Welch Groteske! Allein dafür hat sich das Durchhalten und Niemalsaufgeben in den mitunter zähen Wahlkampfwochen gelohnt – für dieses Abwickeln einer Präsidentschaft, einer Ära, für dieses Hinüberstolpern mit Beinestellen und Schubsen gen Neuanfang. Der Wahnsinn, geliebtes Argentinien! ¡Qué quilombo!1
Fassen wir zusammen: Nach seinem Sieg in der Stichwahl besucht Mauricio Macri die scheidende Präsidentin Cristina Kirchner. Man redet gekonnt aneinander vorbei. Macri sauer ab. Kirchner lässt auf dem Anwesen des Staatsoberhaupts, das sie bald verlassen muss, gelbe Blümchen pflanzen. Gelb ist die Farbe von Macris Partei PRO.
Quedaron muy lindas y en unas semanas más van a lucir aún mejor, cuando florezcan en todo su esplendor. pic.twitter.com/5dLIM4h9L7
Kirchneristen und Macristen beginnen zu streiten, wie und wo die Macht am 10. Dezember übergeben wird. Die Präsidentin will, dass Macri von ihr Schärpe und Zepter im Parlament empfängt, wie das in Argentinien seit 2002 gemacht wird. Steht so in der Verfassung, Artikel 93. Macri will aber auf keinen Fall, was Kirchner will. Erstens fürchtet er, dass auf den Balkonen des Kongresses ihre Anhänger sitzen, um ihm auf die Eier zu gehen. Zweitens hat er ja Wandel versprochen und muss sich vom Kirchnerismus absetzen. Macri also will nur den Amtseid im Parlament ablegen und dann die Insignien der Macht im Regierungspalast übernehmen, in der Casa Rosada. So war das vorher, und Tradition sticht Verfassung.
Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.
Das wäre damit geklärt.
Jetzt müssen alle noch darüber streiten, wann der neue Präsident anfängt zu arbeiten. Wenn er seinen Amtseid gesprochen hat? Nein. Wenn er Schärpe und Zepter hat? Auch nicht. Wäre alles viel zu einfach, zu wenig Drama. Wäre ja absolut logisch und damit komplett unargentinisch. Die Kirchneristen sagen, die Präsidentschaft ende am 10. Dezember, Punkt Mitternacht, also erst einen halben Tag nach der Zeremonie. Warum? Darum.
Kommt gar nicht in Frage, sagen die Macristen, wer weiß, welche Dekrete die Kirchner noch erlässt, sie ist doch total durchge unberechenbar. Am 9. Dezember, Punkt Mitternacht, schicken wir sie in den Ruhestand. Das steht irgendwo.
Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.
Macri und Kirchner telefonieren miteinander. Er hat mich angebrüllt, berichtet die Präsidentin hinterher. Kann er doch gar nicht, sagen Macris Leute, er ist ja nicht Cristina, und außerdem hat er, was sie nicht hat: Manieren.
Eine Richterin gibt Macri recht. 9. Dezember.
Ich komme dann nicht.
Staatsstreich, sagen die Kirchneristen. Argentinien wird zwölf Stunden ohne Präsident sein.
Auftritt Federico Pinedo, Vorsitzender des Senats und Parteifreund Macris: Ich mach’s! Ich darf auch. Ich bin die protokollarische Nummer Drei im Staat. (wedelt mit der Verfassung)
Ihr könnt mich mal. Meine Abgeordneten werden euren Festakt im Parlament übrigens auch boykottieren.
Donnerstag, 10. Dezember, kurz vor zwölf Uhr: Mauricio Macri legt seinen Eid ab. In seiner Antrittsrede bittet er die Argentinier ausdrücklich um Kritik, sollte seine Regierung Mist machen. Wir sind nicht unfehlbar, sagt er. Seine Vorgängerin reist nach Santa Cruz, um dabei zu sein, wenn ihre Schwägerin Alicia Kirchner, die neue Gouverneurin der Provinz, ihr Amt antritt. Sie sitzt nicht in der Präsidentenmaschine Tango 01. Sie fliegt Linie.
Ein Freund, strammer Peronist, witzelt: Ich bin von jetzt an bis in alle Ewigkeit Anhänger von Pinedo. Er hat seine Zwölf-Stunden-Präsidentschaft beendet, ohne einen einzigen Peso zu klauen.
Lachen vom Band.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Der Präsidentenpalast weiß von nichts. Oder er tut so. In den Büros wird auf Computerbildschirme geguckt, Gesprächsfetzen und Telefonläuten dringen auf den langen Flur, wo eine Putzfrau in Uniform den Boden wischt. Sie sieht auf, lächelt und erwidert den Gruß. Ruhig, beinahe still ist dieser Ort, an dem alles Alte bald endet und alles Neue bald beginnt. Am 10. Dezember zieht die Hausherrin Cristina Kirchner aus, und mit ihr eine ganze Reihe Getreuer. Es zieht ein: Mauricio Macri, und mit ihm eine ganz Reihe Getreuer. Die Casa Rosada aber, sie benimmt sich, als würde rein gar nichts anstehen. Wo ist der Machtwechsel, in dem das Land am Río de la Plata seit dem Stichwahl-Sieg des Oppositionskandidaten steckt? Wo sind die Umzugskartons?
»Wir nutzen das lange Wochenende«, sagt die Frau, die das Argentinische Tagebuch zu einem Gespräch empfängt, aber in dieser Geschichte keinen Namen haben will. Am Montag und Dienstag ist frei in Argentinien, aber hier wird dann gepackt und ausgemistet. Es dürfte sich allerlei angesammelt haben. Zwölfeinhalb Jahre lang hat der Kirchnerismus regiert. Es ist eine Epoche, die nun zu Ende geht, eine verdammt lange Zeit.
Die Frau, die bereit ist zu erzählen, wie es sich anfühlt, die Macht abzugeben, arbeitet seit vielen Jahren in leitender Funktion in der Casa Rosada. Was aus ihr wird, weiß sie noch nicht, sie hofft, dass sie weiter gebraucht wird. Sie gehört zur planta permanente, der Ebene der Staatsbediensteten mit unbefristeten Verträgen. Macri könnte sie versetzen, degradieren, mürbe machen, das ja, aber loswerden kann er nur die anderen, die auf der planta transitoria. Es sind die Beamten mit Verfallsdatum. Ihre Zeit im Staatsbetrieb läuft ab.
Eine Versammlung, um die Mitarbeiter – wie viele die Casa Rosada beschäftigt, weiß niemand – auf das einzustimmen, was komme, habe es bislang nicht gegeben, sagt die Frau. Geredet werde umso mehr. In manchen Büros säßen echte Fans der Chefin, sie tränken aus Cristina-Kirchner-Tassen ihren Kaffee und hätten Poster der Präsidentin an Wand. Sie verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Schutzheilige, und die Verzweiflung darüber passt in zwei Sätze: »Ich will nicht, dass sie geht. Wer hält denn in Zukunft zu mir?«
Macri will anders sein, anders als diese Präsidentin. Gleich am Morgen nach seinem Wahlsieg hat er sich den Journalisten gestellt. Sein Kabinett? Ein Truppe einstiger und aktueller Führungskräfte aus der Privatwirtschaft. Die erste Kabinettssitzung? Unter freiem Himmel, im Botanischen Garten von Buenos Aires. Die Kirchnerregierung traf sich nie, weil die Anführerin Durchstechereien fürchtete und die Minister deshalb einzeln zu sich bestellte. Pressekonferenzen gab sie – mit einer Ausnahme (2008) – in ihren acht Jahren auch nicht. Wozu denn? Kirchner wollte nicht überzeugen. Sie ordnete Meinungen an.
