2009 – im Bezahlfernsehen ausgestrahlt werde.

Am Dienstag twitterte der Gesundheitsminister, von dem man gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt, die zwölf neuen Krebstherapiezentren »bleiben bestehen, wenn Scioli Präsident ist. Überleg dir deine Wahl gut«. Bald darauf löschte er den Tweet und klagte, sein Account sei gehackt worden.

Alles friedlich? Keine Angst?

Macri erzählte im Radio übrigens: »Meine Tochter Antonia hat mich gefragt, ob es wahr sei, dass die Überraschungseier keine Überraschung mehr haben werden, und ich musste ihr sagen, dass es nicht stimmt und sie sich keine Sorgen machen soll.«

Auch das war, natürlich, nur ein Witz.

♦♦♦♦♦

Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

La comedia del zombi y el cervecero

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentina, Capital Federal, son las 17 de la tarde. Una familia típica alemana. Padre y tres hijos menores de edad. La mamá está de viaje. Es el tercer día de su ausencia. Los dos hijos mayores acaban de volver de su colegio.

PADRE. Gracias. ¡Hasta mañana!

CHOFER DE LA COMBI. ¡Hasta mañana! (se va)

PADRE. ¿Cómo les fue en el colegio, muchachos?

HIJA. Bien.

HIJO. Bien.

PADRE. Bien.

HIJO. Mañana me pongo una camiseta del fútbol.

Quilmes

PADRE. ¿La blanquita de Quilmes? ¿La camiseta más hermosa del mundo? ¡Qué grande! Sabés que, somos el equipo del momento en Argentina. ¡Cinco victorias consecutivas! Cinco. No lo puedo creer. Ningún DT nuevo de Quilmes logró ganar sus cinco partidos primeros. Facundo Sava es un genio de puta madre. Yo lo banco mucho. ¡Ojo! Ahora faltan nuevo partidos, todo es posible. O mejor dicho: casi todo. A San Lorenzo y Boca no vamos a alcanzar pero

HIJO. … Papá …

PADRE. … las gallinas de mierda están a nuevo puntos. Si terminamos el torneo quinto me vuelvo loco, ¡carajo! Hay que esperar. Y yo tengo mucha fe. Escúchame, el sábado …

HIJO. … Papá …

PADRE. … le vamos a romper el culo a los putos de Temperley. Y nosotros estaremos en la cancha, alentando a nuestro querido cervecero, eh.

quilmes 2

Quilmes 3

HIJO. ¡Papaaaaaaa!

PADRE. ¿Qué? ¡Hablá!

HIJO. Me voy a poner la camiseta del Bayern Múnich mañana.

PADRE. ¡Olvidalo! Vos vas a vestir tu uniforme, como corresponde.

HIJO. ¡Pero puedo! En mi clase de castellano estamos hablando del futuro. Del mundo en 20 años. Quiénes vamos a ser. Que harémos. Esas cosas. Y por eso mañana nos debemos parecer a la persona que queremos ser más adelante.

PADRE. Y vos en 2035 serás …

HIJO. … futbolista.

PADRE. En el Bayern.

HIJO. Sí. Delantero.

PADRE. (murmura) Yo fracasé en la educación. Es evidente que fracasé totalmente.

HIJO. ¿O podría ir mañana al colegio también como zombi?

PADRE. Mejor. Mucho mejor.

HIJO. Pero me tendrías que ayudar con el disfraz y el maquillaje.

PADRE. Flaco, ¿me estás jodiendo o tengo cara de maestra jardinera? Estoy solo, con vos y tus dos hermanitas locas, Mamá está de viaje, ¿no recordas o te mando un fax?

HIJO. Sí.

PADRE. Entonces, ponete la camiseta. ¡Basta!

HIJA. (entusiasmada) Papi, cuando yo será grande voy a jugar en Quilmes, de verdad. Pero quiero ser arquera.

PADRE. (en voz baja) Lo que faltaba.

HIJA. ¿Qué?

PADRE. Gracias, mi amor, eso es un consuelo enorme. Me haces muy feliz.

El padre se pone a llorar.

