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Pilgern mit Aretha Nylon – Die viertägige Wallfahrt (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Banane

♦♦♦♦♦

Zweiter Tag. ZárateSan Pedro

7.30 Uhr.
Mein argentinischer Freund Cristian und ich zucken. Sollen wir? Nein! Oder doch? Was meinst du? Sag du! Also gut, wenn du mich fragst, ich denke, dass …

Wir könnten noch ein Weilchen bei den Metallern in Zárate bleiben und dann am Abend im Bus nach San Pedro reisen. Die Organisatoren der Wallfahrt meinen es gut mit uns, es hat nämlich angefangen zu regnen. Das große und das kleine Kaninchen haben bereits kapituliert und liegen schon wieder auf ihren Matten. ¡Trampa! Mogelei!

Ich fühle mich einerseits sehr gut. Als um zehn vor sechs das Licht in der Gewerkschaftsturnhalle anging, war ich schon eine Stunde wach. Schmerzen? Keine! Andererseits: Ich bin mitten im Training. Cristian bringt mir seit gestern Abend Truco bei, das argentinische Kartenspiel schlechthin, eine Art Río-de-la-Plata-Poker. Beim Truco wird nicht bloß gequatscht, geschummelt und gelogen; man provoziert auch den Gegner und macht ihn lächerlich, man hält seine Eier allzeit fest, um sie dann, wenn erforderlich, unverzüglich auf den Tisch packen zu können.

Cristian hat mich soeben ein paar Mal gewinnen lassen, ich hab’s jetzt drauf und brauche endlich einen richtigen Gegner. Steh auf, Kaninchen! Während sich Conejo hochkämpft, gehe ich schnell meinen handgeschriebenen Zettel durch, ich habe ja den Wert der Karten noch nicht ganz im Kopf.

truco 1

> Die vier höchsten Truco-Spielkarten und die mieseste (4 de copas)

Reihenfolge:

  • 1 von den Schwertern, auch Macho genannt
  • 1 von den Stäben, auch Weibchen genannt
  • 7 von den Schwertern
  • 7 von den Münzen
  • 3, 2, 1 (Rest), 12, 11, 10, 7 (Rest), 6, 5, 4

Die oberste Scheißkarte beim Truco ist die 4 de copas (4 von den Pokalen) − so nennt man in Argentinien übrigens auch eine Person, die gar nichts drauf hat oder sehr wenig zu sagen.

Conejo, das Kaninchen, trickst und schummelt und lügt, er nuschelt mich voll, er nimmt meine drei Karten von unten aus dem Stapel, was angeblich legal ist oder jedenfalls nicht ausdrücklich verboten, er versteckt seine Wett-Einsätze – Truco (Zwei-Punkte-Spiel), Retruco (drei), Vale cuatro (vier) – inmitten sinnfreier Monologe und beschimpft mich dann, weil ich wieder nichts verstanden habe. Wenn ich sicher bin, dass er blufft, hat er beste Karten. Und umgekehrt. Kaninchen, der Messi des Truco, gewinnt sogar mit der 4 von den Pokalen.

Ich glaube, ich verliere von zehn Runden zwölf. Oder 20 von 14. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Truco, das ist doch kein Spiel!

8 Uhr.
»Also, ich schlage vor, dass wir pilgern und nicht hier bleiben«, sage ich zu Cristian.

»Natürlich pilgern wir.«

»Der Regen kann uns mal.«

»Welcher Regen? Das ist eine Erfrischung, alemán.«

8.10 Uhr.

Tag 2 b

Tag 2 c

Am Ausgang bekommt jeder ohne Regenmantel eine große Mülltüte. Wir gehen auch erst einmal weiter entlang der Autobahn. Stört mich das? Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.

(Ein Argentinier versteht den Otto-Witz von Frau Suhrbier und ihren Folgeschäden an der Autobahn übrigens nicht, was wohl zwei Gründe hat: Zum einen darf in diesem Land nirgends schneller als 130 Kilometer pro Stunde gefahren werden; zum anderen unternehmen argentinische Durchschnittsfamilien gern einen Sonntagsausflug zur Autopista, um nebenan auf dem vertrockneten Rasen Fußball zu spielen, zu entspannen und zu grillen. Man trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Kollegen.)