> Die neue Regierungsmannschaft Foto: Facebook/Macri
Rückblende. Die leitende Beamtin der Casa Rosada erlebt aus der Nähe, wie Cristina Kirchner nach einem triumphalen Wiederwahlsieg Ende 2011 nun die Landsleute vor die Wahl stellt: Folgt mir, oder ihr gehört nicht mehr dazu. Vamos por todo, heißt die Parole. Wir gehen aufs Ganze. Die Präsidentin setzt auf die jungen Argentinier, denn Jugend, so sagt es unsere Gesprächspartnerin, lasse sich leicht begeistern für jede »revolutionäre Schwärmerei«. Die Nachwuchsorganisation La Cámpora, gegründet vom Präsidentensohn Máximo Kirchner, erobert mit ihren Aufmärschen erst Straßen und Plätze, die politische Öffentlichkeit also – und bald darauf die Fleischtöpfe. Tausende camporistas ziehen in die Ministerien, Behörden und Staatsbetriebe ein. Der Kirchnerismus spaltet Argentinien, das Land sieht schwarz-weiß. »Grau hat nicht mehr existiert. Und wir, die Gesellschaft, haben nicht den Ausgang aus dieser Freund-oder-Feind-Dialektik gefunden.«
Macri verspricht, das Land zu befrieden, und eine Geste ist ihm schon gelungen, als er Wissenschaftsminister Lino Barañao im Amt beließ. Ein Überlebender der Zeitenwende. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht werden gar nicht viele Köpfe rollen, sondern nur die, die mit mehr Ideologie als mit Intelligenz gefüllt sind. »Hoffentlich kommen die Neuen mit guten Absichten«, sagt die Funktionärin.
Hilfe kann Macri brauchen. Er hat, das zeigt die Stichwahl, die er mit 51,34 Prozent nur knapp gewann, das halbe Land erst einmal gegen sich. Und der schlechte Brauch hiesiger Präsidenten, sich Legitimation zu erkaufen, ist keine Option. Nicht nur, weil dies ein Verrat am Wandel wäre, den Macri zugesagt hat. Es fehlt auch schlicht das Geld für Wohltaten. Die Frau aus der Casa Rosada bestätigt das mit einem schönen Bild: Das große Fest sei vorüber, sagt sie, das Fest der billigen öffentlichen Dienstleistungen, der günstigen Züge und Busse, des subventionierten Stroms, all der Staatshilfen und Sozialprogramme. »Wir Argentinier lieben, leider, fiestas. Wenn wir feiern, vergessen wir alles um uns herum. Erst wenn die Rechnung kommt, wird uns klar: Wir, die getanzt, gegessen und getrunken haben, sind auch die, die dafür bezahlen müssen.«
Und nun: la transición, der Übergang. Argentinien verfolgt mit offenem Mund, wie eine Kraft ihre Macht weiterreichen soll – und das ganz schnell, denn zwischen der Stichwahl und dem Amtseid des neuen Präsidenten liegen gerade einmal 18 Tage. Überdies neigen Argentiniens Regenten traditionell zum yo-ismo, der Ichbezogenheit. Sie sehen sich nicht als Verwalter des Staates für eine gewisse Zeit, sie sind der Staat. Er gehört ihnen, und was einem gehört, das gibt man ungern wieder her. »Wir haben keine Geschichte von demokratischen, transparenten Regierungswechseln, keine Kultur, keine Mentalität, keine klaren Regeln, kein Verfahren«, sagt die Funktionärin aus der Casa Rosada. Niemand wisse, was genau zu tun sei, nicht der Staat, nicht die Regierung, erst recht nicht die Angestellten. »Wir diskutieren gerade zum ersten Mal, was das überhaupt ist: transición.«
Das Loslassen beginnt mit ganz banalen Dingen: Welche Akten schreddere ich, welche bekommt mein Nachfolger? Machen wir eine Übergabe? Soll ich ihm helfen, sich zurechtzufinden? Darf ich das überhaupt? Aber meinen Computer nehme ich mit nach Hause. Nein? Wie, der gehört mir nicht?
Am Mittwoch, 9. Dezember, sollen die Büros geräumt sein. Dann kommen die neuen Direktoren und die Maler natürlich, und die Frau, die an diesem Ort schon lange arbeitet, hofft, dass Macris Strategen genau hingucken werden; dass sie nicht nur auf das Organigramm schauen, auf irgendwelche Titel, sondern sich jede Stelle vornehmen und den, der sie besetzt, fragen: »Was haben Sie hier eigentlich genau gemacht? Nur die Aufmärsche organisiert? Oder auch was Sinnvolles?« Was jemand könne, zähle für ihn, das hat Macri oft gesagt, weg mit der Ideologie, her mit Professionalität. Allerdings hat der öffentliche Dienst heute auch eineinhalb Millionen mehr Beschäftigte als 2003, dem Jahr, in dem der Kirchnerismus das Land übernahm. Ein Plus von 67 Prozent. Und Macris Leute und die seiner Verbündeten wollen ja jetzt auch noch mitmachen.
Auf einem der Fluren verrät sich der Präsidentenpalast übrigens dann doch: Da liegt ein Haufen aus Papier, Faxgeräten und Kabeln. Der Machtwechsel, er kommt.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
(CW) Buenas. ¿Cómo estamos? ¿Todo bien? Me alegro. Zunächst, wie sich das gehört, die äußeren Bedingungen: Buenos Aires meldet 25,6 Grad, Sonnenschein und wolkenlosen Himmel. Knackig warm ist’s also, und wir sind noch im Frühling, muchachos. Gerade kommen wir aus dem Park, bisschen Gebuddel im Sand mit der Vierjährigen, sanftes Anschaukeln der Sechsjährigen, leichtes Fußballtraining mit dem Neuner, wir wollten uns ja nicht verletzen.
Marc Koch, der Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, will angeblich auch vorbeischauen und ein bisschen mitbloggen. Im Augenblick zickt er noch herum und verlangt einen Sonntagszuschlag. Scheint peronistische Gene zu haben, der Kerl. Falls wir uns einigen, stößt er von einer Vernissage zu uns. (Ja, so schreibt man das Wort, ich hab’s nachgeschlagen.) Hoffen wir, dass er das Niveau nicht zu sehr hebt. Napoleon hat gesagt:
Gelehrte und Intellektuelle sind für mich wie kokette Damen. Man sollte sie besuchen, mit ihnen parlieren, aber sie weder heiraten noch zu Ministern machen.
Wer, carajo, ist Napoleon?
(CW) Heute also wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt. Gesucht wird Präsident Nummer 53, und es kann nur einen geben: den Regierungsmann Daniel Scioli (58) oder den Oppositionskandidaten Mauricio Macri (56). Der eine ist noch Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der andere noch Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, ihre Nachfolger sind schon gewählt.
Wer heute verliert, hat erst mal nichts mehr. Se va a casa, tomando Mate, wie man in Argentinien sagt, der geht nach Hause und schlürft was ganz Bitteres. Scioli und Macri sind alte Freunde, sogar ihre Väter waren … bitte? … Ok. … Ich höre gerade aus der Regie, dass ich das schon erzählt habe.
