Posts Tagged ‘Protest’

Frisches Angeberwissen (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

Erster Teil

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Politiker und Geld

  • 830 000 Pesos bezahlte der Gouverneur der Provinz Misiones, Mauricio Closs, für 200 000 »Gefällt mir«-Klicks bei Facebook und 200 000 weitere Klicks über Google. Jeder Facebook-Fan kostete somit umgerechnet 1,93 Pesos. Das Geld dafür bewilligte sich der Politiker aus dem Haushalt über das Dekret 766/14.

Kicillof

  • Seit 2013 hat La Cámpora, die Nachwuchsorganisation des Kirchnerismus, fünf neue Peso-Millionäre, darunter ist der Wirtschaftsminister Axel Kicillof. Der mutmaßlich wohlhabendste Camporist ist Mariano Recalde, Präsident der staatlichen Fluglinie Aerolíneas Argentinas. Sein Privatvermögen gibt er mit 6,2 Millionen Pesos an. Er besitzt unter anderem zwei Wohnungen, ein Auto und Aktien einer Immobiliengesellschaft. Sein durchschnittlicher Monatsverdienst beträgt nach eigenen Angaben 150 000 Pesos. Nationalabgeordnete, Senatoren, Minister und andere Funktionäre des Staates müssen der Antikorruptionsbehörde, die zum Justizministerium gehört, alljährlich ihre Vermögensverhältnisse unter eidesstaatlicher Versicherung offenlegen. (Was nicht bedeutet, dass die Angaben tatsächlich stimmen.) Einsicht in die Dokumente kann − unter anderem von Journalisten − beantragt werden.

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Schuld und Sühne

Die Macht von La Cámpora

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Protest: Straßenblockaden und -sperrungen (piquetes) in Argentinien

Straßensperren sind in Argentinien eine beliebte Protestform, um Politik und Gesellschaft auf Missstände − Kriminalität, häufige Stromausfälle im Viertel, Armut − aufmerksam zu machen. Die Zahl der Blockaden ist damit auch ein Hinweis auf die wirtschaftlichen und politischen Zustände im Land.

[visualizer id=“6117″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

[visualizer id=“6152″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

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Verkehr

  • Eine Million Fahrzeuge sind in Buenos Aires nach Angaben des Verkehrssekretariats angemeldet. An einem Werktag kommen durchschnittlich weitere 1,3 Millionen Fahrzeuge von außerhalb in die Hauptstadt. Es gibt jedoch nur 1,5 Millionen Parkmöglichkeiten.
  • Alle drei Minuten wird in Buenos Aires ein falsch geparktes Auto abgeschleppt. Macht im Monat 14 000 Fahrzeuge. 2013 wurden  laut dem Unterstaatssekretaritat für Transport an 298 Tagen 108 772 Autos abgeschleppt.
  • Zuständig sind dafür seit 2001 zwei Firmen: Dakota SA im Norden der Hauptstadt, BDR Saicfi im Süden. Für das Abschleppen berechnen sie 450 Pesos. (Hinzu kommt eine Strafe von 640 Pesos.) Sie selbst zahlen an die Stadt Buenos Aires monatlich jeweils nur 30 000 Pesos − einen Betrag, den sie nach weniger als einem Tag − oder umgerechnet 66,66 Fahrzeugen − bereits wieder eingenommen haben. Monat für Monat sollen 30 Millionen Pesos zusammenkommen.
  • Dass die beiden Firmen auch für das Kennzeichnen der Parkverbote − Schilder und gelb angepinselte Bordsteine − zuständig sind, sorgt für Unmut. Es heißt, die Markierungen seien schlecht zu erkennen oder würden sogar erst angemalt, wenn das Auto bereits parkt. Überdies seien Beschwerden − auch über Beschädigungen − zwecklos. Im Film »Relatos Salvajes« ärgert sich ein Mann (gespielt von Ricardo Darín) sosehr über das aus seiner Sicht ungerechtfertigte Entfernen seines Autos, dass er es noch einmal falsch parkt − diesmal aber mit einer Bombe im Kofferraum, die später auf dem Parkplatz der Abschleppfirma explodiert. Weil der Mann Sprengstoffexperte ist, gibt es keine Verletzten. Das Volk hat einen Helden: »Bombita«, das Bömbchen.