Tag 2 d

12 Uhr.
Die Ersten humpeln schon, oh, die sind aber früh dran. Es ist noch sehr, sehr weit, nicht nur nach San Nicolás de los Arroyos, dem Ziel, sondern auch zum heutigen Etappenort San Pedro. Wir haben vorhin ein Schild gesehen, auf dem »68 km« stand, wobei wir ja heute Abend wieder ein Stück mit dem Bus zurücklegen werden. Wir können also mindestens 20 Kilometer abziehen.

Tag 2

Meiner Erfahrung nach wird eine jede Wallfahrt im Kopf entschieden, es ist nämlich alles psychologisch, die Angst vorm Scheitern und der Schmerz sowieso. Ich habe bislang keine Tablette gebraucht, meine Füße sind nach wie vor ohne Blase, und meine beigen Nylonstrümpfe aus der Damenabteilung des Supermarktes bei uns an der Ecke haben noch nicht einmal eine Laufmasche.

Damenstrumpf

Jawohl, ich trage Damenstrumpf unter meinen Marathonsocken. Ich halte es natürlich geheim. Nur Cristian weiß davon, weil er mich am Abend vor unserem Aufbruch bei der Anprobe zu Hause erwischt hatte. Saßen tadellos, die Dinger, da waren wir uns einig.

Auch Bundeswehrsoldaten tragen ja Nylon – angeblich, und natürlich ausschließlich für den Marsch, ich will den Kameraden nichts unterstellen, ich hab’s auch nur gehört von einem, der ebenfalls nicht gedient hat.

»Und wenn’s nicht hilft«, hatte Cristian übrigens gesagt, »sieht’s immer noch verdammt scharf aus.«

Tag 2 e

14 Uhr.
Endlich, zum ersten Mal nach eineinhalb Tagen und 65 Kilometern, lassen wir Asphalt und Verkehrslärm hinter uns. Endlich Natur. Endlich ein Feldweg. Und bald darauf: Schlaglöcher.

 

tag 2

17 Uhr.
Kilometer 127 der Nationalstraße 9, eine Brücke. Ganz in der Nähe liegt das 2000-Seelen-Dorf Villa Alsina. Unsere Busse warten schon. Cristian knorrt sich fix noch eine Kürbissuppe rein. Wenn das hier vorbei ist, muss er auf Entzug.

18.30 Uhr. San Pedro.
Ich habe ja schon viel gesehen in meinem Leben. Aber das hier, ¡Madre mía!1, muss die Strafe für etwas Gewaltiges sein.

Das darf man nicht verdrängen, man muss es umgehend verarbeiten. Handy raus zum Gebet!

CW. Bist Du noch oder schon wach?

MC. Ja.

CW. Das ist die heutige Männertoilette.

Klo

MC. Mein Gott!

CW. Ich kneife die Arschbacken zusammen, das glaubst Du nicht.

MC. Was bleibt Dir sonst übrig?

CW. Ich bin zu alt für so’n Scheiß.

MC. Dann nimm den nächsten Bus.

CW. Bus? Wir sind in … wo zum Teufel sind wir überhaupt? Der Kiosk hatte nicht mal Wasser.

MC. Dann muss das Bolivien sein.

CW. Oder die DDR. Ich bin mal im Bad. Gute Nacht!

Marc Koch (MC) ist Gastautor des Argentinischen Tagebuchs und festes Ensemblemitglied der Komödien.

Dusche

Eine warme Dusche kostet 20 Pesos, umgerechnet 1,90 Euro. Man steigt zunächst eine Treppe hinauf, bezahlt dann im Büro des Klubchefs und bekommt schließlich eine nummerierte Duschberechtigungsmarke. So hat’s mir Conejo erklärt, dreimal, um genau zu sein, weil ich das Verfahren nicht auf Anhieb verstanden hatte. Die können mich mal, ¡carajo! Mir ist das erstens immer noch zu kompliziert; zweitens habe ich ja – wie jeder Pilger – umgerechnet 75 Euro Teilnahmegebühr bezahlt; und drittens probiere ich erst mal die wahrscheinlich illegale Kaltwasserdusche aus, die ich vorhin neben den Pinkelbecken entdeckt habe.