12.25 Uhr.
(CW) Vielleicht mal ein paar Zahlen: 32 037 323 Argentinier müssen heute wählen. Ja, sie müssen. Argentinien hat eine Wahlpflicht. Bei den Vorwahlen Anfang August betrug die Wahlbeteiligung nur 74 Prozent, es war die niedrigste seit der Rückkehr zu Demokratie nach dem Ende der Militärdiktatur (1976 bis 1982). Am 25. Oktober, bei der ersten Wahlrunde, lag sie dann mit 81 Prozent deutlich höher. 2,5 Prozent hatten ein voto blanco abgegeben, also keinen der sechs Präsidentschaftskandidaten gewählt. Vier bis elf Prozent sollen noch nicht entschieden haben, wen sie wählen. Laut Marcos Peña, einem der Chefs der Kampagne des Präsidentschaftskandidaten Macri, sind es sieben bis acht Prozent.
Über das Land verteilt sind 94 979 mesas, Tische, die der Wähler aufsucht, um seine Stimme abzugeben.
12.30 Uhr.
(CW.) Man kann die Wahlpflicht übrigens umgehen: Wer mehr als 500 Kilometer entfernt von seinem Wohnort ist, braucht nicht abzustimmen. Es gab sogar mal die studentische Bewegung 501, deren Mitglieder sich einen Spaß daraus machten, am Wahltag abzuhauen, nämlich genau 501 Kilometer weit.
12.36 Uhr.
(CW) Vor einer halben Stunde habe ich die Kinder durch ein Wahllokal bei uns im Viertel geführt und ihnen alles erklärt. Wenn die das verstehen, verstehen Sie das auch. Also, es gibt in Argentinien keinen Zettel, auf dem man ankreuzt, wie wir das aus zivilierten Ländern Deutschland kennen. Stattdessen schafft jede Partei oder jedes Bündnis die boletas ins Wahllokal; die sehen ein bisschen aus wie Werbeflyer, schön bunt. Das hier ist zum Beispiel die boleta von Scioli:
Wenn man ihn wählen will, packt man den Schein in einen Umschlag und wirft diesen dann am Wahltisch in die Urne. Von 18 Uhr an wird ausgezählt.
»Aber die Leute, die da zählen, die können auch betrügen.«
Mein Sohn!
Das geschieht natürlich, weshalb die Parteien und Bündnisse versuchen, an jeden Wahltisch einen Aufseher zu platzieren, einen sogenannten fiscal. Der muss natürlich belohnt werden, weil er nur dann genau hinguckt. Und zu niedrig sollte der Lohn auch nicht sein, weil der Aufpasser sonst von der Konkurrenz abgeworben werden könnte. Meistens gibt es ein paar Hundert Pesos und ein Verpflegungspaket. Aber man braucht natürlich Leute, Leute, Leute − ein Nachteil für kleine Parteien, vor allem in den hintersten Ecken des Landes.
12.45 Uhr.
(CW) »Hecha la ley, hecha la trampa«, sagt ein argentinisches Sprichwort. Frei übersetzt: Der Argentinier findet immer einen Weg, um ein Gesetz zu umgehen. Scioli hat vorgestern jedenfalls ordentlich gegen den vorgeschriebenen Waffenstillstand verstoßen, als er sich mit dem Bürgermeister von Esteban Echeverría traf und sich dabei von Anhängern bejubeln ließ.
Seit Freitag, 8 Uhr, ist dies verboten. Auch Wahlkampfspots dürfen nicht mehr gesendet werden. Scioli hat das natürlich reichlich Häme im Netz beschert, nicht mal sein Name war mehr heilig: Aus Scioli wurde Yoli. Yo gleich ich, kapiert? Schon vor Wochen schrieb die Zeitung Clarín, die es mit dem Kandidaten der Regierung eigentlich gut meint: »Scioli sagt ich, Macri sagt wir.«
13 Uhr.
(CW) Noch ein bisschen was zur Ausgangslage. In allen Umfragen liegt Macri vorne, was nicht bedeuten muss, dass er auch gewinnt heute. Der Favorit aber ist er. Er hat sich das Jahr über stetig verbessert, und allein dass er es in die Stichwahl schafft, hatten Fachleute, zu denen wir uns zählen, nicht unbedingt erwartet. Und Scioli? Der war eigentlich schon durch und saß auf gepackten Koffern, bereit für den Umzug in die Casa Rosada. Infobae nennt ihn den »Benjamin Button der Politik«, nach jener Filmfigur, verkörpert von Brad Pitt, die alt auf die Welt kommt und als Baby stirbt. »Er fing an als Präsident und endete als Herausforderer.«
Herr Koch kennt den Film natürlich nicht. Guckt halt nur Ingmar Bergman und Wim Wenders.
Mittagessen!
13.30 Uhr.
(CW) Mauricio Macri, der Kandidat von Cambiemos (Lasst uns verändern), hat vor knapp einer Stunde gewählt.
Ein historischer Tag? Mal schauen. Einer aus dem Macrismus, der heute als Aufpasser im Einsatz ist, schreibt uns gerade: »Wir gewinnen mit vier Punkten Vorsprung. Oder mehr.«
17.40 in der Ersten Welt Deutschland
(MC) Ein klassischer Novembertag auf der Oberen Erdhälfte geht zu Ende: Strahlender Sonnenschein, Kinder im am Fluss, Kaffee&Kuchen in viel zu dicken Menschen. Vor 3-einhalb Stunden hat sich der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur AFP einen dürren Bericht über die Wahlen abgerungen. Die Agentur schreibt vom »von Kirchner unterstützten Linkspolitiker Daniel Scioli«. Haha! Ob Daniel S. das auch so sieht? Am Ende menetekelt AFP, der Wahlsieger trete »ein schwieriges Erbe an«. Um es mal freundlich auszudrücken.
18:04 in Deutschland
(MC) Die Meldungen aus Argentinien überschlagen sich!!: Die Lange-Brüder Klaus und Yago aus Argentinien sind 7. geworden. Nicht bei der Präsidentenwahl, Mensch! Da steht das Ergebnis doch noch gar nicht fest! Obwohl … wer weiß …? Nein, die Lange-Lümmels sind Segler. 49er-Klasse. Klingt n bisschen wie 6-7-8 im argentinischen TV. Da, wo die Macht wirklich kritisiert wird. Haha. Scherz!
18:15 in Deutschland
(MC) Ich müsste meine Sendung (Haha: jetzt warten Sie auf den Link. Ist aber noch geheim!) für morgen vorbereiten. Aber es ist so spannend!!! Nicht die Wahl, Mensch! Da steht das Ergebn Hm? … Was? Ah, ich höre gerade aus der Regie, dass ich diesen Gag schon gemacht habe. Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich die Praktikantin rauswerfe. Die geht mit Gag-Zetteln um wie der argentinische fiscal mit Wahlzetteln … Spannend ist das Spiel zwischen Ingolstadt und Darmstadt. Jawohl, mein Herr: Erste Liga.
18:30 in Deutschland
(MC) Apropos Wahlen: Was passiert eigentlich mit dem Indek, wenn Daniel S. nicht gewinnt?