-FIN-

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Otros textos en castellano

Don Julio, Coqui und die singenden Schränke: Wie in Argentinien mit Fußball Politik gemacht wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Stellen wir uns vor, dass neulich, als Bundestrainer Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader bekanntgab, Kanzleramtsminister Peter Altmaier dabeigesessen hätte, der Mann, der die Regierungsgeschäfte koordiniert. Stellen wir uns außerdem vor, dass vorher beim Deutschen Fußballbund ein Anruf aus dem Kanzleramt eingegangen wäre mit der dringenden Bitte an Löw, seinen Auftritt um ein paar Stunden zu verschieben – Herr Altmaier könne erst am späten Nachmittag beisitzen. Am Abend sprach dann zunächst Altmaier, er grüßte von Angela Merkel und blickte dabei unter anderem auf Sigmar Gabriel. Der Wirtschaftsminister war nämlich auch da. Und eine ganze Schar weiterer Prominenz aus dem Regierungslager.

Absurd?

Genau so war es in Argentinien. Am frühen Abend des 13. Mai, als Trainer Alejandro Sabella seine 30 Spieler benannte, saß neben ihm Jorge Capitanich, der Kabinettschef der Präsidentin, Spitzname: Coqui. Fast wäre er wegen anderer Termine nicht gekommen. Aber glücklicherweise hatte jemand aus dem Regierungspalast beim Fußballverband angerufen und gebeten, die Veranstaltung zu verschieben. Auch andere Minister und hochrangige Funktionäre hatten nichts Besseres zu tun, als dem Trainer der Nationalmannschaft Gesellschaft zu leisten. Der öffentliche Sender Canal 7 übertrug. Die privaten Sportkanäle wollten auch und durften nicht.

Kabinettschef Jorge Capitanich (l.), Nationaltrainer Alejandro Sabella (M.) und Verbandspräsident Julio Grondona                              Foto: Casa Rosada

»Während der WM wird in Argentinien nicht über andere Dinge geredet werden. Das beweist die Fußballleidenschaft des argentinischen Volkes«, sagte Capitanich und lachte. Er überbrachte »herzliche Grüße« der Präsidentin Cristina Kirchner und lobte die Politik der Regierung. »Es gibt 13 000 Dorfschulen mit Fernsehanschluss, um die WM zu gucken. Es wird möglich sein, die 64 Partien an öffentlichen und halböffentlichen Plätzen über Antenne zu schauen.«

Dann erst durfte Sabella den vorläufigen Kader verkünden.

 

Nun spielt die Politik auch anderswo gern mit dem Fußball (und dem Sport insgesamt). Fußball ist fast überall auf der Welt ein Massenauflauf, zumal in Deutschland, er ist vielleicht das letzte Lagerfeuer, um das sich das Fernsehvolk noch versammelt. Und wo es kuschelig und gemütlich ist, sind immer auch Politiker.

Die Regierung von Cristina Kirchner aber hat sich in den argentinischen Fußball eingekauft. Um die 500 Millionen Euro soll das Regierungsprogramm Fútbol para Todos (Fußball für Alle) seit seiner Einführung 2009 gekostet haben. Dafür werden alle Spiele der ersten Liga (und wichtige der zweiten) von freitag- bis montagabends live im staatlichen Fernsehen gezeigt. Vorher waren die Partien nur gegen Geld zu sehen – fútbol para pocos, Fußball für wenige, wie einer der kirchnertreuen Spielkommentatoren  sagt.

Dafür aber wird nun bis in die Anstoßzeiten hineinregiert. Das jeweilige Spitzenspiel am Sonntagabend beginnt mittlerweile nicht mehr um halb neun, sondern erst eine Stunde später – und endet damit kurz Mitternacht. Verfügt wurde das, um die Einschaltquoten von Periodismo para Todos (Journalismus für Alle) zu drücken. Die beliebte Sendung deckt politische Skandale im Kirchnerland auf, nimmt die Erfolgsmeldungen der Regierung auseinander – und schlägt oft obendrein noch in der Zuschauergunst die Großklubs Boca oder River, die gerade auf einem anderen Kanal zu sehen sind.

Der Superclásico 2014 zwischen den Boca Juniors und River Plate in der Bombonera

Vielleicht sind die wahren Ausgaben für den kostenlosen Blick auf den Kick auch noch höher, denn die Regierung verschleiert gern und packt dann ein paar Millionen in den Nachtragshaushalt. In diesem Jahr soll Fútbol para Todos pro Tag – wohlgemerkt: nicht pro Spieltag – 450 000 Euro verschlingen. Eine ordentliche Summe ist das für ein Land, das in weiten Teilen noch immer bettelarm ist.