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Ich stelle mich, schon entkleidet, auf Zehenspitzen und erreiche tatsächlich – ich bin ein verdammtes Genie! – das oben am Duschkopf angebrachte Wasserhähnchen. Brrrrrrrrrrrrrr, ist das kalt. In meinem Rücken wird derweil gepinkelt, da kennt der Argentinier – und zwar einer nach dem anderen – nichts. Ich beobachte es aus dem Augenwinkel, und mir ist klar, dass ich auf dem Weg zum Handtuch gleich durch das werde waten müssen, was danebengegangen ist – und das ist allerhand.

Fortsetzung folgt

  1. Oh, mein Gott []

Pilgern mit Kaninchen – Die viertägige Wallfahrt (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Cristian

♦♦♦♦♦

Erster Tag. Ingeniero MaschwitzZárate

5.45 Uhr.
Wir sind mit dem Kaninchen verabredet. Es erwartet uns um sechs an der Autobahntankstelle der Stadt Ingeniero Maschwitz, Kilometer 44 der Panamericanagegen sechs natürlich, also ruhig ordentlich nach sechs, wir sind doch in Argentinien, und pünktlich erscheinen hier nur die unhöflichen Einheimischen und die schlecht integrierten Ausländer. Es trifft sich somit gut, dass wir zunächst in den falschen Bus steigen und danach im Morgengrauen einen Kiosk suchen müssen, um die Subes aufzuladen, unsere Guthabenkarten für den Öffentlichen Personennahverkehr.

Conejo, spanisch für Kaninchen, hatte als kleiner Junge sehr hervorstehende Schneidezähne. Die stehen zwar schon seit Jahrzehnten nicht mehr hervor, aber nicht alles lässt sich ja richten im Leben. Wie heißt unser Kontaktmann denn nun wirklich? Mein Freund Cristian, mit dem ich schon zweimal 60 Kilometer nach Luján gepilgert bin, hält sich die rechte Hand unters Kinn und schiebt sie dann flink nach vorn weg. »¡Qué sé yo!«, sagt die Geste, eine der argentinischsten überhaupt. »Was weiß ich.«

Sein Name ist Kaninchen, meinetwegen.

Cristian und ich werden vier Tage pilgern, von Maschwitz, einem Vorort von Buenos Aires, bis nach San Nicolás de los Arroyos, der Stadt am Río Paraná, 240 Kilometer oder so. Anders gesagt: ein klitzekleines Stückchen durch die Riesenprovinz Buenos Aires, die so groß wie Deutschland ist, Heimat von 16,5 Millionen Menschen. Es ist die 32. Wallfahrt; ein paar Hundert Pilger werden erwartet.

6.40 Uhr.
Das Kaninchen bekommt einen Kuss, wie sich das zur Begrüßung und zum Abschied gehört in Argentinien, auch unter Männern. Alles gut? Klar. Freut mich. Mirá vos, un alemán1. Das Schöne an Argentiniern ist ja, dass sie im Umgang mit Europäern keinerlei Berührungsängste haben; man begegnet sich auf Augenhöhe. Bolivianer, Paraguayer oder Peruaner sind da deutlich schüchterner.

»Cheeee2 alemán, ich stell dir mal meinen kleinen Bruder vor«, sagt das Kaninchen und zeigt auf einen Glatzkopf. Der heißt – wie könnte es anders sein – Conejito, kleines Kaninchen.

7.36 Uhr.

Gottesdienst
Der Gottesdienst unter freiem Himmel hinter der Tankstelle ist vorbei. Wir sollen daran denken, hatte der Pfarrer in seiner Predigt gesagt, dass die Jungfrau von San Nicolás, zu der wir pilgern, la Virgen del Rosario de San Nicolás, nicht vor uns sei, nicht weit in der Ferne. »Sie ist immer bei euch, sie begleitet euch.« Außerdem müssen wir aufeinander aufpassen, wir alle sind hermanos peregrinos, pilgernde Schwestern und Brüder.

Claro. Auf geht’s. ¡Vamos!