 

  • Taxifahren in Buenos Aires: Der Startpreis beträgt 14,30 Pesos, alle 200 Meter (oder nach jeder Minute Stillstand) werden 1,43 Pesos berechnet. Zwischen 22 und 6 Uhr betragen die Preise 17,10 Pesos und 1,71. (Stand: September 2014) In den vergangenen fünf Jahren hat sich das Taxifahren um 200 Prozent verteuert. Im Oktober 2010 etwa standen zu Beginn 5,20 Pesos auf dem Taxameter, und 200 Meter kosteten 0,52 Pesos. Acht von zehn Taxis sind offiziellen Angaben zufolge klimatisiert.

Taxis

  • Jährlich werden in Argentinien 700 000 Motorräder hergestellt; 2003 waren es noch 35 000 − eine für viele Länder Lateinamerikas typische Entwicklung. Pro Tag werden allein in Buenos Aires 500 Motorräder angemeldet. 5,8 Millionen Motorräder sind in Argentinien registriert − 1,7 Millionen davon in der Provinz Buenos Aires. Argentinier fürchten derzeit kaum etwas mehr als die »motochorros« − überwiegend junge und oft bewaffnete Männer, die vom Motorrad aus Überfälle verüben.

Unfall

  • 86 Menschen starben im Jahr 2013 im Straßenverkehr der Hauptstadt − neun mehr als 2012. Statistisch gesehen kam damit jeden vierten Tag ein Verkehrsteilnehmer ums Leben. Insgesamt gab es 10 124 (registrierte) Unfälle − pro Tag 27,7 − mit 10 621 Verletzten. 63 Prozent der Toten und 70 Prozent der Verletzten waren Männer. Fast die Hälfte der Totenopfer und ein Drittel der Verletzten waren zwischen 20 und 34 Jahre alt. Von den 86 Menschen, die 2013 im Verkehr starben, waren 39 zu Fuß unterwegs (45 Prozent), 23 mit dem Motorrad (29 Prozent) und 16 mit dem Auto (19 Prozent). Verletzt wurden am häufigsten Motorradfahrer (4199; 40 Prozent).
  • Die meisten Toten auf den Straßen Buenos Aires‘ gab es 2007: 138.
  • Landesweit starben 2013 5187 Menschen, im Schnitt 14 pro Tag. In Deutschland, das doppelt so viele Einwohner hat und einen viermal so hohen Kraftfahrzeugbestand, waren es 3340.

[visualizer id=“6163″] Quelle: Ifa; zitiert nach Clarín.

Gänsehaut unterm Brustfell

von CHRISTOPH WESEMANN

Ist das nun ein gutes Zeichen? Der Protest gegen die Politik der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird professioneller und organisierter – ein bisschen jedenfalls. Gewiss, es gibt noch immer keine Tribüne, auf der sich ein Gewerkschafter heiser schreien oder ein Kirchenmann predigen könnte. Wieder wehen keine Parteifahnen. Die Suche nach einem charismatischen Gegenspieler zur Amtsinhaberin ist bislang erfolglos geblieben, so wie die Opposition insgesamt nicht genug glänzt, als dass der Volkszorn sie unbedingt dabeihaben müsste. Und die Plakate, die sind nach wie vor handgemalt. Manche Tafel wird noch bekritzelt, als am Donnerstagabend der 8N-Protest längst begonnen hat. Vieles ist noch immer wie am 13. September, als das Land den größten Wutausbruch seit vier Jahren erlebte.

Aber die fliegenden Händler sind da. Sie verkaufen die argentinische Fahne, andere blauweißblaue Winkelemente und Getränke. Und irgendwo auf der Avenida 9 de Julio, der angeblich breitesten Straße der Welt, steht auch ein Grill. Es gibt Choripán, also grobe Wurst im Brot.

Eine halbe Million soll es sein, die sich um den Obelisken zum kollektiven Topfschlagen versammelt hat. Nach Angaben der Stadt, die freilich von Mauricio Macri regiert wird, einem Gegner der Präsidentin, sind 700 000 Porteños auf der Straße, um mit Kochtöpfen und Pfannen gegen Korruption, Inflation, Kriminalität und eine dritte Amtszeit Kirchners Lärm zu machen. Auch vor der Haustür der Präsidentin ist es nicht ruhig. Im noblen Stadtviertel Olivos, wo Cristina Kirchner wohnt, haben sich 30 000 Menschen versammelt. Und in den Provinzen? Auch dort ist was los, mal mehr, mal weniger. Córdoba, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, meldet 40 000 Teilnehmer, Río Grande, die größte Stadt von Feuerland, »bis 100«.