Die Einnahmen, wenn der Ball im Fernsehen rollt, sind indes gering. Es gibt zwar einen TV-Hauptsponsor, dessen Lastwagen hin und wieder eingeblendet werden; die meiste Zeit wird jedoch die Regierung beworben – mit dicken Bauchbinden am Bildschirmrand während der Übertragung, mit Reklamefilmen in der Halbzeitpause und lobenden Worten der Reporter.

»Fútbol para Todes gibt es ja nicht, um Geld verdienen«, hat Hebe de Bonafini gesagt, die Anführerin der regierungstreuen Fraktion der Mütter der Plaza de Mayo. »Es ist dafür da, Politik zu machen.« Sie berief sich dabei auf Néstor Kirchner, den 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten und Erfinder der kostenlosen Fernseh-Propaganda mit dem Ball.

Jorge Capitanich, der Chef des Kabinetts (l.), und Julio Grondona, der Präsident des argentinischen Fußballverbands                  Foto: Casa Rosada

Über allem und allen thront jedoch in Argentinien Julio Grondona, genannt Don Julio, Chef des Fußballverbandes (Afa) seit 1979 und auch erster Vizepräsident des Weltverbandes Fifa. Die Regierung kauft der Afa die Übertragungsrechte ab und finanziert so Grondonas Reich. Der wiederum verteilt die Beute an die Klubs, deren Präsidenten im Hauptberuf oft Politiker sind – Minister, Abgeordnete, Senatoren, Parlamentspräsidenten – oder es werden wollen, falls sie es nicht schon waren. Die Vereine verschaffen ihnen Prestige und eine halbkriminelle Fantruppe namens Barra Brava (Wilde Horde), eine exklusive Gemeinschaft singender Schränke. Sie sorgt für die Stimmung im Block, zieht aber auch mit in den Wahlkampf, trommelt Demonstranten zusammen oder blockiert ein Fabriktor – und wird reichlich entschädigt: mit Eintrittskarten für den Schwarzmarkt, der Kontrolle über Imbissstände und Parkplätze rund ums Stadion, mit Narrenfreiheit und politischem Schutz.

Am Ende haben alle profitiert, es gibt keine Verlierer in diesem System, keine Opfer – und nur die hätten Grund, sich gegen die Korruption zu wehren.

Die Barra Brava von Ferro Carril Oeste, einem Hauptstadtklub aus der zweiten Liga

Die Barra von Vélez Sarsfield im Estadio El Monumental

Julio Grondonas Markenzeichen war jahrzehntelang der goldene Ring am kleinen Finger der linken Hand mit dem eingravierten Spruch: »Todo pasa«, alles geht vorüber. Sein Lebensmotto. Nichts hat ihn zur Strecke gebracht. Journalisten veröffentlichten Auszüge seiner vollen Auslandskonten, die argentinische Justiz ermittelte, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, die Fehlerchen der Ehrenmänner dieser Welt, todo pasó, alles ging vorüber.

Doch dann starb am 12. Juni 2012 seine Frau Nélida Pariani, genannt Nelly, und der Witwer zog den Ring ab. »Die Probleme der Arbeit, des Fußballs, der privaten Angelegenheiten – alles geht vorüber«, erzählte Don Julio später. »Aber solche Dinge nicht.« Wobei auf aktuellen Bildern am Ringfinger etwas Goldenes funkelt, das dem abgelegten Stück zumindest ähnelt.

Zwölf Präsidenten hat Grondona (82) als Fußballboss überlebt, wobei man ihm zugute halten kann, dass Argentinien wegen des Komplettzusammenbruchs vor fast dreizehneinhalb Jahren zwischen dem 21. Dezember 2001 und dem 2. Januar 2002 von fünf Staatschefs regiert wurde.

Und weil Argentinier gerne übertreiben und obendrein noch am Abgrund stehend Weltklasse beanspruchen, spricht das Volk heute von cinco presidentes en una semana.

Fünf Präsidenten in einer Woche: Das hat ja wohl außer uns auch noch keiner geschafft, eh?