18:54 in Deutschland (und in Italien)
(MC) Ganz sicher ist: Wenn Daniel S. nicht gewinnt, kommt Besuch nach Argentinien. Der Italiener Roberto Caradelli und seine Jungs vom Internationalen Währungsfonds (FMI, por sus siglas en español perdón: casteschahno) wollen mal wieder vorbeischauen. Nach einer Dekade! Die manche »die Gewonnene« nennen. Aber gute Freunde kann halt niemand trennen. No es así, Cris?
19:00 in Deutschland
(MC) +++EILMELDUNG+++EILMELDUNG+++Nach Auszählung der ersten Wahllokale in Rio Gallegos liegt die amtierende argentinische Präsidentin Crist … Ach neee!: Die Meldung soll ja erst in ein paar Stunden raus! Die aktuelle Eilmeldung: Ingolstadt hat das Spiel gedreht.
19:06 in Deutschland (und in Spanien)
(MC) Unfasslich: Real Madrid schmeißt Rafa Benítez doch nicht raus! Da ist Argentinien einfach weiter! #Präsidentschaftswahlen #Cristina
19:10 in Deutschland
(MC) Apropos Rausschmiss: Was wird jetzt eigentlich aus unserem Spezi Axel K.? Und dem dolar blue? Gehen die jetzt nach Uruguay?
19:24 in Deutschland
(MC) Kriege gerade einen sentimentalen Anfall
Que lo hagas bien hoy, Argentina!
19:30 in Deutschland
(MC) Fast 2 Stunden ohne Unterbrechung von den argentinischen Präsidentschaftswahlen berichtet. Objektiv! Fair! Unbestechlich! Und der Dank? Kein Honorar vom Herausgeber CW. Ich werde mich bei den zuständigen Aktivisten beschweren. Und auch bei ihr ! Jawohl!
(MC) Darmstadt 98 hat in Ingolstadt verloren. Unter anderem durch einen Elfmeter, der natürlich unberechtigt war. Der Schiedsrichter hieß übrigens Kircher. Also fast wie. Ne? Oder? Ich verabschiede mich und übergebe an den Herausgeber CW. Möge der Bessere gewinnen. Forza, Argentina! Good night. And good luck.
15.45 Uhr. (deutsche Zeit: 19.45)
(CW) Ich bin’s wieder. Schauen wir doch mal, was unsere beiden Kandidaten gestern so getrieben haben. Also, Daniel Scioli hat die Jungfrau von Luján besucht, aber nicht zu Fuß, wie sich das gehört für echte Argentinier. Er dankte ihr und bat sie für heute um einen »friedlichen und demokratischen Wahlgang«. Anschließend wurde im Kreise der Familie gegrillt.
Mauricio Macri spielte Paddle-Tennis, und zwar mit Martín Palermo. Man kennt sich aus gemeinsamen Tagen bei den Boca Juniors. Macri führte den Verein als Präsident (1996 bis 2008), Palermo schoss die Tore. Ja, alle. Keiner hat für Boca häufiger getroffen als er, El Loco, der Verrückte: 236-mal in 404 Spielen.
16 Uhr.
(CW) In Santiago del Estero lässt die kirchneristische Regierung übrigens Wähler per Taxi zur Stimmabgabe bringen. Kann man ruhig mal machen, und Santiago del Estero ist ja auch nicht die ärmste Provinz Argent … ach so. Ähm, trotzdem nett, zumal es dort ja auch noch viel heißer ist als bei uns: 32 Grad. Am Dienstag regnet’s aber.
(CW) Wo wir gerade beim Fußball waren: Diego Maradona wählt wieder, wie im ersten Durchgang am 25. Oktober, Scioli, »weil ich will, dass in meinem Land die Dinge, die noch fehlen, von der Person erledigt werden, die am besten vorbereitet und am seriösesten ist, um sie zu lösen«. So kompliziert, wie meine Übersetzung klingt, kann Diego natürlich nicht reden. Er hat übrigens auch an einen Wahlsieg von Aníbal Fernández in der Provinz Buenos Aires geglaubt. »Kein Zweifel, du gewinnst«, sagt er in diesem Video. »Du bist ein guter Mensch, du beklaust niemanden.«
Das Gelächter, das Sie gerade hören, kommt von der Stehplatztribüne des Quilmes Atlético Club, dessen Präsident Fernández ist. Ich habe Cristina Kirchners Kabinettschef vor einem Jahr mal zufällig getroffen, und als er hörte, dass ich Fan und Mitglied seines Vereins sei, versprach er, mir ein Trikot zukommen zu lassen, signiert von Miguel der Chinese Caneo, einem unserer großen Idole. Aníbal, kommt das Trikot noch?
16.40 Uhr.
(CW) Noch mal ein paar Hinweise für die, die durchmachen wollen: Bis Mitternacht argentinischer Zeit, also vier Uhr Deutschland, soll die Auszählung beendet sein; erste Zahlen werden aber, heißt es jedenfalls, schon um 19.30 Uhr veröffentlicht. Für halb elf sind Ergebnisse angekündigt, die zuverlässig sein sollen und verraten, wer der nächste Präsident wird. Es kann natürlich auch wieder alles später werden, so wie am 25. Oktober. Da hatte der Justizminister, der Herr des Wahlverfahrens, eigentlich um 22 Uhr erste Ergebnisse verlesen sollen. Aber der Schock im kirchneristischen Regierungslager war so groß, dass es später und später wurde. Man wollte wohl warten, dass Scioli an Macri vorbeizieht. Erst nach Mitternacht gab es offizielle Zahlen.
Der Fernsehsender C5N hatte übrigens schon um 17.58 Uhr, also zwei Minuten vor Schließung der Wahllokale, einen triumphalen Sieg Sciolis verkündet und ihn zum neuen Präsidenten ausgerufen. Obendrauf kürte man noch Aníbal Fernández zum künftigen Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Scioli lag am Ende gerade einmal zweieinhalb Punkte vorn und musste in die Stichwahl; Fernández verlor sogar mit weitem Abstand. Der Eigentümer von C5N ist natürlich ultra K, also ein Freund des Kirchnerismus, der Argentinien seit zwölfeinhalb Jahren regiert.
16.55 Uhr.
(CW) Der Neunjährige hat seit Wochen nur noch vier Fragen an mich: Wer, glaubst du, wird Präsident? Wen würdest du wählen? Das Auto da, ist das teuer? Teurer als das da? Notiz an mich selbst: »Vergiss auf keinen Fall die Mutter von Dings zu autorisieren, damit sie deine Tochter morgen vom Kindergarten abholen darf.«
17 Uhr.
(CW) Kein Witz: In Mexiko bekommt der, der gerade gewählt hat, den Daumen gefärbt. Damit er nicht noch einmal versucht abzustimmen. Die Farbe ist nicht abwaschbar und verschwindet nach zwei bis vier Tagen. Ist in Argentinien natürlich üüüüüüberhaupt nicht nötig.
17.10 Uhr.
(CW) Hoppla, ist mir durchgerutscht: Daniel Scioli hat auch schon gewählt, vor etwa drei Stunden.
Sorry, musste den eingebundenen Tweet von Scioli wieder entfernen. Zerschießt mir das ganze Format, keine Ahnung, warum. Begnügen wir uns mit einem Foto.
»Ohne Zweifel wird heute das Volk gewinnen, und ich vertraue ihm.« Eine seltsame Aussage.
Was es nicht gibt, sind Bücher. Auch nicht in der Bibliothek. Denn dort treibt Scioli Sport. Eine Bibliothek ohne Bücher. Was willste auch machen, wenn der Architekt das Ding unbedingt gewollt hat? Wieder abreißen? Lesen lernen? Anfangen zu lesen?