Der Hauptstadtbürgermeister Macri behauptet, es seien landesweit zwei Millionen gewesen. Diese Zahl mag übertrieben sein. Wer weiß das schon? Aber die Wut auf Cristina und ihre Leute ist längst Massenware. Die Zeitung La Nación spricht heute von einem »historischen Protest«. Clarín, die meistgelesene Zeitung des Landes, titelt: »Gigantischer Protest gegen die Regierung«. Auf 17 Seiten widmet sich das Blatt dem Thema des Tages. Und ein bisschen Poesie gibt’s auch. Clarín schwärmt von der »Nacht der kurzen Hosen«.

Oh ja, es ist warm, fast heiß am späten Donnerstag. Und viel Haut liegt bloß. Mancher aber hat es wohl nach Feierabend nicht mehr nach Hause geschafft, um sich umzuziehen. Ärzte und Krankenschwestern sind noch in Dienstkleidung unterwegs.

Apropos viel Haut: Vor der Fußball-WM 2010 verkündete der pummelige Nationaltrainer Diego Maradona, er werde nackt den Obelisken umrunden, wenn er mit seiner Mannschaft den Titel hole. Die Welt sollte noch heute dankbar sein, dass es anders gekommen ist und ihr dieser Anblick erspart blieb. Aber der 1936 errichtete Obelisk, der die wichtigsten Daten der Stadt auf seinen Seiten trägt, ist ein mythischer Ort. Die Triumphe der Nationalmannschaft wurden hier gefeiert. Und Evita Perón ließ sich von Millionen bejubeln, als sie 1951 Vizepräsidentin werden sollte und vielleicht auch wollte, aber nicht durfte. Die Massen feierten die Nationalheilige am 67 Meter hohen Wahrzeichen – und Juan Perón, der Präsident, war nur ein Statist und schaute deshalb finster. Er hatte doch Evita erschaffen! Er hatte doch diese unbedeutende Schauspielerin aus Los Toldos geheiratet und zur Primera Dama gemacht.

Ich habe in den vergangenen Wochen zwei Romane des großen argentinischen Erzählers Tomás Eloy Martínez gelesen, erst seinen Welterfolg »Santa Evita«, dann »Der General findet keine Ruhe«. Martínez berichtet wieder und wieder von großen Aufmärschen. Seitdem frage ich mich, ob Argentinier leichter zu mobilisieren sind als etwa Europäer, Deutsche sowieso. Natürlich steht hier auch mehr auf dem Spiel, ist der eigene Wohlstand gefährdeter, sind die Kontinuitäten schwächer. Argentinien hat in 53 Jahren – zwischen 1930 und 1983 – sechs Staatsstreiche erlebt, auch das prägt und macht aufmerksamer, wenn sich jemand mal wieder am Land vergreift und es wie einen Familienbetrieb zu führen versucht.

Damit die Präsidentin es auch versteht, erklingt am Donnerstag wieder und wieder die argentinische Version vom 89er »Wir sind das Volk!« – natürlich nicht gerufen, sondern gesungen: »Oleeleeee, olala! Si este no es el pueblo/El pueblo dónde está?« – »Wenn das hier nicht das Volk ist, wo ist das Volk denn dann?«

 

Und dann die Nationalhymne, vorgetragen vom Großen Gemischten Chor Buenos Aires: Männer haben Tränen in den Augen und bekommen eine Gänsehaut. Die besten Männer der Welt! Argentinische Männer! Männer mit so viel Brustfell, dass es sich vom Hemd nicht einsperren lässt und immer auf einen offenen Knopf besteht.

Wie ist das nun mit dem professioneller gewordenen Protest? Gemach. Noch um halb neun – 30 Minuten nach Beginn des Protestes – haben sich Autos über die Avenida Corrientes in Richtung Obelisk gequält. Sie fuhren mitten durch den Aufmarsch, obwohl der schon seit Wochen angekündigt war. Erst dann sperrten zwei Polizisten die Zufahrt. Rund um den Obelisken war indes gar keine Polizei zu sehen. Es blieb, wie der Argentinier sagt, »bien tranquilo«, angenehm ruhig. Besondere Vorkommnisse: keine.

