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Pilgern mit Aretha Nylon – Die viertägige Wallfahrt (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Banane

♦♦♦♦♦

Zweiter Tag. ZárateSan Pedro

7.30 Uhr.
Mein argentinischer Freund Cristian und ich zucken. Sollen wir? Nein! Oder doch? Was meinst du? Sag du! Also gut, wenn du mich fragst, ich denke, dass …

Wir könnten noch ein Weilchen bei den Metallern in Zárate bleiben und dann am Abend im Bus nach San Pedro reisen. Die Organisatoren der Wallfahrt meinen es gut mit uns, es hat nämlich angefangen zu regnen. Das große und das kleine Kaninchen haben bereits kapituliert und liegen schon wieder auf ihren Matten. ¡Trampa! Mogelei!

Ich fühle mich einerseits sehr gut. Als um zehn vor sechs das Licht in der Gewerkschaftsturnhalle anging, war ich schon eine Stunde wach. Schmerzen? Keine! Andererseits: Ich bin mitten im Training. Cristian bringt mir seit gestern Abend Truco bei, das argentinische Kartenspiel schlechthin, eine Art Río-de-la-Plata-Poker. Beim Truco wird nicht bloß gequatscht, geschummelt und gelogen; man provoziert auch den Gegner und macht ihn lächerlich, man hält seine Eier allzeit fest, um sie dann, wenn erforderlich, unverzüglich auf den Tisch packen zu können.

Cristian hat mich soeben ein paar Mal gewinnen lassen, ich hab’s jetzt drauf und brauche endlich einen richtigen Gegner. Steh auf, Kaninchen! Während sich Conejo hochkämpft, gehe ich schnell meinen handgeschriebenen Zettel durch, ich habe ja den Wert der Karten noch nicht ganz im Kopf.

truco 1

> Die vier höchsten Truco-Spielkarten und die mieseste (4 de copas)

Reihenfolge:

  • 1 von den Schwertern, auch Macho genannt
  • 1 von den Stäben, auch Weibchen genannt
  • 7 von den Schwertern
  • 7 von den Münzen
  • 3, 2, 1 (Rest), 12, 11, 10, 7 (Rest), 6, 5, 4

Die oberste Scheißkarte beim Truco ist die 4 de copas (4 von den Pokalen) − so nennt man in Argentinien übrigens auch eine Person, die gar nichts drauf hat oder sehr wenig zu sagen.

Conejo, das Kaninchen, trickst und schummelt und lügt, er nuschelt mich voll, er nimmt meine drei Karten von unten aus dem Stapel, was angeblich legal ist oder jedenfalls nicht ausdrücklich verboten, er versteckt seine Wett-Einsätze – Truco (Zwei-Punkte-Spiel), Retruco (drei), Vale cuatro (vier) – inmitten sinnfreier Monologe und beschimpft mich dann, weil ich wieder nichts verstanden habe. Wenn ich sicher bin, dass er blufft, hat er beste Karten. Und umgekehrt. Kaninchen, der Messi des Truco, gewinnt sogar mit der 4 von den Pokalen.

Ich glaube, ich verliere von zehn Runden zwölf. Oder 20 von 14. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Truco, das ist doch kein Spiel!

8 Uhr.
»Also, ich schlage vor, dass wir pilgern und nicht hier bleiben«, sage ich zu Cristian.

»Natürlich pilgern wir.«

»Der Regen kann uns mal.«

»Welcher Regen? Das ist eine Erfrischung, alemán.«

8.10 Uhr.

Tag 2 b

Tag 2 c

Am Ausgang bekommt jeder ohne Regenmantel eine große Mülltüte. Wir gehen auch erst einmal weiter entlang der Autobahn. Stört mich das? Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.

(Ein Argentinier versteht den Otto-Witz von Frau Suhrbier und ihren Folgeschäden an der Autobahn übrigens nicht, was wohl zwei Gründe hat: Zum einen darf in diesem Land nirgends schneller als 130 Kilometer pro Stunde gefahren werden; zum anderen unternehmen argentinische Durchschnittsfamilien gern einen Sonntagsausflug zur Autopista, um nebenan auf dem vertrockneten Rasen Fußball zu spielen, zu entspannen und zu grillen. Man trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Kollegen.)

Tag 2 d

12 Uhr.
Die Ersten humpeln schon, oh, die sind aber früh dran. Es ist noch sehr, sehr weit, nicht nur nach San Nicolás de los Arroyos, dem Ziel, sondern auch zum heutigen Etappenort San Pedro. Wir haben vorhin ein Schild gesehen, auf dem »68 km« stand, wobei wir ja heute Abend wieder ein Stück mit dem Bus zurücklegen werden. Wir können also mindestens 20 Kilometer abziehen.

Tag 2

Meiner Erfahrung nach wird eine jede Wallfahrt im Kopf entschieden, es ist nämlich alles psychologisch, die Angst vorm Scheitern und der Schmerz sowieso. Ich habe bislang keine Tablette gebraucht, meine Füße sind nach wie vor ohne Blase, und meine beigen Nylonstrümpfe aus der Damenabteilung des Supermarktes bei uns an der Ecke haben noch nicht einmal eine Laufmasche.

Damenstrumpf

Jawohl, ich trage Damenstrumpf unter meinen Marathonsocken. Ich halte es natürlich geheim. Nur Cristian weiß davon, weil er mich am Abend vor unserem Aufbruch bei der Anprobe zu Hause erwischt hatte. Saßen tadellos, die Dinger, da waren wir uns einig.

Auch Bundeswehrsoldaten tragen ja Nylon – angeblich, und natürlich ausschließlich für den Marsch, ich will den Kameraden nichts unterstellen, ich hab’s auch nur gehört von einem, der ebenfalls nicht gedient hat.

»Und wenn’s nicht hilft«, hatte Cristian übrigens gesagt, »sieht’s immer noch verdammt scharf aus.«

Tag 2 e

14 Uhr.
Endlich, zum ersten Mal nach eineinhalb Tagen und 65 Kilometern, lassen wir Asphalt und Verkehrslärm hinter uns. Endlich Natur. Endlich ein Feldweg. Und bald darauf: Schlaglöcher.

 

tag 2

17 Uhr.
Kilometer 127 der Nationalstraße 9, eine Brücke. Ganz in der Nähe liegt das 2000-Seelen-Dorf Villa Alsina. Unsere Busse warten schon. Cristian knorrt sich fix noch eine Kürbissuppe rein. Wenn das hier vorbei ist, muss er auf Entzug.

18.30 Uhr. San Pedro.
Ich habe ja schon viel gesehen in meinem Leben. Aber das hier, ¡Madre mía!1, muss die Strafe für etwas Gewaltiges sein.

Das darf man nicht verdrängen, man muss es umgehend verarbeiten. Handy raus zum Gebet!

CW. Bist Du noch oder schon wach?

MC. Ja.

CW. Das ist die heutige Männertoilette.

Klo

MC. Mein Gott!

CW. Ich kneife die Arschbacken zusammen, das glaubst Du nicht.

MC. Was bleibt Dir sonst übrig?

CW. Ich bin zu alt für so’n Scheiß.

MC. Dann nimm den nächsten Bus.

CW. Bus? Wir sind in … wo zum Teufel sind wir überhaupt? Der Kiosk hatte nicht mal Wasser.

MC. Dann muss das Bolivien sein.

CW. Oder die DDR. Ich bin mal im Bad. Gute Nacht!

Marc Koch (MC) ist Gastautor des Argentinischen Tagebuchs und festes Ensemblemitglied der Komödien.

Dusche

Eine warme Dusche kostet 20 Pesos, umgerechnet 1,90 Euro. Man steigt zunächst eine Treppe hinauf, bezahlt dann im Büro des Klubchefs und bekommt schließlich eine nummerierte Duschberechtigungsmarke. So hat’s mir Conejo erklärt, dreimal, um genau zu sein, weil ich das Verfahren nicht auf Anhieb verstanden hatte. Die können mich mal, ¡carajo! Mir ist das erstens immer noch zu kompliziert; zweitens habe ich ja – wie jeder Pilger – umgerechnet 75 Euro Teilnahmegebühr bezahlt; und drittens probiere ich erst mal die wahrscheinlich illegale Kaltwasserdusche aus, die ich vorhin neben den Pinkelbecken entdeckt habe.