Gepäck

9 Uhr.
El conurbano, der Ballungsraum der Hauptstadt, den wir heute durchpilgern, ist wahrlich keine Schönheit. Nein, er ist geballte Hässlichkeit: Industrieparks, Gewerbegebiete und Hochhaus-Skelette, dazwischen das kleine und mittelständische Unternehmertum Argentiniens aus Reifenbuden, Autowerkstätten, Kiosken und Versicherungen. Links und rechts der 1967 Kilometer langen Panamerica in Richtung der Hafenstadt Rosario (Provinz Santa Fe) gibt es nichts, was nicht herumliegt: Essenreste, Bauschutt, zerfetzte Reifen, ausgebrannte Autos, Heckscheiben, Frontscheiben, Seitenscheiben, Ölfässer und Farbeimer, Jalousien, Sofas, Kabel, Fernseher und anderer Elektroschrott, jede deutsche Mülldeponie hat weniger im Angebot. Es riecht mitunter sogar nach überfahrenem Hund.

Müll 2

»Räumt diesen Dreck denn keiner weg?«, frage ich Cristian.

»Es ist Montag, boludo3

10 Uhr.

Jungfrau 2
Es gibt drei Jungfrauen auf dieser Wallfahrt: Die eine ist auf das Dach des dunkelgrauen Peugeot geschraubt, der ganz vorne fährt; die anderen Marias werden von Pilgern getragen – jeweils mithilfe zweier Stangen, einer Art Barren, dem Schrecken meines Turnunterrichts. Eine dieser Jungfrauen habe ich jetzt auf den Schultern, weil mich Cristian als Ablösung für den hinteren Träger vorgeschlagen hatte: »Leute, der Deutsche will auch mal!«

(Er selbst wird sich bis zum Ende der Wallfahrt erfolgreich drücken.)

Jungfrau

10.05 Uhr.
Oh, wie das beflügelt! Gracias, Santa Maria, Madre de Dios. Ich bin sowieso jemand, der gern Verantwortung übernimmt, und marschieren konnte schließlich schon der deutsche Landser.

10.15 Uhr.
Viel wiegt sie ja nicht, unsere Jungfrau.

10.18 Uhr.
Das Gehen im Takt mit dem Vordermann schlaucht trotzdem.

10.20 Uhr.
Und die Stangen drücken auch.

10.22 Uhr
Ich verschleppe ein bisschen das Tempo.

10.25 Uhr.
Ablösung. Wurde auch Zeit.

12 Uhr.
Wir gehen seit zwei Stunden auf der abgesperrten rechten Spur der Autobahn, begleitet von Motorradpolizisten. Ab und an rasten wir, dann verteilen Helfer Äpfel und medialunas de manteca, also Croissants mit süßem Butterüberzug; heißes Wasser für den Mate gibt es per Selbstbedienung an der Gulaschkanone, die mit uns fährt.

Gulaschkanone und Cristian

> Gulaschkanone und Cristian

13 Uhr. Campana

Rast 2
Zum Mittag bekommen wir eine Schale Polenta, also Maisgrießpampe, ein argentinisches Nationalgericht. Ich tue oberpatriotisch, als würd‘s mir schmecken – bis Cristian und ein paar andere Jungs, die wir inzwischen kennen gelernt haben, anfangen zu meckern. Ja, scheußlich, der Fraß, ist ja auch nichts drin in dieser Polenta, keine Tomate, kein Käse, nicht mal Salz.

Polenta pur

> Polenta pur

Jesús, ein gebürtiger Peruaner, isst Bondiola, fettiges Nackensteak vom Schwein im Baguette; 60 Pesos hat er an der Bude nebenan bezahlt, umgerechnet fünfeinhalb Euro, ein Wahnsinnspreis, aber Jesús schwärmt trotzdem.

»¡Trampa!«, sagt Cristian. »Mogelei.«

»¡No vale!«, sage ich. »Zählt nicht.«

Cristian und ich sind orthodoxe Pilger: Wir werden essen, was alle essen; wir werden uns auch im Zustand allergrößter Erschöpfung und unmenschlicher Schmerzen keinen Meter vom Begleitauto mitnehmen lassen; wir werden in keinem Hotel schlafen. Leute, die eine Luftmatratze dabei haben oder heute Morgen in Maschwitz gar eine richtige Matratze in den Truck mit all dem Gepäck verfrachtet haben, verachten wir.

Erlaubt sind: Schmerztabletten (Actron 600), Creme (Diclofenac) und Mate (Taragüi).