(Ich habe gerade ein paar Probleme mit dem Computer und bastele deshalb nach und nach Bilder und ein Gesangsstück rein. Dauert ein bisschen.)

 

Eine neue Runde Topfschlagen

von CHRISTOPH WESEMANN

Wichtiger Tag heute: Wir haben 8N, und das Kürzel meint mehr als den 8. November, es steht auch für einen weiteren Aufstand der Mittelschicht. Im ganzen Land wird es am Abend Proteste gegen die Regierung geben. Man knüpft an die Cacerolazos vom 13. September an, als allein in Buenos Aires Hunderttausend auf der Straße waren, um mit Kochtöpfen und Pfannen Lärm zu machen. Diesmal könnten es noch mehr werden, zumal optimales Demowetter ist: Der argentinische Frühling spielt schon mal Sommer und hat die Heizung aufgedreht, vorerst noch auf mittlere Stufe, also 33 Grad, was hier als humane Temperatur empfunden wird. Die Hitze geht übrigens auch nicht schlafen.

Protestiert wird gegen allerlei, es hat sich offenbar ein bisschen was angesammelt: Korruption, Kriminalität, Inflation, eine mögliche Verfassungsreform, die es Präsidentin Cristina Kirchner erlauben würde, 2015 ein drittes Mal zu kandidieren, und die Wirtschaftspolitik insgesamt, die zunehmend auf Kontrolle und Importbeschränkungen setzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht Argentinien schon »auf dem Weg in die Planwirtschaft«.

Und dann ist da noch der 7. Dezember, 7D genannt. Bis zu diesem Tag hat die Clarín-Gruppe noch Zeit, sich von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern zu trennen. So will es ein vor drei Jahren erlassenes Mediengesetz, das Meinungsmonopole verhindern soll. Nun ist Clarín einerseits der finanzstärkste Medienkonzern des Landes und hat anderseits auch die lautesten Journalisten, wenn es darum geht, die Regierung zu kritisieren.

Es ist kurios. Clarín will, was die Regierung nicht will: alles behalten. Und die Regierung will, was Clarín nicht will: viel wegnehmen. Und beide behaupten, dasselbe zu wollen: mehr Meinungsfreiheit und mehr Demokratie. Das ist Argentinien.

Protestiert wird übrigens auch vor den argentinischen Botschaften und Konsulaten – wie hier in Sydney.

 

Und keiner nimmt den Feuerlöscher

von CHRISTOPH WESEMANN

Entweder sind sie sich ihrer Sache sehr sicher, oder sie sind übergeschnappt. Anders lässt sich die Reaktion der Regierung auf die Proteste am vergangenen Donnerstag nicht erklären. Da gingen allein in der Hauptstadt Buenos Aires zwischen 50 000 und 100 000 Menschen auf die Straße, um sich über die Politik der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und vor allem deren Herrschaftsstil zu beklagen. »Se va a acabar/se va a acabar/la dictadura de los K«, sangen sie, als wäre es schon beschlossen. »Sie wird enden, die Diktatur der Kirchneristen.«

In vielen anderen Städten dieses großen Landes wurde, angesteckt von den sonst nicht gerade geliebten Hauptstädtern, ebenfalls protestiert. In Mendoza sollen es nach Polizeiangaben 10 000 gewesen sein, in Córdoba 15 000. Es sind die größten Kundgebungen seit vier Jahren, und die Bürger waren nicht etwa einem Aufruf von Gewerkschaften oder Parteien gefolgt. Im Gegenteil: Die Opposition hat kurz vor Abmarsch Unterstützung signalisieren dürfen, gerade noch rechtzeitig, um sich nicht komplett lächerlich zu machen. Leute ohne Parteibuch hatten das kollektive Topfschlagen (cacerolazo) selbst und spontan organisiert. So etwas gelingt nur, wenn sich eine Menge Wut aufgestaut hat, wenn viele Fäuste vom dauernden Ballen schon schmerzen.