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Ich stelle mich, schon entkleidet, auf Zehenspitzen und erreiche tatsächlich – ich bin ein verdammtes Genie! – das oben am Duschkopf angebrachte Wasserhähnchen. Brrrrrrrrrrrrrr, ist das kalt. In meinem Rücken wird derweil gepinkelt, da kennt der Argentinier – und zwar einer nach dem anderen – nichts. Ich beobachte es aus dem Augenwinkel, und mir ist klar, dass ich auf dem Weg zum Handtuch gleich durch das werde waten müssen, was danebengegangen ist – und das ist allerhand.

Fortsetzung folgt

  1. Oh, mein Gott []

Aus dem Leben eines Chauffeurs

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Frau ist wieder verdienstreist, also passiert heute etwas, weil ja immer etwas passiert, wenn die Frau verdienstreist ist. Sicherheitshalber und ausnahmsweise schaue ich mal ins Mitteilungsheft der Dreidreivierteljährigen. Sag ich doch: 9 Uhr, Elternversammlung im Kindergarten. Alles gut. ¡Tranquilo!1 Ja, der Tag wird hart, das schon, viele Fahrten quer durch die Stadt, ich rechne mit 40 Kilometern. Aber ich werde schweben, ich kann gar nicht anders, schließlich hat Argentinien am Abend das Halbfinale der Copa América mit 6:1 gegen Paraguay gewonnen. Außerdem verpasst die Frau ja oft auch dolle Dinger. Vor einer Woche zum Beispiel hat unser Sohn, wie das Brauch ist für Viertklässler hier zu Lande, in seiner Schule geschworen, »die argentinische Fahne zu achten, verteidigen und zu lieben«. Ich hatte Tränen in den Augen.

Die Südamerikameisterschaft ist gleich das Gesprächsthema all der Väter auf diesen winzigen Stühlen. Am Sonnabend kommt es zum Endspiel gegen Chile. Argentinier mögen Chilenen nicht, und Chilenen mögen Argentinier nicht. Diese zwei Nachbarn haben sich zu oft gestritten im 20. Jahrhundert, 1978 standen sie wegen irgendwelcher Inseln sogar kurz vor einem Krieg. Nun ja, ein Ausländer hält sich, wenn er klug ist, aus diesem quilombo2 komplett heraus. Unser aber sagt zweimal »Hurensöhne« und einmal »verdammte Scheißhurensöhne« – zum Glück klingt ja derlei auf Spanisch viel harmloser.

Der Blick der Erzieherin sieht das anders.

10.15 Uhr. Wieder zu Hause. Mate trinken. Zeitung lesen. Noch einmal die Tore vom 6:1 gucken. Und noch mal. Danach noch dreimal.

12 Uhr. Mittwochs endet der Unterricht nicht um 16 Uhr, sondern schon vier Stunden früher, und ich habe zugesagt, nicht nur meine Sechsjährige zur Geburtstagsfeier einer Mitschülerin zu fahren, sondern auch noch drei Freunde aus ihrer Klasse mitzunehmen. Ich stelle jetzt fest: Das war leichtsinnig. Aber es gibt kein Zurück mehr, zumal ich gestern vor den hübschen Müttern der drei Schreihälse auf Superheld gemacht habe: Ach was, gar kein Problem, das schaff ich locker.

Was Lautstärke und Selbstbewusstsein betrifft, entspricht ein argentinisches Kind übrigens zwölf bis 15 deutschen Kindern.

Auto 4

12.30 Uhr. Rrrrrrrrrrrrrraus mit euch!

Zurück zur Schule. Fünf Kilometer. Das müsste in einer halben Stunde zu schaffen sein – wenn ich zügig fahre.

Auto 1

Auto 2

13 Uhr. Das Fußballtraining des Neunjährigen ist gerade zu Ende gegangen, ich plaudere noch kurz mit Tomás, seinem Trainer. Wir sind uns nicht immer einig. Zum Beispiel sehe ich meinen Sohn eher zentral, in der Rolle des Spielgestalters, ausgestattet mit allen Freiheiten; sein Trainer findet, er sei für die Mannschaft als Beinesteller in der Abwehr wertvoller. Was allerdings die Chilenen angeht, sind wir hundertprozentig einer Meinung. Tomás urteilt nur nicht so sanft wie ich.

Auto 3

Hör mal, mein Sohn, wenn wir zu Hause sind, könnten wir vielleicht noch mal die Tore von gestern gucken. Was meinste? Und dann muss ich schon wieder los, um deine Schwester vom Kindergeburtstag abzu … warte mal, da winkt einer. Das ist doch der Dings, äh, der, wie?, ja, genau der, jetzt erkenn ich ihn auch: Ignacio, der chino. Der war heute in deiner Mannschaft, ne? Och, reg dich nicht gleich wieder auf, ich weiß, dass seine Eltern Taiwaner sind, nein, sie sind keine Taiwaner, sondern Argentinier, sie kommen nur aus Taiwan, Du hast Recht. Aber in Argentinien sind alle Asiaten Chinesen, weißt du doch.

Radio aus. Warnblinker an. Scheibe runter. Hola, ¿cómo andan? ¿Todo bien? Me alegro.3 Die beiden wollen bestimmt ein Stück mitgenommen werden. Oder? Nein, ja, vielleicht, im Prinzip schon, aber die Sache ist … Leute, ich stehe mitten auf der Straße, und das fühlt sich sehr chilenisch an. Der Typ im Rückspiegel ist schon rot angelaufen und steigt in spätestens 20 Sekunden aus. Immerhin wird er dann seine Hupe loslassen müssen. Was denn nun? Klartext, por favor. Und du pelotudo4 da, hör auf, mich zu beschimpfen, la puta que te parió5.

Bueno, die Mutter hat einen Arzttermin. Ignacio kann also gern mit zu uns kommen, für ein paar Stunden. Aber wenn es heute nicht passt, dann ein andermal, ich muss es nur sagen. Ach was, gar kein Problem. Ignacio sitzt ja ohnehin schon angeschnallt auf der Rückbank. Ich bin übrigens allein mit meinen drei Kindern!

Auto 5

15 Uhr. Die Route bislang: Wohnung → Kindergarten → Wohnung → Schule → Kindergeburtstag → Schule → Wohnung → Kindergeburtstag. Die harten Etappen sind damit überstanden. Jetzt rollen wir langsam aus: → Wohnung → Kindergarten → Wohnung. Zwischendurch wird hoffentlich der Chinese abgeholt, und wenn alle baden, bereite ich das Abendessen zu. Serviert wird die Spezialität des Hauses: Chicken Nuggets an Ketchup und Mayonnaise.

Hoppla, Facundo will mitfahren, er wird bei uns übernachten. Nein, das glaube ich nicht. Die Sechsjährige schwört aber, dass sie mir das gesagt habe. Wirklichwirklichwirklich.

Wann?

Vorhin.

Geht’s genauer, corazón6?

Im Auto.

Ach so, als die zwei Schulklassen aus Wuppertal auf meiner Rückbank saßen.

Wuppertal? Kennt sie nicht.

Ich meine: Als ihr so herrlich schräg gesungen habt, da irgendwann hast du‘s mir gesagt, ja?

Ja. Wirklich, Papi.

Mein Schatz, das war ein sehr günstiger Augenblick, um Papa eine solch wichtige Nachricht zu überbringen. Sind wir startklar? Auf geht’s! Nächster Halt: Wohnung.

Später am Abend, es ist schon tiefe Nacht in Buenos Aires: Vier Kinder sind eingeschlafen, man hört zwei von ihnen schnarchen. Ein gebückter Mann, schwer atmend, tritt vor den großen Spiegel im Bad, er macht sich unmerklich gerade und beginnt zu lächeln. So verharrt er minutenlang. Es sieht aus, als bewundere er sich selbst, aber nein, das bilden wir uns sicher nur ein.

  1. Ruhig! []
  2. Slang für Chaos, Durcheinander []
  3. typische Begrüßung in Argentinien: Hallo, wie geht’s euch? Alles gut? Freut mich. []
  4. Blödmann []
  5. argentinischer Fluch, wörtlich übersetzt: Die Hure, die dich geboren hat []
  6. Herz, beliebte Anrede für Kinder und andere geliebte Menschen []

Frisches Angeberwissen (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

Erster Teil

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Politiker und Geld

  • 830 000 Pesos bezahlte der Gouverneur der Provinz Misiones, Mauricio Closs, für 200 000 »Gefällt mir«-Klicks bei Facebook und 200 000 weitere Klicks über Google. Jeder Facebook-Fan kostete somit umgerechnet 1,93 Pesos. Das Geld dafür bewilligte sich der Politiker aus dem Haushalt über das Dekret 766/14.