Ich bin gleich zurück. Muss mal gucken, ob in meinem Bad eine Toilette ist.
17.45 Uhr.
(CW) Scioli gilt übrigens als schwer verbissen, verlieren kann er nicht, er will immer die Nummer 1 sein, und hat schon als kleiner Junge rumerzählt, dass er mal Präsident werde. Steht alles in Scioli secreto, der Biografie des Kandidaten, verfasst von den Journalisten Pablo Ibáñez und Walter Schmidt. Tolles Buch!
Und wie sind die Initialen von Daniel Osvaldo Scioli? DOS! Nicht UNO. Hätte uns ja auch mal ein- oder wenigstens auffallen können. Dann müsste ich das jetzt nicht klauen von Ibáñez und Schmidt.
Jedenfalls: Hahahaha. Oder wie der Argentinier schriftlich lacht: Jajajajajaja.
17.53 Uhr.
In sieben Minuten schließen die Wahllokale, aber es kommt in Argentinien durchaus vor, dass sie ein bisschen länger offen bleiben. Weil man wieder getrödelt hat.
Falls Sie sich fragen, wo meine Frau steckt, die Vierjährige sagt’s Ihnen: »Mamá está en Dienstreise.« Tja, dreieinhalb Jahre Argentinien gehen an der Sprache nicht spurlos vorbei. Der Neunjährige hat gerade mitgeteilt, dass es in Deutschland heute »geschneet« habe.
18 Uhr.
Schluss. Aus. Vorbei. Ein argentinischer Journalist, der vom Kirchnerismus absolut gar nichts hält, hat uns gerade das Versprechen abgenommen, dass wir auf keinen Fall verraten dürfen, dass Mauricio Macri die Stichwahl mit mindestens zehn Punkten Vorsprung gewonnen hat.
18.04 Uhr.
(CW) Die ersten Fernsehsender, auch die, die dem Kirchnerismus nahe stehen, verkünden: Macri hat gewonnen.
18.10 Uhr.
(CW) Zeit, dass ich auch mal mich selbst zitiere:
Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen. Text: Grünschnabel gegen Chamäleon
18.15 Uhr.
(CW) Im búnker (heißt wirklich so), der Halle, in der heute Macris Anhänger feiern, wird schon gerufen: »Se siente, se siente, Mauricio Presidente.« − Man spürt’s, man spürt’s, Mauricio ist Präsident.
Scioli hatte sein Kabinett schon vor dem ersten Wahlgang vorgestellt und daran festgehalten. Es war nur noch offen, wer Außenminister würde. Was auffiel: Nur einer der 16 Posten sollte an eine Frau gehen. Immerhin wäre Silvina Batakis für Wirtschaft zuständig gewesen und nicht für Familia y trasto (Familie und Gedöns). Auch bemerkenswert: Nur zwei Minister aus der Kirchnerzeit hätten überlebt.
Jetzt wohl gar keiner.
18.30 Uhr.
(CW) Pause. Ich muss die Kinder abfüttern. Und der Neunjährige will nachher unbedingt zu Macri in den búnker. Gute Nachrichten: Das Verbot, Alkohol zu verkaufen und auszuschenken, endet in zweieinhalb Stunden. (Nicht, dass wir keinen Vorrat angelegt hätten.)
23:19 in Deutschland
(MC) Ich bin gar kein argentinischer Journalist, aber ich habe es dem Herausgeber CW trotzdem verraten: AFP, die höchst zuverlässige französische Nachrichtenagentur, meldet: Macri hat gewonnen.
23:22 in Deutschland
(MC) Ich muss wieder ran. CW, der Herausgeber, hat eine kurzfristige Elternzeit beantragt. Phhhh …
23:26 in Deutschland
(MC) Das ist jetzt echt der Moment, ein bisschen nachdenklich zu werden. Wenn es so ausgeht:
Das Ende einer Ära
23:31 in Deutschland
(MC) Respekt: Nicht mal in so einem Moment hören sie bei FpV auf, sich den Erfolg einzureden!
23:38 in Deutschland (18:38 im Búnker von Macri)
(MC) Gut für das Land, wenn es so käme, wie es Cornejo aus Mendoza − ein Parteigänger von Macri − verspricht:
23:50 in Deutschland
(MC) Er hat gesagt:
• schätzt den Wert der Arbeit
• respektiert andere Meinungen
• lügt die Leute nicht an
Sportlich, aber zu schaffen.
23:56 in Deutschland
(MC) CW ist Herausgeber. Zu Recht. Weil er es schon immer gewusst hat: Der 53. Präsident Argentiniens wird ein ganz anderer sein als viele vor ihm. Es braucht aber nicht so arg viel, das vorherzusehen. (Deswegen ist CW Herausgeber. Und nicht Chefkorrespondent. Haha!) Was aber wird aus diesem Peronismus? Der Ursache für die argentinische Krankheit?
00:15 in Deutschland (politische Zeit in Argentinien: 00.00)
(MC) Da fängt jetzt etwas ganz Neues an in Argentinien. Macri hat 9 Punkte Vorsprung. 15 Prozent der Stimmen sind ausgezählt. Keine Chance mehr, Daniel S. Wir sind nicht enttäuscht und nicht betroffen. Aber: Vorhang zu. Und nicht mehr alle Fragen offen. Buenas noches y buena suerte.
(CW) Ich wollte mich vorhin an Marcos Peña ranwanzen, den zukünftigen Kabinettschef von Macri, und horchen, welche Posten denn für Herrn Koch und mich vorgesehen seien in der Regierung. Und dann das: Der Neunjährige und ich, wir kamen gar nicht rein in den búnker! Obwohl wir akkreditiert waren! Und mit uns standen Hunderte vor der Tür! Ein Skandal!
Ist das schon die Arroganz der Macht?
1.50 Uhr.
(CW) Auch wir gratulieren jetzt mal Mauricio Macri, dem neuen Präsidenten Argentiniens. Es wird natürlich noch ausgezählt, warum auch immer das so lange dauert; aktuell sind wir bei 99,17 Prozent. Aber der Vorsprung ist groß genug: Macri steht bei 51,40 Prozent, Scioli bei 48,60. Wir sind gespannt, was nun kommt nach dem Ende des Kirchnerismus.
Uns hat es Spaß heute gemacht, vielen Dank fürs Lesen. Hasta luego. Un abrazo fuerte.
Wenn nichts Dramatisches mehr passiert, gewinnt Mauricio Macri am 22. November die Stichwahl um die Präsidentschaft. Gleich fünf Umfragen zeigen, dass der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister den Rückstand von zweieinhalb Punkten aus dem ersten Wahlgang in einen Vorsprung verwandelt hat. Mal liegt er sechs Punkte vor dem Regierungsmann Daniel Scioli, mal acht, bisweilen sind es sogar mehr als zehn. »Wär’s Fußball, würde man von einem Schützenfest sprechen«, schreibt Clarín.