Und die Regierung? Sie reagiert so, wie es jedem vernünftigen Krisenmanagement widerspricht. Sie nimmt die Proteste nicht ernst, sondern macht sie lächerlich. Sie versucht nicht, das erste Feuerchen zu löschen, sondern legt selbst noch ein paar neue Brände. So verurteilte Kabinettschef Abal Medina die Protestierer als Leute, denen es wichtiger ist, was in Miami passiert als in San Juan«. Dass diese vermeintlich schlechten Patrioten wieder und wieder die Hymne gesungen hatten, störte ihn offenkundig nicht. Medina sprach von einer »Minderheit« und rief ihr zu, doch eine Partei zu gründen und Wahlen zu gewinnen. Mehr Arroganz geht kaum. In Juan, einer Stadt im Westen des Landes, hatte Cristina Kirchner am Donnerstagabend – parallel zu den Protesten – übrigens eine Lacostefabrik eröffnet. Die Präsidentin selbst sagte: »Ich werde nicht nervös, und die werden mich auch nicht nervös machen.«

Deutlich schlauer scheinen einige kirchneristische Gouverneure zu sein, auch wenn mancher, dem Lust auf die nächste Präsidentschaft nachgesagt wird, sicher auch die Gelegenheit genutzt hat, die Amtsinhaberin zu ärgern. Francisco Pévez, der die Provinz Mendoza regiert, also eine Art Ministerpräsident ist, nannte die Proteste »zweifellos eine Warnung«. Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, sagte, man müsse »den Menschen mit Respekt und Demut zuhören«.

Entscheidend ist nun, ob es die Unzufriedenen erst einmal bei diesem einen Wutausbruch belassen – oder ob sie wieder auf die Straße gehen. Schlagen sie weiter auf ihre Kochtöpfe, könnte es eine Regierung, die so auf Kritik reagiert, eines Tages hinwegfegen. Wie gesagt: Entweder sind sie sich ihrer Sache sehr sicher, oder sie sind übergeschnappt. Wobei das eine das andere ja nicht unbedingt ausschließt.

Topfschlagen der Tausenden

von CHRISTOPH WESEMANN

(Ich komme gerade vom Topfschlagen, also vom Cacerolazo-Protest gegen die Regierung und die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner auf der Plaza de Mayo. Das wird jetzt ein Schnellschuss. Ich wollte es multimedial aufhübschen, aber es ist spät geworden, und die Technik macht mir Probleme und ich mache der Technik Probleme.)

Cacerolazo

Es sind nicht die Armen, die Abgehängten, die sich am Donnerstagabend auf der Plaza de Mayo zu Tausenden versammelt haben. Wer in Argentinien wenig hat, besitzt doch immerhin etwas: die Gunst der Präsidentin. Cristina Fernández de Kirchner sorgt für sie. Erst gestern hat sie versprochen, dass die staatliche Unterstützung pro Kind um mehr als 25,9 Prozent erhöht wird – von derzeit 270 Peso im Monat auf 340. Verkündet hat sie’s natürlich per Ansprache ans Volk – es war Nummer zwei in diesem Monat und Nummer 18 in diesem Jahr. In den vergangenen drei Jahren hat sie mehr als 50 Reden gehalten, die die staatlichen Radio- und Fernsehsender live übertragen mussten. Ihr Mann Nestor hatte das in vier Jahren übrigens nur zweimal getan. Cristina Kirchner meldet sich spontan zu Wort und lässt das laufende Programm unangekündigt unterbrechen. Darf sie das? Der argentinische Regierungschef, ob männlich oder weiblich, hat dieses Recht. Er soll es aber  behutsam nutzen – für Krisen, Katastrophen und Ereignisse, die das Volk verunsichern oder erschüttern.

Es sind auch nicht die Reichen gekommen. Dass die Reichen am meisten zu verlieren hätten, ist ein weitverbreiteter Irrtum. Reiche gewinnen, deshalb sind sie reich. Gekommen sind die, die etwas besitzen, aber nicht so viel, dass es zu schwer wäre, es ihnen zu nehmen. Es sind die Gutfrisierten und die Gutgekleideten da, viele elegante Männer, noch im Büroanzug mit Krawatte, die Gebildeten, viele Studenten und Schüler, manch vornehme Dame, auch Kinder. Mittelschicht? Man sollte mit dem Begriff vorsichtig sein, weil er zu Vergleichen mit Deutschland verführt, die zwangsläufig hinken, auch, weil Wohlstand hier etwas anderes ist. Aber mir fällt auch gerade kein besserer Begriff ein.