Kicillof

  • Seit 2013 hat La Cámpora, die Nachwuchsorganisation des Kirchnerismus, fünf neue Peso-Millionäre, darunter ist der Wirtschaftsminister Axel Kicillof. Der mutmaßlich wohlhabendste Camporist ist Mariano Recalde, Präsident der staatlichen Fluglinie Aerolíneas Argentinas. Sein Privatvermögen gibt er mit 6,2 Millionen Pesos an. Er besitzt unter anderem zwei Wohnungen, ein Auto und Aktien einer Immobiliengesellschaft. Sein durchschnittlicher Monatsverdienst beträgt nach eigenen Angaben 150 000 Pesos. Nationalabgeordnete, Senatoren, Minister und andere Funktionäre des Staates müssen der Antikorruptionsbehörde, die zum Justizministerium gehört, alljährlich ihre Vermögensverhältnisse unter eidesstaatlicher Versicherung offenlegen. (Was nicht bedeutet, dass die Angaben tatsächlich stimmen.) Einsicht in die Dokumente kann − unter anderem von Journalisten − beantragt werden.

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Schuld und Sühne

Die Macht von La Cámpora

9

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Protest: Straßenblockaden und -sperrungen (piquetes) in Argentinien

Straßensperren sind in Argentinien eine beliebte Protestform, um Politik und Gesellschaft auf Missstände − Kriminalität, häufige Stromausfälle im Viertel, Armut − aufmerksam zu machen. Die Zahl der Blockaden ist damit auch ein Hinweis auf die wirtschaftlichen und politischen Zustände im Land.

[visualizer id=“6117″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

[visualizer id=“6152″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

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Verkehr

  • Eine Million Fahrzeuge sind in Buenos Aires nach Angaben des Verkehrssekretariats angemeldet. An einem Werktag kommen durchschnittlich weitere 1,3 Millionen Fahrzeuge von außerhalb in die Hauptstadt. Es gibt jedoch nur 1,5 Millionen Parkmöglichkeiten.
  • Alle drei Minuten wird in Buenos Aires ein falsch geparktes Auto abgeschleppt. Macht im Monat 14 000 Fahrzeuge. 2013 wurden  laut dem Unterstaatssekretaritat für Transport an 298 Tagen 108 772 Autos abgeschleppt.
  • Zuständig sind dafür seit 2001 zwei Firmen: Dakota SA im Norden der Hauptstadt, BDR Saicfi im Süden. Für das Abschleppen berechnen sie 450 Pesos. (Hinzu kommt eine Strafe von 640 Pesos.) Sie selbst zahlen an die Stadt Buenos Aires monatlich jeweils nur 30 000 Pesos − einen Betrag, den sie nach weniger als einem Tag − oder umgerechnet 66,66 Fahrzeugen − bereits wieder eingenommen haben. Monat für Monat sollen 30 Millionen Pesos zusammenkommen.
  • Dass die beiden Firmen auch für das Kennzeichnen der Parkverbote − Schilder und gelb angepinselte Bordsteine − zuständig sind, sorgt für Unmut. Es heißt, die Markierungen seien schlecht zu erkennen oder würden sogar erst angemalt, wenn das Auto bereits parkt. Überdies seien Beschwerden − auch über Beschädigungen − zwecklos. Im Film »Relatos Salvajes« ärgert sich ein Mann (gespielt von Ricardo Darín) sosehr über das aus seiner Sicht ungerechtfertigte Entfernen seines Autos, dass er es noch einmal falsch parkt − diesmal aber mit einer Bombe im Kofferraum, die später auf dem Parkplatz der Abschleppfirma explodiert. Weil der Mann Sprengstoffexperte ist, gibt es keine Verletzten. Das Volk hat einen Helden: »Bombita«, das Bömbchen.

 

  • Taxifahren in Buenos Aires: Der Startpreis beträgt 14,30 Pesos, alle 200 Meter (oder nach jeder Minute Stillstand) werden 1,43 Pesos berechnet. Zwischen 22 und 6 Uhr betragen die Preise 17,10 Pesos und 1,71. (Stand: September 2014) In den vergangenen fünf Jahren hat sich das Taxifahren um 200 Prozent verteuert. Im Oktober 2010 etwa standen zu Beginn 5,20 Pesos auf dem Taxameter, und 200 Meter kosteten 0,52 Pesos. Acht von zehn Taxis sind offiziellen Angaben zufolge klimatisiert.

Taxis

  • Jährlich werden in Argentinien 700 000 Motorräder hergestellt; 2003 waren es noch 35 000 − eine für viele Länder Lateinamerikas typische Entwicklung. Pro Tag werden allein in Buenos Aires 500 Motorräder angemeldet. 5,8 Millionen Motorräder sind in Argentinien registriert − 1,7 Millionen davon in der Provinz Buenos Aires. Argentinier fürchten derzeit kaum etwas mehr als die »motochorros« − überwiegend junge und oft bewaffnete Männer, die vom Motorrad aus Überfälle verüben.

Unfall

  • 86 Menschen starben im Jahr 2013 im Straßenverkehr der Hauptstadt − neun mehr als 2012. Statistisch gesehen kam damit jeden vierten Tag ein Verkehrsteilnehmer ums Leben. Insgesamt gab es 10 124 (registrierte) Unfälle − pro Tag 27,7 − mit 10 621 Verletzten. 63 Prozent der Toten und 70 Prozent der Verletzten waren Männer. Fast die Hälfte der Totenopfer und ein Drittel der Verletzten waren zwischen 20 und 34 Jahre alt. Von den 86 Menschen, die 2013 im Verkehr starben, waren 39 zu Fuß unterwegs (45 Prozent), 23 mit dem Motorrad (29 Prozent) und 16 mit dem Auto (19 Prozent). Verletzt wurden am häufigsten Motorradfahrer (4199; 40 Prozent).
  • Die meisten Toten auf den Straßen Buenos Aires‘ gab es 2007: 138.
  • Landesweit starben 2013 5187 Menschen, im Schnitt 14 pro Tag. In Deutschland, das doppelt so viele Einwohner hat und einen viermal so hohen Kraftfahrzeugbestand, waren es 3340.

[visualizer id=“6163″] Quelle: Ifa; zitiert nach Clarín.

Das Patagonische Reisetagebuch (I): Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Tag 1. Buenos Aires > Tandil. 413 Kilometer.

»Ich sitz vorne, Papa.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Polizei. Du darfst noch nicht vorne sitzen.«

»Ich will aber vorne sitzen.«

»Du sitzt hinten. Basta.«

Wir sind gerade auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, als auf dem Tachometer das gelbe Lämpchen aufleuchtet. Mal im Handbuch nachgucken. Wir wollen ja nach Patagonien, nach Punta Tombo zu den Pinguinen. Wir haben zweieinhalb Wochen sogenannten Urlaub und werden in Etappen fahren: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn. Drei der 23 argentinischen Provinzen bereisen wir: Buenos Aires (so groß wie Deutschland), Río Negro und Chubut. Bis dorthin sind es noch 2000 Kilometer. Und es gibt schon jetzt Probleme.

Ah, kein Handbuch. Fragen wir jemanden, der sich mit Autos besser auskennt.

Leider ist der Siebenjährige gerade beschäftigt.

Also Tankstelle.

Der Tankwart will das Handbuch sehen. Er bietet dann Öl an.

»Öl ist super.«

»Das gute Öl?«, fragt er.

»Sicher.«

»Ist ein sehr gutes Öl.«

Dem Lämpchen ist’s, tja, sehr egal.

Man müsste eine Glasscheibe haben wie die Taxifahrer in New York City, ja, das wär’s, eine Scheibe, die das Cockpit von der Rückbank trennt. Könnte gar nicht dick genug sein. Die Kleine (2) und die Mittlere (4) stoßen seit zehn Minuten spitze Schreie aus und beklagen Bissspuren am Unterarm. Gleich wird der Zeigefinger in ein Auge gesteckt. Achso, stimmt, das hatten wir schon, beim Losfahren vor einer Stunde. Dann sind halt die Ohren dran oder die Haare, oder wie wäre es mit dem Ellenbogen in den Rippen, mein Sohn? Das mögen doch deine Schwestern überhaupt nicht.