♦♦♦♦♦

Für Freunde der Statistik: die fünf Präsidenten

  • 21. Dezember 2001: Rücktritt von Fernando de la Rúa
  • 21. bis 22. Dezember 2001: Ramón Puerta
  • 23. bis 30. Dezember 2001: Adolfo Rodríguez Saá
  • 31. Dezember 2001 bis 1. Januar 2002: Eduardo Camaño
  • 2. Januar 2002: Amtsantritt von Eduardo Duhalde (bis 25. Mai 2003)

Zwischen Hühnern und Pinguinen

von CHRISTOPH WESEMANN

Cristina Kirchner regiert Argentinien seit mehr als fünf Jahren. Erst im Oktober 2011 wurde sie als Präsidentin wiedergewählt, und 2015 will sie vielleicht abermals antreten, obwohl dafür die Verfassung geändert werden muss. Sollte das nicht klappen, könnte ihre Schwägerin Alicia Kirchner einspringen, derzeit Sozialministerin, und dann 2019 Sohn Máximo übernehmen. Er soll der wichtigste Berater seiner Mutter sein. Bis 2007 hieß das Staatsoberhaupt übrigens Néstor Kirchner, der inzwischen verstorbene Gatte.

Pinguin-TV

Cristina versorgt ihr Volk mit Fleisch und Fußball, also nicht privat, sondern ganz staatlich über die beiden Regierungsprogramme Carne para Todos und Fútbol para Todos. Fleisch für alle sorgt dafür, dass die Preise stabil bleiben. Fußball für alle bringt die Ligaspiele live ins frei empfangbare Fernsehen. Dafür flimmert alle paar Minuten eine Werbebande der Präsidentin der Nation auf dem Bildschirm. Einerseits kosten all diese Wohltaten ein bisschen–allein 110 Millionen Euro die Ligaspiele im TV. Andererseits sind Fleisch und Fußball Grundnahrungsmittel. Wobei für Argentinier Fleisch nur vom Rind kommt. Huhn ist kein Fleisch, sondern, nun ja, Huhn. Ohnehin werden Hühner nicht ernst genommen. Spieler und Fans des vornehmen Hauptstadtklubs River Plate veralbert man als Gallinas, also Hühnchen im Sinne von Feiglingen. Neulich, bei einem Auswärtsspiel, liefen zwei Hühner über den Platz – die gegnerischen Fans hatten ihnen sogar River-Trikots angezogen. Der Anpfiff verzögerte sich um 15 Minuten.

Die Kirchners und ihre Freunde nennt man übrigens Pinguine, weil sie aus Santa Cruz stammen, der Pinguinprovinz im Süden. Dort war Héctor Marcelino García einst Vize-Gouverneur, und eine seiner vier Töchter könnte es noch weiter bringen. María Rocío ist Zahnärztin – und Dauerfreundin des Präsidentensohnes Máximo. Und dass die Frau vom Mann die Regierungsgeschäfte übernimmt, hat bei Kirchners doch Tradition.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Dreierpack der Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor ein paar Tagen hatte ich mich mit »Fútbol para todos« beschäftigt, den Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihren Untertanen spendiert, damit die ihr was spendieren. Gerade spielen die Boca Juniors gegen Racing Club um den argentinischen Pokal. Und so sieht das dann im Fernsehen aus: Drei der zwölf Sender, die ich empfange – und es gibt noch viel mehr -, zeigen das Spielchen. Glauben Sie nicht? Doch:

Es gibt auch eine Art Dauer-Bauchbinde: »Gentileza de Fútbol para todos«, sinngemäß: »Präsentiert von Fußball für alle«. Und zwischendurch kommt immer wieder eine Einblendung der Präsidentin, die die Zuschauer daran erinnert, wer das Gratisgucken bezahlt: die Präsidentin.

Mit ihrem Privatvermögen?
Nö.

Der Schriftsteller Heinrich Mann hat einmal gesagt: »An der Sprache erkennt man das Regime.«

Pille auf Staatskosten

von CHRISTOPH WESEMANN

Da sage noch einer, Politiker hielten ihre Wahlkampfversprechen nicht. Auch zukünftig »Fútbol para todos«, »Fußball für alle«, hatte Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihrem Land versprochen, als sie sich im vergangenen Jahr um eine zweite Amtszeit bewarb. Und sie gewann die Wahl im Oktober mit 53 Prozent.

»Fußball für alle« meint: Die Spiele der Ersten Liga werden seit drei Jahren im frei empfangbaren Fernsehen gezeigt, gestern Abend zum Beispiel Meister Arsenal FC aus Sarandí (bei Buenos Aires) gegen Unión (aus der Provinz Santa Fe) und Vélez Sársfield (aus Buenos Aires) gegen Argentinos Juniors (aus Buenos Aires). Heute Abend schaue ich mir an, wie die Boca Juniors (aus Buenos Aires) gegen Quilmes AC (aus der Provinz Buenos Aires) gewinnen, und am Sonntag gönne ich mir die Heimniederlage von River Plate (aus Buenos Aires) gegen Belgrano (aus Córdoba).