Was eint diese Menschen? Es ist ein Allerlei, eine Art Mischung aus Angst vor dem eigenen Abstieg und der Sorge um das Land. Glaube ich. Ich bin erst zwei Monate hier und taste mich langsam heran an das politische Geschehen. Vieles ist noch angelesen statt schon erlebt. Deshalb halte ich mich auch zurück, in diesem Protest vor dem Präsidentenpalast den Beginn von etwas Größerem zu erkennen. Ja, es waren so viele Leute da, dass die Plaza de Mayo nicht genug Platz für alle bot und die Menge noch die anliegenden Straßen blockierte. Ja, es hat sich etwas entladen. Aber wie viel davon war über Facebook angeleiertes Ich-muss-dabei-sein-Happening? Wie viel Eventprotest? Ich weiß es nicht. Aber dieser große Platz ist ein kleiner Fleck in dieser Stadt und damit auch nur ein winziger Ausschnitt der politischen Wirklichkeit in einem Land, das fast achtmal so groß ist wie Deutschland. Und ihre Anhänger, ja Verehrer hat diese Präsidentin nach wie vor.

Es geht natürlich um die Inflation, die irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent galoppiert und die Löhne auffrisst, es geht um steigende Steuern, aus denen die Präsidentin ihre Wohltaten für die ärmeren Schichten bezahlt, es geht immer auch um Kriminalität. In jedem Wahlkampf der jüngeren Zeit ist innere Sicherheit ein wichtiges Thema gewesen. Die Leute verbarrikadieren sich zu Hause und leben in einer Art Gefängnis. Terrassen und Fenster sind vergittert, die Türen alarmgesichert, Eingänge von Kameras überwacht. Wer es sich leisten kann, zieht gleich in eine »gated community«. Unabhängig davon, wie sicher und unsicher das Leben hier ist – Angst lässt sich nicht einzäunen, nicht wegsperren. Vielleicht wächst das Gefühl der Unsicherheit eher, wenn man in einem Hochsicherheitstrakt lebt.

Der stärkste Kleber, der den Protest der Mittelschicht zusammenhält, scheinen mir aber die Präsidentin selbst und ihre Regierung zu sein. Es ist das Gefühl, dass Politiker regieren, als wäre der Staat ein Familienbetrieb und ihr Privateigentum. Mitglieder der Nachwuchsorganisation »La Cámpora«, angeführt vom Präsidentensohn Máximo, sollen, so hört man, reihenweise in Ministerien einziehen und Schaltstellen besetzen. Jung sind sie, gut ausgebildet und machthungrig.

Man darf nicht vergessen, dass die Kirchners das Land schon fast zehn Jahre regieren: erst Nestor (2003 bis 2007), dann Cristina. Ihre zweite und letzte Amtszeit endet im Herbst 2015. Doch schon jetzt wird diskutiert, ob an der Verfassung geschraubt werden soll, die keine dritte Amtszeit zulässt. Würde die Verfassung geändert, was nicht auszuschließen ist, könnte Kirchner bis 2019 regieren. Argentinien stünde dann 16 Jahre am Stück unter Herrschaft einer Familie. Auch gegen diese Aussicht richtete sich der Protest am Donnerstag. »Cristina, geben Sie das Land zurück«, stand auf einem Plakat. Auf einem anderen: »Finger weg von der Verfassung.«

Der Eindruck ist, dass es die Präsidentin übertreibt – und nicht mehr merkt. Die Kritik an ihren vielen Ansprachen hat sie in einer Ansprache (Nr. 18) am Mittwoch mit Witzchen zu kontern versucht. Auch das ist kein gutes Zeichen. Mit »Clarín« und »La Nación«,  zwei der wichtigsten Zeitungen im Land, befindet sie sich im Krieg. Warum? »Clarín miente.« – »Clarín lügt.«. Eine ältere Dame hatte ein Schild dabei, auf dem stand: »Clarín lügt vielleicht – Cristina ganz sicher.« Es schaukelt sich allmählich hoch. Diese unsäglichen Hitler-Bart-Karrikaturen gibt es inzwischen auch von der argentinischen Präsidentin. Und selbst mit Hugo Chavez, der Venezuela mehr und mehr autoritär regiert, wird sie schon verglichen – auch auf der Plaza de Mayo: »Wir wollen kein Argenzuela, wir wollen Argentinien.«