Mein Sohn sagt, er habe, wie immer, nichts gemacht. Ich bin selbst ein großer Bruder, ich kenne alle Tricks, ich habe mich auch immer nur verteidigt.

»Du kommst nach vorne.«

»Nein.«

»Sofort!«

»Ich will nicht vorne sitzen.«

»Du sitzt vorne!«

»Und die Polizei, Papa?«

Bis ans Ende unserer Reise wird der Siebenjährige beifahren und jedes Mal, wenn Polizisten zu sehen sind, fragen: »Soll ich mich groß oder klein machen?«

Tag 2. Tandil.

Das sagt der Reiseführer:

Die hübsche Stadt Tandil liegt am nördlichen Rand der Sierras de Tandil, einer 2,5 Mio. Jahre alten Bergkette. Durch Erosion entstanden sanfte, grasbewachsene Hügel und Felsvorsprünge, die zum Klettern und Mountainbiken geradezu ideal sind. Zum Reiz der Stadt gehört die Mischung aus dörflichem Charme und der Energie einer Großstadt.

Wir sind im Naturschutzgebiet unterwegs, der Reserva Natural Sierra del Tigre. Wir wollen uns aufwärmen für das, was uns erwartet auf dieser Reise: argentinische Wildnis. Oder wenigstens das ein oder andere exotische Tier, das bereit ist, sich fotografieren zu lassen: Pinguine, Gürteltiere, vielleicht ein Schwertwal, vor allem Robben oder Seehunde, vielleicht sind’s auch Seelöwen, egal, ich kann diese grunzenden braunen Säcke, die am Strand rumliegen, eh nicht unterscheiden. Bislang habe ich hier außerhalb des Zoos nur Lamas gesehen und auch gleich gegessen, damals in Salta, hoch im Norden Argentiniens; ich hatte mich nicht im Griff, ich war allerdings auch mit Herrn T. unterwegs, das gibt mildernde Umstände.

Guckt mal, Kinder, da vorn, ein Pferd, nee, ein Pony. Ein Esel, sag ich doch.

Großer Jubel im Auto. Wurde in unserer Welt jemals ein Esel so überschwänglich begrüßt? Oh, er ist ganz blutverschmiert. Die Familie ergeht sich sogleich in Mutmaßungen: Er hat sich bestimmt am Felsen beim Fressen die Schnauze eingeklemmt oder wurde ganz sicher von dummen, bösen, ekelhaften Menschen mit Steinen beworfen oder ist wahrscheinlich einem Raubtier begegnet. An der Börse von Buenos Aires wird weniger spekuliert. Die Zweijährige ist mit den Nerven komplett am Ende, eine halbe Stunde lang sagt sie unaufhörlich: »Armer Esel. Armer Esel.«

Ich heize hinab ins Tal, wir brauchen einen Arzt, dringend, der Esel verblutet uns, halt durch, Junge, halt durch. Wahrscheinlich musst du ausgeflogen werden, wir kommen selbstverständlich für alle Kosten auf. Ich mache schon mal meinen linken Arm frei, ich spende dir so viel Blut, wie du willst.

»Papa spinnt.«

»Sag bloß.«

»Armer Esel. Armer Esel.«

»Ist ja gut, Liebes.«

Einer der Parkwächter sagt, der Esel habe mit einem anderen Esel gekämpft. »Machen die ganz gern. Sind nun mal Esel.«

Tag 3. Tandil > Pehuen-Có. 337 Kilometer.

Abfahrt. Jetzt leuchtet noch eine zweite Lampe, und eine rote Schrift sagt, das Abblendlicht sei defekt. Abblendlicht, aha. Der rechte Scheinwerfer geht nicht mehr, was dumm ist, weil man auf argentinischen Nationalstraßen immer mit Licht fahren muss. Ich zupfe an ein paar Kabeln im Motorraum, ich lasse mir Zeit, mache mein Finger absichtlich schmutzig und starre zwischendurch ins Nichts. Dann tauche ich wieder auf, kratze mich am Kopf und sage der Familie den Satz, den ich vor Jahren in einer Werkstatt aufgeschnappt habe: »Pfffffff, kannst heute nichts mehr selbst reparieren am Auto, läuft alles übern Computer, nicht mal ne kaputte Glühbirne kriegste gewechselt, ja, früher, bei meiner ersten Karre, da habe ich den Motor noch zerlegt und …«

Ich werde gebeten, endlich loszufahren. Nächster Halt: Tankstelle.

Ein höchstens zwölfjähriger Tankwart mit mindestens 20 Jahre alten Koteletten beschaut den Schaden, also er guckt auf die zwei Lämpchen, und sagt dann: »Ich weiß nicht, was es ist, aber schlimm ist es nicht.« Ich könnte ihn küssen, fürchte aber, dass er sich in einen Esel verwandelt.

Ich stelle den Tempomat auf 130 Kilometer pro Stunde, 20 mehr als erlaubt; die 60-Schilder vor Abfahrten in irgendwelche entlegenen Dörfer ignoriere ich schon seit vorgestern, da bremst ohnehin keiner. Genauso ist es mit Baustellen, die großspurig angekündigt werden – Gefahr! Arbeitende Menschen und Maschinen! 20 km/h! – und dann verwaist sind. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass vor jeder echten Baustelle in Argentinien ein Mann steht und eine Fahne schwenkt. Dann – und nur dann – wird gebremst.

Zwei Stunden und fast 200 Kilometer später beginnt das Auto zu ruckeln, wenn ich Gas gebe; ein Überholmanöver endet damit, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos scharf bremst und auf den Rasen neben der Straße wechselt. Danke, Du Retter! Die letzten 50 Kilometer bis Pehuen-Có fahre ich 80, beschleunige wie ein Sonntagsfahrer mit Regenschirm auf der Hutablage und spreche mit dem Auto: Das machst du ganz fein. Ein Stückchen noch, ja?

Der Mann in der einzigen Auto-Werkstatt von Pehuen-Có sagt, der Motor bekomme keine Luft. Aber helfen könne er auch nicht, er habe, genau, keinen Computer.

Wir wohnen, 200 Meter entfernt vom Atlantikstrand, beim Russen. El ruso, so heißt die Unterkunft und wohl auch ihr Besitzer. Argentinier sind ja Weltmeister im Spitznamengeben. Man orientiert sich gern an Äußerlichkeiten und nimmt es dabei nicht so genau: Wer ein bisschen asiatisch erscheint, ist el chino, der Chinese, wer eine dunklere Hautfarbe hat, wird el negro, der Schwarze, gerufen, und el turco, der Türke, ist entweder Moslem oder sieht aus, wie in der Vorstellung von Argentiniern Männer aus dem arabischen Kulturkreis auszusehen haben. Eine andere beliebte Methode ist, aus Menschen Tiere zu machen. Im Fußball gab und gibt‘s unter anderem: Esel, Enten und Entchen, Schildkröten, Küken, Aale, schwarze Spinnen, Tiger, Mäuschen und Mäuse, Hunde und Windhunde, Echsen, Löwen, Affen, Wölfe, Ponys, Tauben und Maulwürfe. Lionel Messi ist, klar, der Floh. Außerdem heißen Spieler: Kartoffelchen, Zwiebel, Butter, Kakao, Paprika, Salat, Bohne und Tomätchen. Jeder Argentinier hat obendrein mindestens einen Freund, den er gordo (Dicker) oder flaco (Dünner) nennt, wobei – hiesiger Humor – der gordo auch sehr flaco sein kann und umgekehrt. Und wenn man den Namen des Gegenübers nicht kennt oder vergessen hat, behilft man sich mit Schmeicheleien: Der Hotdog- und der Zeitungsverkäufer in unserem Viertel begrüßen mich als Chef und verabschieden mich als Champion.

Unsere Ferienwohnung, meint die Frau, ist ein bisschen schmuddelig. Sie findet angetrocknetes Bratfett auf der Mikrowelle, Staubschichten unter den Betten und alte Fußspuren in der Dusche. Wir sind im Urlaub und werden sowieso die meiste Zeit unterwegs sein, ich denke, da kann man ruhig mal ein Auge zudrüc … LÄSST SICH DIE VERDAMMTE SCHEISSHAUSTÜR ETWA NICHT SCHLIESSEN? Ich verlange ja keinen Schlüssel oder einen Riegel. Aber zumachen lassen sollte sich die Tür wenigstens.