(Dass die Primera División ein bisschen hauptstadtlastig ist, behaupten nur Deutsche. Hertha BSC Berlin hat gestern Abend übrigens 2:2 gespielt. Zu Hause. Gegen Paderborn.  Primera B Nacional.)

»Canal 7« überträgt, und was »Canal 7« nicht überträgt, überträgt »Canal 9«, und was »Canal 9« nicht überträgt, überträgt »América«. So einfach ist das. Der Steuerzahler Staat bezahlt seit 2009 die Übertragungsrechte, immerhin 110 Millionen Euro pro Jahr. »Die Verquickung von Sport und Politik ist in Argentinien so verhängnisvoll wie in kaum einem anderen Land«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« damals über den Deal zwischen Regierung und Fußballverband, zwischen dem Präsidentenpaar Kirchner und dem Allmächtigen: Julio Grondona, einem der übelsten Halunken des an üblen Halunken nicht armen Gewerbes. Sein Lebensmotto trägt der Chef des argentinischen Fußballs und Vizepräsident der Fifa eingraviert auf einem Goldring: »Todo pasa«, »alles geht vorüber«. Argentiniens Justiz versucht seit 2011, ihn zur Strecke zu bringen.

Ein bisschen kompliziert ist es auch mit den Regeln der Primera División. Bislang gab pro Saison es immer zwei Meister: einen Meister der Hinrunde, des »Torneo Inicial« (August bis Dezember), und einen Meister der Rückrunde, des »Torneo Final« (Februar bis Juni). Von dieser Saison an wird es nur noch einen Meister geben. Der Erste der Hinrunde trifft am Ende auf den Ersten der Rückrunde. Ist das eine Welterfindung? (Und wenn der Erste der Hinrunde auch der Erste der Rückrunde ist, spielt der natürlich nicht gegen sich selbst.)

Wie das mit dem Abstieg funktioniert, habe ich gelesen und nicht verstanden. Da geht es um Koeffizienten der vergangenen drei Jahre. Ist mir egal, Boca steigt ja nicht ab. Anderseits: Wer hätte damit gerechnet, dass im Juni 2011 der Rekordmeister River Plate nach 110 Jahren zum ersten Mal absteigt? Dieser Fan jedenfalls nicht:

(Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa, das Filmchen ist uralt. Aber als es neu war, hatte ich noch kein Argentinisches Tagebuch.)

Wenn Sie noch mehr wissen wollen, empfehle ich Ihnen, bei den Jungs von »Argifútbol« vorbeizuschauen, die aus Buenos Aires auf Deutsch über den argentinischen Fußball berichten. Das ist nicht so ein Gestümper wie bei mir. Mir ist am Freitag aufgefallen, dass am Freitag die Saison beginnt. Also habe ich mir schnell die Saisonvorschauen der beiden Tageszeitungen »La Nación« und »Clarín« besorgt. Die von »Clarín« hatte ich sogar aus einem Café stehlen müssen, weil an sechs Kiosken die Zeitung ausverkauft war.

Andreas, Etienne, Christof und Viktor haben vor Beginn der Saison die Vereine geröngt und wissen mehr über die Mannschaften als die Mannschaften selbst. Atlético de Rafaela braucht zum Beispiel ganz dringend einen Ersatztorwart:

Für die B-Elf steht im Trainingsspiel derzeit der 15-jährige Axel Werner im Tor. Der Torwart der argentinischen U17 misst bereits 1,92m und gilt als das größte Talent der Jugendschmiede, aus der auch Sara kam. Ein Kandidat ist Vélez dritter Torwart Alan Aguerre.

Die Jungs erkennen sogar die Spielerfrauen am Hinterteil. Ohne anfassen, natürlich.

Und ich werde mal im Kanzleramt anrufen und erklären, wie Frau Merkel mit 53 Prozent die nächste Bundestagswahl gewinnt. Und falls sie mich abwimmelt, ruf ich Sigmar Gabriel an. Und falls der »zu viel zu tun hat«, um mit mir zu sprechen, tja, dann heißt der nächste Bundeskanzler einer FDP-Alleinregierung halt Rainer Brüderle. Ist doch nicht mehr mein Problem.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)