Ich habe gestaunt, womit man Cacerolazo-Krach machen kann. Es muss gar kein Kochtopf sein. Es reichen Münzen in Plastikflaschen. Es reicht ein Verkehrsschild. Oder der Sperrzaun vor dem Präsidentenpalast. Es wurde viel gesungen und getanzt, gehüpft und geklatscht und gelacht. Es war nie aggressiv. Viele hatten ein Trikot der Nationalmannschaft angezogen, viele auch eine argentinische Fahne mitgebracht. Immer wieder erklang der Ruf: »Argentina! Argentina!«

Im Präsidentenpalast brannte übrigens noch Licht.

Nachtrag: »Clarin« spricht von Tausenden, die im ganzen Land gegen die Regierung protestiert hätten, und zeigt ein paar schöne Cacerolazo-Bilder aus der Luft. Ich hatte ja auch meinen Hubschrauber dabei – aber die Technik.

Pablo, der Russe und eine fernsehsüchtige Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Neulich hat mein Nachbar Pablo geklingelt und mich um einen Kochtopf gebeten. Um genau zu sein, hat er gesagt: »Dodó, rück mal einen Kochtopf raus. Am besten einen großen. Ich will Spaghetti machen. Kriegst du vielleicht auch wieder.«

»Können Sie bitte …«, »Würdest du vielleicht …«, »Ich hätte gern …« – so reden nur Ausländer. Porteños sind Freunde klarer Befehle. Und den Spitznamen hat sich Pablo für mich ausgedacht, weil mein Spanisch angeblich klingt wie das von Dodó, dem Assistenten von »Inspektor Clouseau«. Wenn ihm mein Akzent zu französisch wird, also ungefähr nach jedem dritten Satz, den ich sage, zitiert Pablo den Zeichentrickdetektiv: »¡No digas si, Dodó, di oui!« – »Sag nicht si, Dodó, sag oui.« Er findet das wahnsinnig witzig.

Nur seinen Freunden stellt er mich nicht als Dodó vor. Da bin ich, seit ich ihm erzählt habe, dass ich eine Weile in der Ukraine gelebt hätte, »el ruso«. Klar ist das geografisch und historisch ein wenig ungenau. Aber Europa, und erst recht dessen Osten, liegt auch nicht gerade um die Ecke. Und wie viele Deutsche wiederum können Venezuela von Ecuador unterscheiden?

Vorgestellt werde ich übrigens so:

»Daniel, findest du nicht auch, dass der Russe wie ein Franzose Spanisch spricht?«
»Also wenn du mich fragst, Pablito, schlimmer als Dodó.«
»Das habt ihr doch geprobt, oder?«, frage ich.
Und dann rufen zwei Porteños gemeinsam: »¡No digas si, Dodó, di oui!«

Weil es mit meinem Spanisch nicht schnell genug vorangeht, bin ich dazu übergegangen, die Zeit, die ich schon in Buenos Aires lebe, zu verkürzen, und Wörter, die ich nicht kenne, zu umschreiben. Neulich wusste ich nicht, was »Zitronenpresse« heißt, wollte aber unbedingt eine kaufen.
»Ich brauche so ein Ding, um Saft aus einer Zitrone zu machen«, sagte ich zum Verkäufer und bewegte meinen Arm wie anno siebenundachtzig, als mir auf dem Rummel der Einarmige Bandit mein ganzes Taschengeld abgenommen hatte.
»Exprimidor?«, fragte der Verkäufer.
»Kann sein.«
»Exprimidor!«, sagte er und spielte für einen Augenblick auch an einem unsichtbaren Einarmigen Banditen.
»Ja!«, rief ich. »Verzeihung, ich lebe erst seit zwei Wochen hier und lerne die Sprache noch.«
»Erst zwei Wochen? Mann, dein Spanisch ist toll.«
»Danke.«

Wenn ich weiter so schleppend lerne und deshalb meine Ankunft in Buenos Aires noch mehr vorverlegen muss, kaufe ich bei dem Mann bald einen Mixer und bin eigentlich noch gar nicht da.