Das schreibt der Reiseführer:

Im Strandort Pehuen-Có, 440km südwestlich von Mar del Plata, kann man den Strand noch für sich alleine haben – abgesehen von den Quallen, die wie die Badefreudigen das hier ein paar Grad wärmere Wasser schätzen.

Tag 4. Bahía Blanca.

Wir stehen um sechs Uhr auf, wir müssen zum VW-Autohaus nach Bahía Blanca, 80 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. Meine Plan ist: Wir werden die ersten Kunden sein, ich schicke die Frau mit den Kindern rein, das erweckt Mitleid und kitzelt die Beschützerinstinkte der ölverschmierten Kerle; ich existiere gar nicht. Während wir in der Nähe einen Kaffee trinken, wird das Auto an den Computer gestöpselt und der Fehler entdeckt; Ersatzteile liegen im Lager, es ist schließlich eine Vertragswerkstatt; nach einem Spaziergang zur Plaza Rivadavia, dem zentralen Platz, holen wir das reparierte Auto ab. Um 16 Uhr bin ich bereits wieder in Pehuén-Có am Strand und jage Quallen. Ich kann nicht erkennen, dass der Plan auch nur eine Schwachstelle hätte.

In Bahía Blanca (300 000 Einwohner) befindet sich übrigens der größte Marinestützpunkt des Landes; er wurde 1828 von Oberst Ramón Estomba als Fortaleza Protectora Argentina (Beschützerin Argentiniens) gegründet. Außerdem ist die Stadt das Zentrum der Petrochemie und hat seit dem vergangenen Jahr wieder einen Erstligafußballklub.

Wir sind nicht die Ersten, eher Nummer zehn. Oder zwölf. Kinder, ihr seht nicht niedergeschlagen genug aus! Und hört auf, so nett zueinander zu sein, benehmt euch wie immer. Los jetzt!

Nach einer halben Stunde treffe ich die Familie wieder; sie sieht niedergeschlagen aus. Es sei nicht klar, ob das Auto heute überhaupt noch drankomme. Wir sollen auf einen Anruf warten. Kann zwei Uhr werden oder auch fünf. Ich muss noch mal zum Auto, um die Sonnencreme und die Matetasche zu holen. Es ist inzwischen weggeparkt worden und steht, tja, wie soll ich’s beschreiben? Der Parkplatz gehört bestimmt offiziell noch zum Autohaus, der Weg dorthin ist aber weit und stellenweise sehr dunkel. Ich glaube nicht, dass die Autos ringsum irgendwann wieder fahren sollen. Die warten eher auf ihre Ausschlachtung.

Wir halten erst mal am Plan fest und verbringen eine Stunde im Café. Als die Kinder beginnen, Tische zu verrücken, und zwar besetzte, brechen wir auf. Und jetzt? Die Museen sind geschlossen. Ferienzeit. In der Fußgängerzone sind Klettergerüste und Rutschen aufgebaut, das bringt wieder eine Dreiviertelstunde. Wie spät ist es jetzt? Halb zwölf.

Ich bekomme allmählich sehr schlechte Laune und beginne zu hassen. Leute, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dass es ein riesiger Unterschied ist, ob ich allein in einer fremden Stadt bin oder mit drei kleinen Kindern, machen mich aggressiv. Wir haben weder eine Wohnung in Bahía Blanca noch kennen wir jemanden, bei dem wir die Zweijährige zum Mittagsschlaf hinlegen könnten. Heiß ist es außerdem. Ihr Männer im Autohaus, wie habt ihr euch das vorgestellt? Was sollen wir in eurer Petrochemie-Metropole machen, bis ihr irgendwann in ein paar Stunden anruft? Und was sagt ihr uns dann? Keine Zeit gehabt heute? Zu viele Terminkunden, ja? Und dann? Fahren wir zurück nach Pehuén-Có? Mit dem Bus? Und das Auto? Morgen ist Feiertag, nicht wahr? Und ich weiß dann immer noch nicht, ob das Auto bald erstickt? Hmmmh.

Wir kaufen erst mal ein Handtuch als Bettdecke, versuchen, die Zweijährige auf der Parkbank schlafen zu legen, trinken um die Wette kaltes Wasser und rufen im Autohaus an. Alle Männer sind zu Tisch. Ich würde jetzt am liebsten den Laden besetzen, so richtig breitmachen müsste man sich, wie die Bundys damals im Supermarkt. Toiletten, W-Lan, Klimaanlage, heißes Wasser für den Mate, Autozeitschriften für den Großen, Sessel zum Rumhüpfen für die Mädchen – ist ja alles da. Peggy meint, das sei meine beste Idee seit Jahren. Eine Stunde später ist das Autohaus erfolgreich besetzt.

 

Die Kleine schläft auf zwei zusammengeschobenen Sesseln, wir schlürfen Mate und lesen Kinderbücher vor. Wenn dem Sohn langweilig ist, schaut er sich die Neuwagenmodelle an und sabbert vorm Amarok, Listenpreis: 223 590 Peso. Es gibt auch Modelle für 190 000, aber er will Allradantrieb. Volkswagen Argentina wirbt übrigens mit dem Slogan Das Auto, also deutscher Artikel. (Auto heißt auch hier auto; coche sagen die Spanier.) Der Boss von VW ist war 1 Viktor Klima, der frühere österreichische Bundeskanzler. Präsident Néstor Kirchner hat er auch beraten. »Seit einer Herzoperation im Jahre 2009 hat er sein Leben umgestellt«, schreibt Wikipedia. »Er lebt mit seiner dritten Frau und drei Kindern im Alter zwischen 4 und 9 Jahren rund eine Stunde von Buenos Aires entfernt, wo er eine Farm mit 240 Hektar Grund und 200 Rindern besitzt.«

Fährt bestimmt Amarok, der Klima.

15 Uhr. Unser Auto wird aus der Abstellkammer geholt. Die Kleine schläft immer noch. Die Mittlere liegt auf dem Boden und malt. Der Große trinkt Mate, um mehr sabbern zu können. Ich weiß gar nicht, was diese Blicke sollen. »Gobernar es poblar«, schrieb schon der Verfassungsvater Juan Bautista Alberdi (1810 bis 1884). »Regieren bedeutet besiedeln.« Und in der Verfassung, Artikel 25 steht sogar:

Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise den Eintritt von Fremden in das Argentinische Gebiet, welche in der Absicht kommen, das Land zu bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, beschränken und mit Abgaben belasten.

16 Uhr. Die chicas von der Buchhaltung gucken angewidert, als ich vor der Glasscheibe ihres Großraumbüros meine Salamistulle aus Pehuen-Có esse. Sie haben sehr gute Fahrgestelle und werden offenbar serienmäßig mit langem, wallendem Haar und großen Airbags ausgeliefert. Ich sabbere nicht.

16.30 Uhr. Der Kanister des Wasserspenders wird ausgetauscht. Wurde aber auch Zeit.

17 Uhr. Ein Teil war locker oder abgebrochen, ich habe keine Ahnung, welches. Die Frau versucht’s mir zu erklären, sie hat ja die ganze Zeit mit den Jungs verhandelt und auch den Schlüssel empfangen. Ich nicke und freue mich, dass die beiden Lämpchen am Tacho nicht mehr leuchten.

Kleiner Haken, sagt sie: Das Auto ist nur provisorisch repariert.

Ich würde sagen: sehr großer Haken, man könnte einen Schwertwal dran aufhängen. Wir haben in Argentinien schon Toiletten und Markisen reparieren lassen, die dann gleich wieder kaputt gegangen sind – und das waren keine provisorischen Reparaturen. Auch der Rückspiegel im Auto fällt gern ab, wenn’s ihm zu heiß ist.

Tag 5. Monte Hermoso.

Ich will unbedingt den höchsten Leuchtturm Südamerikas besteigen und zwinge die Familie, mit mir nach Monte Hermoso zu fahren, einen Badeort 70 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. 70 Kilometer, das ist nichts. Höchster Leuchtturm Südamerikas! 293 Stufen! 67 Meter! Leider endet die asphaltierte Strecke nach 20 Kilometern. Man sieht: Schotter, Schlaglöcher, Sand und Staub bis zum Horizont. Wir beraten fünf Minuten und suchen nach einer Ausweichroute. Schon morgen werden wir eine doppelt so lange und dreimal so schlimme Piste ohne Murren zurücklegen. Aber das weiß noch keiner von uns.