Nun ist Argentinien eine der weltweit führenden Bühnen für große Dramen, und Umfragen werden am Río de la Plata gern bestellt, um Stimmungen zu machen statt sie zu messen. Dennoch spricht viel dafür, dass es kommt wie prognostiziert. Die Angstkampagne, die der Kirchnerismus nach dem für das Regierungslager enttäuschenden Wahlergebnis vom 25. Oktober ausgebrütet hatte, ist gescheitert. Dass sie nicht gestoppt wird, zeigt, wie ratlos die amtierende Präsidentin und ihre Leute sind. Am Sonntag treffen sich beiden Kandidaten zwar zum TV-Duell, aber Wunder sind auch da nicht zu erwarten. Sciolis Stärke ist das Zuschütten von Gräben, nicht das Ausheben, und unter den Rhetorikern gehört er zur Gattung der Einschläferer. Er wiederholt sich gern, und das mit monotoner Stimme. Die schwierigere Rolle hat er auch: Um seine Unabhängigkeit zu beteuern, muss er die Präsidentin mit Dreck bewerfen. Zu viel darf sie jedoch nicht abbekommen, schließlich ist er ihr Kandidat.
> Cristina Kirchner und Daniel Scioli Foto: Casa Rosada
Immerhin, schaden kann sie ihm wohl kaum noch. Ihre große, besonders bizarre Rede am vorigen Freitag, als sie im Hauptstadtviertel Palermo den zweiten Abschnitt eines Wissenschafts- und Technologiezentrums einweihte, soll die letzte bis zur Stichwahl gewesen, und wenn wir ganz leise sind, können wir Scioli noch immer aufatmen hören. Die Amtsinhaberin darf jedenfalls in den kommenden eineinhalb Wochen nicht mehr im Fernsehen sprechen, wobei man besser nur kleine Beträge darauf setzt, dass sie sich an das Schweigegebot auch hält.
Diesmal hatte Kirchner etwas weiter hinten im Geschichtsbuch geblättert, um ihre Landsleute vor Mauricio Macri zu warnen. Nicht von Carlos Menem, dem neoliberalen Staatschef der Neunziger, erzählte sie, sondern von dessen Nachfolger, dem einstigen Hauptstadtbürgermeister Fernando de la Rúa, der am 20. Dezember 2001 um 19.52 Uhr mit dem Hubschrauber aus der Casa Rosada getürmt war. Ein ewiges Bild im kollektiven Gedächtnis.
Tatsächlich hat seit der Gründung des Peronismus vor 70 Jahren kein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt einer anderen Partei seine Amtszeit zu Ende gebracht. Arturo Frondizi (1962) und Arturo Illia (1966) wurden aus dem Amt geputscht; Raúl Alfonsín stürzte 1989 über die Hyperinflation, de la Rúa über die aufziehende Staatspleite. Der letzte Nichtperonist, der durchgehalten hat, war Marcelo Torcuato de Alvear (1922 bis 1928), und auch er hinterließ eine Wirtschaftskrise, was zumindest von Traditionsbewusstsein zeugte.
Eine Schmutzkampagne allerdings bestritt Kirchner. Darunter »leidet diese Präsidentin tagtäglich«, sagte die Präsidentin und beklagte die vielen Berichte über ihre angebliche bipolare Störung. Sie dementierte sogleich, jedenfalls sollte es wohl ein Dementi sein: »Es heißt doch, Einstein war bipolar, nicht? Schau an. Wie schade, ich könnte Einstein ähneln, aber ich bin ja nicht bipolar.« Einmal zeigte sie gen Himmel, genau genommen hinauf zu den beiden argentinischen Satelliten, und verriet den aktuellen Aufenthaltsort ihres 2010 verstorbenen Mannes und Amtsvorgängers Néstor Kirchner. »Wisst ihr, wo er ist, wo er ist? Dort oben, bei Arsat-1 und Arsat-2, ist er«, rief sie, die Stimme auf Krächzen moduliert. »Er ist dort oben, wie ein kosmischer Glücksdrache.«
Und Scioli? Der hatte paar Tage lang vorgegeben, er werde sich von der Amtsinhaberin absetzen, um die antikirchneristischen Wähler zu verführen. »Más Scioli que nunca«, hieß die Parole. »Mehr Scioli als je zuvor.« Der einstige Motorbootrennfahrer redete über Tabuthemen (»Ich werde weder die Inflation noch die Armut abstreiten.«) und ging sogar so weit, den Kirchnerismus, der sich selbst für einzigartig hält, mit anderen auf eine Stufe zu stellen. »Ich glaube, wie bei jeder Regierung oder politischen Kraft gibt es Dinge, die er gut gemacht hat, und andere, bei denen er nicht die Erwartungen der Gesellschaft erfüllt hat«, sagte er. Eine Selbstbefreiung, endlich. Dann kam der Freitag, den Argentiniern erschien Cristina, und der Kandidat hatte es wieder nicht geschafft, den Termin mit ihr abzusagen.
Es war ein jämmerlicher Anblick: Scioli kaute an den Fingernägeln, er hielt den Kopf gesenkt und schien sich bisweilen in sich selbst verstecken zu wollen. Er sah aus wie ein ungezogener Schüler, der nachsitzen muss – und noch denkt: zu Recht. Offenbar kann oder darf oder will er sich nicht lösen. Man wüsste zu gern, was die Präsidentin gegen ihn in der Hand hat. Es muss allerhand sein.
Die beiden verbindet ja ein schwer durchschaubares Verhältnis. Er ist Peronist wie sie und war von 2003 an vier Jahre lang Vizepräsident ihres Mannes. Danach gewann er zweimal die Gouverneurswahl in der Provinz Buenos Aires, und als Kirchner in die Casa Rosada einzog, begann sie mit ihm zu spielen. Warum? Weil sie es konnte. Wie viele andere Gouverneure brauchte er Geld aus ihrem Staatshaushalt; manchmal bekam er es, oft auch nicht, das hing von allerlei ab, meistens von der Laune der Präsidentin, auch da erging es ihm wie dem Rest der Provinzfürsten und Bürgermeister im Land.
Vor zweieinhalb Jahren stand Scioli kurz vor dem Gang in die Opposition. Er verhandelte mit dem peronistischen Rebellen Sergio Massa über eine Allianz für die Parlamentswahl. Man war sich schon einig, und dann sagte Scioli doch noch ab, was auch erklärt, warum er in diesen Tagen keine Unterstützung von Massa erhält, dem Drittplatzierten des ersten Wahlgangs. Kirchner hat diesen Verrat ohnehin nicht vergessen.
Wen die Präsidentin öffentlich zusammenfaltet, der gewinnt an Ansehen, so verrückt ist die argentinische Politik. Jahrelang hat sich Scioli von ihr schikanieren lassen − und davon profitiert, weil er als Kontrast wahrgenommen wurde. Doch seit sie ihm die Nachfolge angeboten hat, darf sie nicht mehr schlecht über ihn reden. Und da ihr Gutes nicht einfällt, das sie sagen könnte, ist jetzt Mauricio Macri ihr Opfer.
Auch dem bekommt das gut. Schon früh haben ihn seine Berater gedrängt, dem Duell mit der Präsidentin auszuweichen. Den Kirchnerismus darf er attackieren, dessen Chefin nicht. Angriffe hat er inzwischen fast eingestellt, er führt ja und kann sich aufs Verteidigen beschränken. Jetzt ist er der Kandidat, den man wählt, um Argentinien von Kirchner zu erlösen. Auch das erklärt die steigende Popularität des einstigen Präsidenten der Boca Juniors (1995 bis 2008).