Auch für die Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat Pablo einen Spitznamen. Er nennt sie immer nur: la Señora Botox. Pablo mag nichts an ihr. Es stört ihn alles, und keineswegs bloß das, was inzwischen ziemlich vielen auf die Nerven zu gehen scheint: die aufgespritzten Lippen, die langen Reden, die schwarzen Kleider, die sie aus Trauer um ihren vor fast zwei Jahren verstorbenen Mann noch immer trägt, natürlich paillettenbesetzt, die Tränen, die sie seinetwegen weint. Pablo fühlt sich auch von ihrer Politik, den immer neuen Gesetzen, gegängelt und kontrolliert.

Angesichts einer Inflation von 20 bis 30 Prozent ist es zum Volkssport geworden, Peso in Dollar umzutauschen, wogegen Cristina, die oberste Argentinierin, aus fiskalpolitisch verständlichen Gründen etwas hat. Zum offiziell festgelegten Wechselkurs von viereinhalb Pesos für einen Dollar kriegt man ohnehin nichts mehr. Also tauscht man auf dem Schwarzmarkt an der Straßenecke für 6,35 Pesos »blue dollar« oder reist ins Ausland. Oder man bedrängt den Nachbarn, der Ausländer ist, doch endlich mal Dollar aus der Heimat zu besorgen. Mein Glück ist, dass mich bislang niemand aus Deutschland besucht hat, ich weiß aber nicht, wie lange ich Pablo noch hinhalten kann, zumal das mit dem Ausland gerade wieder schwieriger geworden ist: Wer nämlich dort mit seiner Kreditkarte bezahlt oder auch nur für die nächste USA-Reise im Internet einen Mietwagen bestellt und die Kosten von seinem Pesokonto abbuchen lässt, dem nehmen die Banken neuerdings zusätzlich 15 Prozent ab.

Es wäre wirklich hilfreich für mein Verhältnis zu Pablo, wenn endlich jemand zu Besuch käme.

Die Präsidentin hat in diesem Jahr bereits 17-mal, insgesamt 15 Stunden, elf Minuten und 38 Sekunden, im Fernsehen zu ihrem Volk geredet. Laut Verfassung soll die TV-Ansprache des Staatsoberhauptes eine Ausnahme sein, eine Sache für den Ernstfall. Und die staatlichen Sender müssen übertragen, obwohl Cristina eine Quotenkillerin ist. Als sie neulich zum »Tag der Industrie« um kurz vor halb elf – nachts, wohlgemerkt – zu reden begann, lief in jedem zweiten argentinischen Haushalt ein öffentlicher Kanal. Die Sender unterbrachen das Programm, um die Präsidentin zu zeigen, und eine Viertelstunde später schauten nur noch 36 Prozent zu. Frau Kirchner sprach eine Stunde und vier Minuten. Pressekonferenzen und Interviews gibt sie selten bis nie.

Ich hätte die Rede fast verschlafen, wenn mich nicht ein ungeheurer Lärm geweckt hätte. Er schien von draußen zu kommen. Ich taumelte aus dem Bett, um nachzuschauen, was los sei. Auf dem Weg zum Balkon wurde der Lärm klarer: Ich erlebte zum ersten Mal cacerolazo, den berühmten Protest der argentinischen Mittelschicht gegen die Politik, populär geworden in der großen, auch blutigen Staatskrise Ende 2001, als zwei Tage geplündert wurde und 28 Menschen starben.

Auf dem Balkon über meinem stand Pablo und schlug auf einen Kochtopf. Als er mich im Schlafanzug entdeckte, schrie er: »Hast du nicht mitbekommen, dass bei Facebook aufgerufen wurde, die Rede der La Señora Botox zu stören?«
»Pablo, ist das mein …«
»Ich verstehe dich nicht, ist so laut hier. Wir haben es satt …«
»… Kochtopf?«
» … sie ständig im Fernsehen zu sehen.«
»Wolltest du nicht Spaghetti kochen?«
»Die haben einfach meine Serie unterbrochen.«
»Paaaaaabloooooooooo, ist das mein Kochtopf?«
»Ja natürlich, denkst du denn, ich nehme für diese Frau meinen, Doooooooodóóóóóóóóóóóóóó?«


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)