Der Umweg über eine asphaltierte Straße kommt nicht infrage. Das wären 120 Kilometer.

»Jetzt einen Amarok, das wär’s, ne, Papa?«

Als wir am Leuchtturm ankommen, brennt das gelbe Lämpchen schon wieder.

 

Fortsetzung folgt

  1. Nachtrag: Llamadojorge ist schlauer als Wikipedia (und als ich sowieso) und korrigiert in den Kommentaren: Klima ist schon Ende 2012 in Rente gegangen. []

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

Das Riesenembryo und sein Chauffeur: Der ultimative Mar-del-Plata-Reisebericht (I)

von CHRISTOPH WESEMANN

Danü, der Heldenmaler, den es auch nach Buenos Aires verschlagen hat, muss eine halbe Tonne Bücher an die Atlantikküste bringen. Die argentinische Frohnatur CW bewirbt sich um die Stelle des Chauffeurs (die kein anderer will) mit dem Satz: »Viejo, nach Mar del Plata fahr ich dich rückwärts und mit beschlagenen Scheiben.« Er war ja schon zweimal dort. Oder doch nur einmal? Verwechselt er das gar mit Warnemünde? Ach, wird schon. Unsere zwei Helden machen sich jedenfalls auf den Weg, ein gewisser Herr T. übt noch mal seinen Gastauftritt, und der Leser wird eine Baustelle entdecken, die es inzwischen nicht mehr gibt. Weil Schweizer noch langsamer schreiben als Argentinier bauen. 

Danü: Wo bleibt CW? Um halb acht hat er eine SMS geschickt, dass er im Auto sitze. Jetzt ist es kurz vor acht – und CW ist immer noch nicht da. Hoffentlich hat er wenigstens die drei Kindersitze ausgebaut. Wir werden viel Platz brauchen.

CW: Ich dreh gleich durch, also zum zweiten Mal, denn gerade bin ich ja schon durchgedreht. Die Navigation hatte mir vorgeschlagen, gegen die Einbahnstraße zu fahren, es waren nur noch 100 Meter bis zu Danü und seinen Büchern, die wir in die argentinische Atlantikküstenkapitale Mar del Plata bringen sollen. Jetzt bin ich wieder 500 Meter weg vom Ziel und folge der Anweisung, nach rechts abzubiegen.

Danü: Wenn ich Kaffee trinken würde, könnte ich mir jetzt einen kochen.

CW: Was ist denn das? Eine Straße aus Sand, links und rechts wird gebuddelt. Könnte mal bitte jemand den Betonmischer zur Seite schieben? Danke, sehr nett. Gut, die nächste links, dann noch zwei Blocks – oh, Sackgasse. Ich wende, ich fahre in einer Baustelle gegen die Einbahnstraße, ist so was eigentlich noch mit Führerscheinentzug zu ahnden, oder gibt das schon Bewährungsstrafe?

Danü: »Alles scheiße.« (SMS von CW, 8.14 Uhr)

CW: So, ich hab’s, jetzt noch ’n Parkplatz, puh, sind das viele Bücherkartons, Mist, kein Parkplatz, ich dreh noch ’ne Runde, ja?

Danü: Wieso parkt der denn nicht auf dem Bürgersteig?

CW: Warum ist denn gegenüber vom Büro eine Polizeistation?

Danü: Weg ist er. Das kann dauern.

CW: Jetzt bin ich zum dritten Mal auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die gerade auch eine Großbaustelle ist, weil hier eine Metrobus-Linie entsteht. Die Busse bekommen eine eigene Spur und müssen sich nicht mehr durch den Stau quälen. Weiter im Norden der Stadt gibt es so etwas schon, und die Fahrtzeit von Palermo nach Liniers ist um 30 Prozent gesunken. Steht in der Zeitung. Eigentlich sollte man die Fahrscheine nicht mehr beim Fahrer, sondern draußen am Automaten kaufen können, aber das dauert noch ein bisschen. Auch das versprochene W-Lan im Bus lässt auf sich warten.

Danü: »Riesenscheiße.« (SMS von CW, 8.25 Uhr) Ich kann leider nicht antworten, weil auf meinem Handy kein Guthaben ist. Ich bedauere das nicht im Geringsten.

CW: Mann, ich wollte um 13 Uhr in Mar del Plata sein. Das schaffen wir doch nie. Von Buenos Aires zum größten und bekanntesten Badeort Argentiniens sind es mehr als 400 Kilometer, und nirgends darf man schneller als 130 fahren. Außerdem ist Danü Schweizer, das ist doch ein komplett verweichlichter Stamm, nie einen Krieg mitgemacht und verloren, nie hungern müssen. Danü wird also viele Pausen brauchen.

Danü: Ich bin Schweizer – und Argentinier. Und denke: Ach, was würde ich für das Cliché der Geduld geben. Die werde ich wohl brauchen.

CW: So, jetzt parke ich auf dem Bürgersteig; der Polizist auf der anderen Straßenseite guckt – und sagt nichts. Ich habe in Argentinien wirklich noch keine schlechten Erfahrungen mit Polizisten gemacht. Ich bin natürlich auch ein unauffälliger Verkehrsteilnehmer, ich blinke wenig und hupe viel, ich springe von Lücke zu Lücke und parke, wo ich will. Meine große Spezialität: als Letzter die Ampel schaffen und dann die Kreuzung blockieren.

Danü: Respekt, CW hat tatsächlich die drei Kindersitze ausgebaut. Dann laden wir mal ein.

CW: Das sind ja mindestens 28 mittelgroße Bücherkartons.

Danü: Oben stehen auch noch ein paar.

CW: Ich bereite schon mal den Mate zu. Gestern habe ich übrigens noch eine Thermoskanne gekauft. Die alte Kanne, aus Plastik, hatte ich neulich in Córdoba verloren oder vergessen, war sowieso schon etwas undicht. Jetzt habe ich eine aus Metall, Industria Argentina, die garantiert nicht tropft. Ich weiß gar nicht, wie Danü hier noch sitzen will. Die Karre hängt auch ganz schön durch. Vielleicht sollte ich ein bisschen Mate-Wasser ablassen?

Danü: Dann mal los. Ei, ist das eng hier. Damals im Mutterleib war’s geräumiger. Mate?

CW: Gerne.

Danü: Die Kanne ist undicht und tropft.

Zwei Stunden später

CW: Mit Danü kann man wunderbar schweigen oder über den Sinn von Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert reden. Aber ich muss sagen: Die Kommunikation mit meinem Reisebegleiter Herrn T. hatte ein höheres Niveau.

Herr T.: Boludo, wir müssen den letzten Teil unseres BolivienReiseberichts noch fertigmachen!

CW: Du bist doch nicht aus dem Arsch gekommen!

Danü: Wie bitte?

CW: Hast du das gehört?

Danü: Was gehört?

Wüstentanz

CW: Mit Herrn T. konnte man herrlich tratschen, wirklich herrlich getratscht haben wir miteinander. Massenweise Gerüchte konnte ich in Umlauf bringen – die meisten davon über mich. Zum Beispiel hatte ich ja eine Reihe von Affären mit südamerikanischen Supermodels.

Danü: Auf mich kannst du dich verlassen, ich schweige wie ein Grab.

CW: Siehst du, lieber Leser! Und wenn ich zum Beispiel frage, ob Danü den und den auch so schrecklich finde oder die und die auch komplett nervig, dann sagt er …

Danü: … ich bin die Schweiz, ich bin neutral.

CW: Noch da, Herr T.?

Danü: Ich möchte bitte bald austreten. Wir trinken ja jetzt schon zwei Stunden Mate; erstens zieht CW ganz schön was weg, zweitens treibt das Zeug ohnehin. Als Naturbursche, der ich als Schweizer natürlich bin, verbringe ich übrigens gerne viel Zeit in den Parks von Buenos Aires und schaue jedes Mal wehmütig den Argentiniern zu, wie sie Stunden lang zusammensitzen und Mate schlürfen. Ich müsste schon nach 40 Minuten das erste Mal in die Büsche.

CW: Pfff, Schweizer!

Danü: CW leidet unter Vergesslichkeit. Oder er ist ein Lügner. Vielleicht muss er auch angeben, um sich argentinisch zu fühlen. Denn seinetwegen – genauer gesagt: seiner Blase wegen – haben wir schon dreimal anhalten müssen.