Acht Jahre schon lauscht das Land dieser Präsidentin, und sie redet heute ja mehr denn je. Sie hört auch nicht auf zu drohen, sie genießt es, Furcht zu verbreiten. Giftig und verbissen, auch gehässig sind ihre Reden. Bisweilen dringt sie sogar − wie auf der Suche nach Néstor − in Sphären vor, die Zuhörern ohne Esoterik-Diplom verschlossen bleiben. Offen ist, ob solche Ausflüge geplant sind oder die Präsidentin improvisiert, weil sie gerade den Faden verloren hat (und schon vor langer Zeit die Kunst der kurzen Rede).
Macri spricht bekömmlicher. »No tengamos miedo«, ist einer seiner Standardsätze. »Lasst uns keine Angst haben.« Wo er auftritt, ist die Welt bunt und gut drauf, manchmal sieht man den Kandidaten vor lauter Luftballons nicht. Wahlkampf mit den Mitteln eines Kindergeburtstages. Gespart wird an den Inhalten. Zu den heiklen Themen schweigt Macri, »keine Wellen machen«, heißt die Strategie. Was mit den Renten passieren soll, dem Dollar, den vielen Staatshilfen, den teuren Fußball-Liveübertragungen − alles nach wie vor unklar. Macri verspricht vor allem, was populär ist: Investionen in Schulen, Polizei und Straßen, einen harten Kampf gegen Armut, Drogenhandel und Kriminalität, dazu mehr Flugrouten, damit das Staatsunternehmen Aerolíneas Argentinas weniger Verluste macht.
Aber er droht eben auch nicht, und das ist im Kirchnerland schon viel.
Sogar das, was Argentinier liderazgo nennen, die Tauglichkeit für Führungsaufgaben, bescheinigt ihm Kirchner, die Nummer eins im Land, neuerdings in fast jeder Ansprache. Wenn sie ihn fürchtet, muss er ja stark sein. Bei Daniel Scioli ist mittlerweile der Eindruck: Der braucht Hilfe. Und eine große Schwäche für schwache Politiker haben Argentinier nicht.
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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:
Unsere hohen qualitativen Ansprüche an die Argentinischen Komödien™ und an uns selbst garantieren, dass nur die allerbesten Dialoge verwendet werden. So manches wird bei der 117. und letzten Abnahme herausgeschnitten.
CW. Erinnere mich nachher mal an Fisch.
MC. Okay.
CW.…
MC. …
Halbe Stunde später.
MC. Fisch.
CW. Weißt Du, was es angeblich auch nicht mehr gibt in Argentinien? Heringe!
MC. Gab’s die schon mal?
CW. Ich meine: fürs Zelt.
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CW. Übrigens, so sieht der Seifenspender in der Besuchertoilette der Casa Rosada aus:
Cristina Kirchner kann sich auch kurz fassen. Für ihre Verhältnisse, versteht sich. Am Sonnabend hat Argentiniens Präsidentin die diesjährige Parlamentssaison eröffnet und bloß zwei Stunden und 45 Minuten geredet. Vor einem Jahr hatte sie sich eine Stunde länger Zeit genommen, um zu den Abgeordneten und Senatoren zu sprechen. Damals benahm sich der Congreso de la Nación allerdings wie ein Fußballstadion und sah auch so aus, was vor allem daran lag, dass auf den Zuschauerrängen die treuesten Anhänger der Präsidentin saßen: die Mitglieder von La Cámpora, der militanten Jugendbewegung, die von Cristina Kirchners Sohn Máximo angeführt wird. Die Cámporisten hatten ihre Fahnen mitgebracht, sie sangen und warfen Papierflieger auf die Politiker der Opposition.
1. März 2013 (Foto: Casa Rosada)
Diesmal war es deutlich ruhiger – wohl auch, weil sich die Opposition, Sieger der Parlamentswahlen im Oktober, ein ähnliches Spektakel nicht noch einmal hätte gefallen lassen. Es gab vorab allerdings ein paar Unstimmigkeiten. So übernahm die Casa Rosada, der Präsidentenpalast, die Vergabe der Eintrittskarten und bevorzugte dabei abermals Anhänger der Regierung. Und anders als in früheren Jahren durften nur die offiziellen Fotografen des Parlaments im Saal bleiben – die der Zeitungen mussten nach fünf Minuten hinaus. Die Opposition beklagte dies, entschied sich aber dagegen, ein Zeichen zu setzen, und behielt sich nur vor, im Falle von Provokationen hinauszugehen.
Ich habe mich zunächst vor dem Saal herumgetrieben und mich dann draußen umgeschaut, wo sich die Anhänger der Präsidentin versammelt hatten. Die Hauptstadtpolizei sprach von 100 000 Teilnehmern, was vielleicht übertrieben ist. Dennoch waren es mehr als am 1. März 2013. Im Vorfeld hatte die kirchneristische Bewegung ihre Bürgermeister, Gewerkschaften und sonstige Truppen aufgerufen, Präsenz zu zeigen – nach dem Motto: Alle mit Cristina. Politik wird in Argentinien seit ihrer Erfindung – also seit Juan Domingo Perón, dem Archetypus des Volkstribuns und Überpräsidenten – auch auf der Straße gemacht. Die Autorität, die ein Politiker genießt, hängt davon ab, wie er mobilisiert.
Die Zeiten für Cristina sind härter geworden. Im Oktober 2011 hatte sie die Präsidentschaftswahlen noch haushoch gewonnen – mit mehr als 53 Prozent. Mittlerweile aber schwächelt die Wirtschaft, steigt die Inflation, verliert der Peso gegenüber dem Dollar, verteuert sich der Alltag. Die Regierung schreibt den Supermärkten inzwischen die Preise für mehr als 200 Produkte vor: Kekse, Cola, Waschmittel, Zucker, Kugelschreiber, Paprika, Reis, Dosenerbsen, Bier, Milch und Shampoo. »Überwachte Preise« für Waren des täglichen Bedarfs, nennt sie das, und dazu zählen – ein bisschen Spaß muss sein – auch Kondome. Nur gibt es die günstigen Marken dann oft nicht im Regal, sondern nur die teureren Varianten, deren Preise nicht kontrolliert werden. Im Februar war ja selbst McDonald’sdas Ketchup ausgegangen – peinlich für den Konzern, noch mehr aber für die Regierung. Deren Devisen- und Importkontrollen hatten offenbar die Einfuhr der Tomatensoße aus Chile verhindert.
Nach einer neuen Umfrage, gestern von der Zeitung Clarín veröffentlicht, sind 67,5 Prozent der Befragten gegen die Regierung von Cristina Kirchner. Im November waren es noch weniger als 50 Prozent.