CW: Nein, ich kann kein Angeber sein, ich bin viel zu bescheiden. Ich bin ja der bescheidenste Mensch der Welt.

Danü: Die Landschaft in der Provinz Buenos Aires

CW: … die fast so groß ist wie Deutschland …

Danü: … bietet aber wirklich gar keine Reize. Wir fahren jetzt seit drei Stunden geradeaus, und links ist genauso viel oder genauso wenig wie rechts. Felder mit Kühen darauf. Das Spektakulärste waren bisher die drei Autos an der Tankstelle eben. Sie standen nebeneinander an den Zapfsäulen, und alle hatten die Motorhaube oben. So standen sie 15 Minuten lang, und CW kam nicht dran zum Tanken. Dann wurden sie nacheinander mit weiter geöffneter Motorhaube auf den Parkplatz gefahren.

Reisebericht 2

CW: Als wir einmal gemeinsam durch Mecklenburg-Vorpommern fuhren, hat mir Danü erzählt, dass er schier wahnsinnig werde, weil er überall den Horizont sehe. In der Schweiz gebe es keinen Horizont. Nur Berge. Ich glaube, ich muss ihm jetzt was bieten.

Danü: Mal wieder eine Mautstation. Auf argentinischen Autobahnen muss man nämlich hin und wieder bezahlen. Es gibt Schranken, die sich erst öffnen, wenn man dem Schrankenwärter das Geld gegeben hat. Manchmal, so wie jetzt, treffen zu viele Autos auf zu wenige Schrankenwärter. Dann staut es sich. Es staut sich ein bisschen. Ein Stau ist es eigentlich nicht. Es stehen vor jeder Schranke fünf Autos.

CW: Aufpassen, Danü! Ich zeig dir, was Argentinien ist.

Danü: CW hupt. Er hupt wie ein Irrer. Mehrmals. Staccato. Es ist zwei Sekunden ruhig, und dann hupen ringsum mindestens zehn andere Irre. CW macht auch wieder mit. Sie hören nicht auf.

CW: Kann nicht sprechen. Muss hupen.

Danü: Die Schranken gehen hoch. Alle dürfen durchfahren, ohne zu bezahlen. CW brüllt: »AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA!«

CW: Das, mein lieber Danü, das ist Argentinien!

Danü: Im Durchfahren sieht man am Schrankenwärterhäuschen übrigens ein Schild: »Bitte nicht hupen!«

Fortsetzung folgt

Urlaubsreife Deutsche

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Besuch aus Deutschland fahre ich immer zuerst in dieses Parkhaus im Microcentro von Buenos Aires. So stelle ich klar: Argentinien ist anders. Die Deutschen haben diesen Verdacht freilich schon auf den 30 Kilometern vom Flughafen Ezeiza ins Zentrum: Gehupe auf der Autobahn, viele Spurwechsel, Hineindrängeln in die kleinste Lücke, ohne jemals zu blinken – dass Argentinien anders ist, können Argentinier schlecht verheimlichen.

Wenn wir diese engen und scheinbar endlosen Einbahnstraßen ohne Ampeln entlangfahren, fragt mein Besuch: »Sag mal, wie ist das mit der Vorfahrt eigentlich?« Ja, so etwas interessiert Deutsche. Mein Eindruck nach acht Monaten in Buenos Aires: Nein, Argentinier interessiert so etwas überhaupt nicht.

In Deutschland wird an Kreuzungen ohne Ampel und Verkehrsschilder rechts vor links praktiziert. Wir kriegen das erstaunlich gut hin, oder? Schwierig wird’s allerdings, wenn aus allen vier Richtungen jeweils ein Auto gleichzeitig an die Kreuzung rollt und somit keiner mehr rechts vor links ist. Das Ergebnis ist, dass sich vier Deutsche in vier Autos sehr lange angucken und niemand losfahren will. Es muss erst jemand gefunden werden, und das dauert. Man muss es gesehen oder noch besser mitgemacht haben, um es zu glauben.

Gewiss, es ist eine gewagte These, aber wenn sich jemand fragt, warum wir Deutschen 120 Jahre länger als die Franzosen gebraucht haben, um uns von der Monarchie zu befreien und endlich eine erste Republik zu gründen: Tja, siehe oben. Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), der Vater der Sowjetunion, hat das eleganter ausgedrückt, als er sagte: »Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!« Aber gemeint hat er im Prinzip das Gleiche. Wir sind mehr Völkchen als Volk.

Mit meinem Besuch fahre ich also noch am ersten Tag in eines dieser engen Parkhäuser, wo man den Autoschlüssel zurücklässt, damit der Wagen umgeparkt werden kann, wenn’s sein muss. Für meine Eltern war schon das zu viel: die Vorstellung, dass ein Fremder den Schlüssel hat und ihn vielleicht sogar benutzt, um eine Runde zu drehen.

Dann kam der Parkwächter, ein erstklassiger Auftritt: Er ließ sich den Autoschlüssel zuwerfen, nickte und warf ihn im Weggehen auf die Frontscheibe. Zwei Stunden lag er zwischen den Scheibenwischern. Danach waren meine Eltern abgehärtet und konnten ihren Urlaub genießen. Aber den Parkwächter hätten sie am liebsten verhaften lassen.

(Eine kürzere Variante dieser Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Der überfragte Pablo

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo ist mein Wirklichkeitserklärer. Wenn ich etwas über Argentinien oder Buenos Aires wissen will, gehe ich nicht mehr zu Google, sondern zu Pablo. Die Trefferquote ist in Ordnung. Manchmal fühle ich mich sogar wie ein Argentinier. Das politische Geschehen zum Beispiel kann mir Pablo exakt so erklären, dass ich es nicht verstehe. Klar, er hat auch Wissenslücken. Ich habe ihn mal nach Bettina Wulffs Vergangenheit gefragt, das war eher nicht so ergiebig. Und ja, manche Antwort scheint mir ein bisschen kurz geraten. Andererseits, Freunde, ich schreibe Kolumnen, in meinem Scherzzeugkasten ist kein Platz für Komplexität.

Neulich sollte mir Pablo sagen, warum sich der Verkehr in Buenos Aires an vielen Stellen staut. Ich weiß nicht, welche Antwort ich mir erhofft hatte – jedenfalls nicht die, die mir Pablo gab. Er sagte: »Viele Autos.« Danach habe ich erst mal mich selbst gefragt, ich wollte von mir wissen, ob ich vielleicht nerve. Meine Antwort an mich war: Nein.

Manchen Fragen kann ich nun einmal nicht ausweichen. Wenn ich in Buenos Aires unterwegs bin, sehe ich einen Supermarkt nach dem anderen, und alle sind in chinesischer Hand. Der Fleischverkäufer, die Kassiererin, der Mann an der Obstwaage – alle Chinesen. Und sie sprechen das Castellano, das südamerikanische Spanisch, besser als ich. Dazu gibt es noch viele chinesische Restaurants in Buenos Aires. Ich sehe überall Chinesen. Warum? So etwas beschäftigt mich.

Pablo sagte: »Viele Chinesen.«
»Hmmh.«
»Das ist die Antwort, Nachbar. Es gibt einfach viele Chinesen. Einskommairgendwas Milliarden.«

Strichmännchen

Eine andere Frage, die mich verfolgt, ist: Warum fahren Argentinier zwischen zwei Spuren und machen so das Überholen unmöglich? Ich muss zweimal pro Woche in die Avenida Rivadavia, die angeblich längste Straße der Welt. Meine Navigation prophezeit mir die Ankunft in 16 Minuten. Die erste Viertelstunde verbringe ich damit, mich über die Leute zu erregen, die hupen, obwohl das überhaupt nichts bringt. Danach beginnen die Kinder, mich unter Druck zu setzen. Wenn sich nichts bewegt, obwohl die Ampel grün ist, rufen sie: »Hup doch mal!«

Inzwischen gelingt es mir, diesen Satz fünfmal zu ignorieren.

In der rechten Spur schleichen die Taxifahrer auf der Suche nach Kunden, in der linken Spur wird zweitereihegeparkt, um schnell etwas einzukaufen, wobei auch das nicht schnell geht. Man biegt ab, ohne zu blinken, und schaltet das Warnblinklicht ein, bevor man hält. Ich könnte rückwärts laufen und wäre nicht langsamer. Nach 35, 40 Minuten brauche ich die Kinder nicht mehr als Anstifter. Ich lasse die Hupe kaum noch los. Und soll mir bloß keiner sagen, das bringe nichts. Es bringt was.