Natürlich standen nicht nur Freiwillige auf dem Kongressplatz und blickten auf die Leinwände, die die Rede der Präsidentin übertrugen. Gewiss, der Kirchnerismus, der Argentinien seit 2003 regiert, hat nach wie vor genug Anhänger – auch, weil viele von einer Politik profitieren, die das Geld, das längst nicht mehr da ist, mit vollen Händen verteilt. Aber es wird bei der Mobilisierung auch nachgeholfen. Man darf sich das so vorstellen: Der Bürgermeister einer beliebigen Stadt bekommt einen Anruf von einem Funktionär der Regierung. Man erinnert ihn daran, dass die Präsidentin ja erst im vergangenen Jahr Geld gegeben hat, um – sagen wir – den etwas heruntergekommenen Bahnhof zu renovieren. Der ist doch auch wirklich schön geworden, oder? Jetzt erwartet Cristina ein kleines Zeichen des Dankes – vier Busladungen. Und dann werden Leute aufgetrieben. Die Angestellte der Stadtbibliothek hat eigentlich schon was anderes vor, auf jeden Fall keine Lust, am Sonnabendmorgen nach Buenos Aires zu fahren und dann stundenlang in der Sonne zu stehen, während die Präsidentin erzählt, wie viele Millionen die Regierung für so und so viele neue Kilometer Straße ausgegeben hat. (Cristina liebt Zahlen, manchmal. Über die Inflation, die aufs Jahr gesehen bei 20 bis 30 Prozent liegt, fünf Prozent allein im Januar, redet sie natürlich nicht so gern, ja eigentlich gar nicht.) Dass sich die Bibliothekarin nicht so richtig amüsiert, sieht man dann auch. Sie sitzt draußen vor dem Café oder irgendwo im Schatten, sie läuft herum und kauft sich an einem der Grillstände einen Hamburger oder eine chorí. Es gibt viele Leute, die zuhören und klatschen. Es gibt aber noch mehr Bibliothekarinnen.
Ich erinnere mich bis heute ungern an die 1. Maie meiner Grundschulzeit. Wir versammelten uns auf dem zentralen Schotterplatz der Stadt und lauschten den ollen Genossen auf der Tribüne. Und es war immer heiß am Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus. Die armen Füße! Was mussten die im Schotter pulen, weil dem Kopf sonst nichts mehr einfiel gegen die Langeweile. Und so gucke ich heute, ein halbes Jahrhundert später, auch mit anderen Augen auf die junge Leute, die der Kirchnerismus aufmarschieren lässt. Sie kommen – man kann’s den Plakaten entnehmen – von weit her, aus entfernten Provinzen. Sie zählen – man sieht’s der Kleidung an – nicht zu Begüterten in diesem Land. Darunter dürften viele sein, die vom Versprechen geködert werden, ein Wochenende in der Hauptstadt zu erleben.
Die Präsidentin ist übrigens durchaus eine sehr gute Rednerin. Sie hat Witz und formuliert scharf (oft zu scharf). Für Zitate ist sie immer gut.
Die Wirtschaft wächst wieder, und wir vollenden die Periode des wirtschaftlichen Wachstums mit der virtuosesten sozialen Inklusion in unserer 200-jährigen Geschichte.
Wachstum (crecimiento) ist eines der kirchneristischen Schlüsselwörter. Man sieht sich als Bewegung, die das Land nach dem Totalzusammenbruch von 2001/02 wieder aufgebaut hat (was nur teilweise stimmt, weil der Aufschwung schon unter dem Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde begann).
Wir müssen mehr zusammenstehen als je zuvor, um weiter voranzukommen.
Der Kirchnerismus versteht sich als Bewegung des Nac&Pop – nacional (für das ganze Land) und popular (für alle Schichten)
Es kann nicht sein, dass zehn Leute die Straße sperren, aus welchen Gründen auch immer. Und dass nichts passiert.
Hier hat mich Cristina überrascht. Es vergeht seit Wochen kaum ein Tag in Buenos Aires ohne Straßensperrung. Die so genannten piquetes sind eine beliebte Protestform in Argentinien, eine Art Erpressung. Man stellt sich auf die Straße, zündet ein paar Reifen an und fordert. Wer sich ungerecht behandelt fühlt oder schlecht bezahlt oder eine neue Wohnung will oder gerade keinen Strom hat – hält den Verkehr auf und sorgt für Staus und dann für Wut bei den Gestauten. Die Polizei steht meist daneben und guckt zu. Die piqueteros waren und sind allerdings eine Säule der Bewegung. Néstor Kirchner, der Präsident von 2003 bis 2007, hatte sie genauso aufgenommen wie andere soziale Gruppen, um sich als volksnaher Regent zu inszenieren.
Wo bist du, Axel? Ich sehe dich gerade nicht. Mein Kleiner, aber Pflichtbewusster. Er hat wie ein Löwe für YPF gekämpft.
YPF ist die 2012 wiederverstaatlichte Ölgesellschaft, bis dahin eine Tochter des spanischen Konzerns Repsol. Und Axel ist der Vorname des neuen Wirtschaftsministers Kicillof. Argentinien zahlt Repsol eine Entschädigung von fünf Milliarden Dollar, die wohl Kicillof ausgehandelt hat. Ich vermute, das meint Cristina mit dem Löwen-Vergleich. Ich habe ihn durchaus gesehen, den Axel. Er schaute auf dem Weg zur Rede seiner Chef allerdings ein bisschen finster.
In einem Jahr wird Cristina Kirchner zum letzten Mal die Parlamentssaison eröffnen. Im Oktober 2015 wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt – und die Präsidentin darf nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal antreten.
Vielleicht bin ich ein bisschen früh, ich lebe erst drei Tage hier, und von diesen drei Tagen wiederum habe ich viel Zeit verschlafen, erschöpft von der Wucht, mit der diese Stadt Neuankömmlinge empfängt. Aber steile Thesen sind ja durchaus reizvoll, also bitte: Buenos Aires, das ist nicht nur die Hauptstadt Argentiniens, sondern auch die tollste Klapsmühle der Welt.
»Dreihundert Millionen Widersprüche« hat der spanische Philosoph José Ortega y Gasset einst hier gezählt und gleich den Satz hinterher geschoben: »Buenos Aires ist eine absurde Stadt, die ich von Tag zu Tag mehr liebe.« Sie soll weltweit die höchste Dichte an Psychiatern und Psychologen haben, lässt also sogar das ach so notorisch neurotische New York gesund im Oberstübchen erscheinen.
Vielleicht kann nur in einer Stadt wie Buenos Aires die U-Bahn mit einem großen Schwindel für sich werben: »más fácil, más rápido«. Einfacher und schneller – das ist die Subte ganz sicher nicht. Sie ist: voll. Schon gut, ich weiß, auch in Berlin ist die U-Bahn manchmal voll. In Buenos Aires ist sie: manchmal nicht voll. So wie hier auch manchmal nicht gehupt wird und es manchmal nicht laut ist. Ja, und es gibt wohl Hunde, die nicht direkt auf den Bürgersteig wursten, und wohl auch Hundehalter, die den Kot aufsammeln. Meine Schuhsohlen bestreiten das aber.
Vielerorts erinnert mich Buenos Aires an Odessa: das Improvisierte mit seinen kleinen Ständchen voller Krimskrams am Straßenrand, das Löchrige und Holprige auf allen Lebenswegen, der morbide Charme, das Abgeranzte, das Geflickte. Und immer wieder: Fassadenmelancholie, ein Hauch von alter Herrlichkeit. Atemberaubend schön ist all das gewesen, damals, vor 100 Jahren, als Argentinien eine Wirtschaftsmacht war und Auswanderer aus Europa anzog.
Der Unterschied zwischen Odessa und Buenos Aires, zwischen Odessiten und Porteños ist: Hier weist der Kioskmann geduldig den Weg, der Kellner bindet mit einer Tischdecke das Zappelbaby am zu großen Kinderstuhl fest, die Wildfremde auf der Straße sieht die drei Kinder und ruft: »Ich würde sie sofort betreuen.« Es wird überhaupt mehr gelächelt als dort.
Eine absurde Stadt, gewiss. Liebe nicht ausgeschlossen. Ein Traum schon jetzt.
Wir sind schnell. Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes- wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.
2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)
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