Dass Argentinier auf zwei Spuren fahren, würde mich wahrscheinlicher weniger beschäftigen, wenn’s nicht ansteckend wäre.

Ich habe zunächst Señor G. gefragt, einen Paraguayer, den ich zufällig getroffen hatte und der schon lange in Buenos Aires lebt. Er schien sich über meine Frage sehr zu freuen. Er hat jedenfalls weit ausgeholt und mir zwanzig Minuten lang erklärt, warum der Argentinier zu den eher unsympathischen Wesen auf dem Kontinent gehöre. Weitere zehn Minuten hat er sich abfällig über Porteños, die Hauptstädter, geäußert.

Um sowohl das Verhältnis Argentiniens zu mir als auch zu Paraguay nicht zu belasten, halte ich es für sinnvoll, den Monolog zu zensieren. Zitiert werden dürfen folgende zwei Sätze von Señor G.: »Argentinier wollen sich immer, in allen Lebenslagen, alle Optionen offenhalten. Sie sind Opportunisten.«

Mit diesem Recherchematerial habe ich mich zu Pablo begeben. Um den erhobenen Datensatz, also die Antworten, vergleichen zu können, achtete ich darauf, ihm die Frage genau so zu stellen, wie ich sie Señor G. gestellt hatte: gleiche Wörter, gleicher Tonfall.

»Du meinst diese Linien auf der Straße, diese weißen Striche, ja?«, fragte Pablo.
»Bitte beantworte nur meine Frage.«
»Das sind doch bloß Empfehlungen.«

Und so wie gefahren wird, wird auch gesprochen. Ich spreche ja nach wie vor ein sehr sauberes Oberschichtenspanisch. Ich habe zwar den Wortschatz eines Zweijährigen, halte mich aber an alle grammatischen Regeln. Über das Nichts kann ich druckreif reden.

In der Spanischschule habe ich gelernt, dass der Porteño das s vor Konsonanten und auch am Ende eines Wortes oft verschluckt, vernuschelt und verschweigt. Ich höre das auch die ganze Zeit. Ich gehe ins Café und bestelle drei Croissants. Ich sage: »Tres medialunas!«
Antwort des Kellners: »Bueno. Tre medialuna.«

Kein Porteño versteht, was ich mit dem fehlenden S von ihm will. Pablo sagt jedes Mal: »Weiß echt nicht, was du meinst, Krietoff.«

 

Freie Gabel auf der Straße des Todes

von CHRISTOPH WESEMANN

Provinz Corrientes, Kilometer 452 der Ruta Naci0nal 14, einer Straße mit fürchterlichem Spitznamen. Buenos Aires ist eine Weltreise oder eben 650 Kilometer entfernt. Neben dem Sitz steht griffbereit der Mate, der – wie Argentinier glauben – auch den Appetit zügelt. Aber vor diesem Hunger, der einen rechts und links Rinder sehen lässt, wo keine sind, kapituliert er.

Zeit für eine Rast in der Parrilla.

Der Asador, der Grillmeister, verspricht in seinem Zelt »tenedor libre«, also »freie Gabel«, die argentinische Variante des »all you can eat«. Es gibt Chorizos, diese groben Würste, natürlich carne und pollo. Immer wieder köstlich, dass der Argentinier zwischen »Fleisch« und »Huhn« unterscheidet. Fleisch kommt nur vom Rind. Huhn ist kein Fleisch, sondern – Huhn.

Unser Asador hat inzwischen den Tisch gedeckt und die Getränke gebracht. Er bietet auch Salat an und verspricht eine Nachspeise. Aber was ist bloß mit den Kindern los? Sie verlangen Servietten – und bekommen eine Küchenrolle.

Mit dem Besen verscheucht der Asador die zwölf Hunde (geschätzt). Die 55 Fliegen (ebenfalls geschätzt), die auf dem noch rohen Fleisch vor dem Grill Starten und Landen üben, sind deutlich hartnäckiger. Die Grillstube wirkt ein bisschen schmuddelig und staubig, aber dass jetzt eine argentinische Großfamilie einkehrt, ist bestimmt ein gutes Zeichen. Die deutsche Großfamilie empfängt es wie ein Gütesiegel vom Hygieneamt.

Eine Stunde später wird man die argentinische Großfamilie an einer Tankstelle wiedersehen und feststellen, dass es eine uruguyaische Großfamilie ist. Das Oberhaupt wird sagen: »Uruguay ist das bombastischste Land der Welt. Und Uruguayer sind die geilsten Typen auf Gottes Erde.« Da muss man natürlich widersprechen. »Hör mal! Argentinien: der tollste Fußball, das beste Fleisch, die schönsten Frauen, die breiteste Straße der Welt und die längste Straße, der höchste Berg Südamerikas. Und jetzt kommst du, mein Freund.« Er fragt, in wie vielen Etappen man die 1300 Kilometer vom Norden in die Hauptstadt zurückzulegen gedenkt. Man flüstert: drei Tage. Riesengelächter. Brrrrrruuuuuuuuaaarrrrrr. Er macht‘s in einem Ritt, er fährt sowieso wie der Teufel höchstpersönlich. »Meine Frau schimpft immer mit mir, wenn ich 200 fahre«, sagt er, »aber sie schimpft auch, wenn ich 10 fahre. Also fahre ich 200.«

Noch zweimal wird er einen überholen und Sekunden später am Horizont verschwunden sein. Er muss wohl öfter halten, sei es, dass den Kindern von der Raserei schlecht wird, sei es, dass sein weißer Pickup zu viel Sprit schluckt. Die eigene Rennstrategie ist: ein gleichmäßiges Tempo von 140, zwanzig mehr als erlaubt, und wenige Boxenstopps.

Der Asador bringt das Fleisch. »Woher seid ihr?«, fragt er. »Frankreich?«
Also, bitte.
»Beckenbauer! Äh, wie nennt ihr ihn: Kaiser?«
Fußballwissen wird abgefragt. Daniel Passarella, den Namen schon mal gehört? Sag mal, wo spielt Carlos Tévez noch mal? Ach ja, stimmt, ein guter Stürmer. Warum ist Messi, als er 13 war, mit seiner Familie nach Barcelona ausgewandert? Unglaublich.

Irgendwas schlägt auf den Magen. Das Fleisch? Die Fliegen? Die Musik aus dem Lieferwagen draußen? Auf die Zunge und die Eingeweide verzichtet man jetzt doch. Und um den Asador nicht zu beleidigen, reicht man die unverzehrten Steakreste an die Hunde unterm Tisch weiter.

Die Toilette ist auf dem Hof. Damals, nach dem Mauerfall, wusste man nicht, wie das Westwasser aus dem Hahn kommt, weil es nichts zum Drehen gab. So ist das hier auch. Man fuchtelt mit den Händen herum und hofft auf ein Wunder. Tja, dann eben nicht.

Der Flan als Nachspeise schmeckt trotzdem.
»Von der Señora zubereitet?«
»Jaja, von der Mutter vom Dickerchen da.«

Der Junge, vielleicht 17 Jahre alt, hat die Statur eines Gewichthebers, er sieht aus, als hätte man Manfred Nerlinger den Schädel abgenommen und einen Indianerkopf raufgeschraubt. Seit einer halben Stunde schleppt er Kisten aus dem Transporter vor der Parrilla, meist drei auf einmal, ohne dass es ihn anstrengt.

Und dann geht es zurück auf die Ruta 14. Die Straße entlang der Grenzen zu Uruguay und Brasilien beginnt in der Provinz Entre Ríos, führt durch die Provinz Corrientes und endet nach 1127 Kilometern in der Provinz Misiones kurz vor den Wasserfällen von Iguazú hoch im Norden. Ruta 14 heißt: oft nur eine Spur in jede Richtung, viele Berge, viele Lastwagen, viele Baustellen, viele Polizeikontrollen, viele Unfälle.

Eine Strecke mit einem fürchterlichen Spitznamen: »ruta de la muerte«, »Straße des Todes«.

 

Unter Dopingverdacht

von CHRISTOPH WESEMANN

Auf der Autopista (Ruta 9) gestern Abend:


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)