14 Uhr.
Cristian hat seine Gitarre eingepackt, aber, wie er gerade feststellt, keine Zahnbürste. Kein Problem, mach dir keinen Kopf, amigo, das kenne ich von zu Hause, da steckt auch jeden Morgen meine Bürste in einem Kindermund, und ich nehme dann halt die der Frau. Eigentum wird überschätzt. Seine Gitarre wird Cristian exakt einmal benutzen (um sie zu stimmen), meine Zahnbürste – nach einem Tag des Widerstands – indes morgens und abends.

15 Uhr.
Dieser Fußmarsch entlang der Autobahn ist vielleicht das Langweiligste, das ich in drei Jahren Argentinien erlebt habe.

Autobahn

15.38 Uhr.
Ach nein, doch nicht, guck mal da: Zwei Frauen und ihre zwei Töchter auf einem Moped! Alle ohne Helm! Und jetzt überholen sie ganz frech den Bullen, der neben uns fährt.

Vor eineinhalb Jahren wurde in der Provinz Buenos Aires hektisch ein Anti-Kriminalitäts-Gesetz erlassen. Seit dem 15. April 2014 sollen der Fahrer und sein Hintermann das Kennzeichen auf dem Helm und einer reflektierende Weste tragen, damit Diebe und Einbrecher, die auf dem Motorrad unterwegs sind, besser verfolgt werden können. Wer gegen diese Vorschrift verstößt, so das Gesetz, dem kann die Polizei die Maschine und den Führerschein wegnehmen. Es war ein großer Aufreger damals, ich erinnere mich gut.

Und jetzt? Der Polizist guckt erst leicht interessiert hin – und dann schwer desinteressiert weg. Fast alle Biker an diesem Tag sind mit nacktem Kopf unterwegs, und nicht einer trägt die reflektierende Weste mit Kennzeichen. Argentinien ist eben auch: das Land vieler Gesetze, die man ignorieren kann, weil Polizisten gerade keinen Auftrag haben oder keine Lust, die Einhaltung zu überwachen. »Hecha la ley, hecha la trampa«, sagt ein hiesiges Sprichwort, das so viel bedeutet wie: Für jedes neue Gesetz, das uns Argentinier maßregeln will, gibt es ein Schlupfloch.

17 Uhr.
Wir halten jetzt alle 20 Minuten.

Rast

Rast

18 Uhr.
Es gibt Kürbissuppe von »Knorr«.

19 Uhr
Schon wieder Kürbissuppe.

Wir sind da.

Kann nicht sein. Wir stehen auf der Plaza Cementerio, dem Friedhofsplatz, der Stadt Zárate.

Das waren höchstens 40 Kilometer heute, niemals 60. Eine Durchsage, per Mikrofon aus dem dunkelgrauen Jungfrau-Maria-Peugeot: Alle rein in die Busse, Frauen und Kinder zuerst.

Busse? Wir fahren?

Ist das peinlich. Halb Buenos Aires hatte ich von meiner bevorstehenden Expedition erzählt, vor allem Frauen natürlich. 60 Kilometer am Tag, 240 Kilometer in vier Tagen, und regnen soll es auch, ich weiß wirklich nicht, ob wir uns wiedersehen, es kommen doch nie alle durch. Die Qualen und ich, wir waren schon Wochen vor dem Aufbruch eins geworden. Ich humpelte ja selbst zu Hause, unbeobachtet, so sehr war ich in meiner Rolle.

Demonstrativ steige ich als einer der Letzten in den Bus; gegen meinen Willen finde ich einen Sitzplatz.

20 Uhr
Wir liegen in der Turnhalle der Metallgewerkschaft von Zárate, das Kaninchen und ich Isomatte an Isomatte, Cristian ein paar Meter entfernt.

Mit Cristian (m.) und dem Kaninchen

> Mit Cristian (m.) und dem Kaninchen

Zárate

21 Uhr.
Nudeln mit Käsesoße für alle!

21.03 Uhr.
Nachschlag, bitte.

21.15 Uhr.
Nein, ich hatte noch keinen Nachschlag.

Die Käsesoße ist aber aus.

23 Uhr.
Noch ’ne Durchsage: In zehn Minuten geht das Licht aus. Gute Nacht, liebe Pilger, schlaft alle schön. Bis morgen um sechs!

1 Uhr.
Ein Höllenlärm neben mir. Das Kaninchen schnarcht.

♦♦♦♦♦

  1. Schau an, ein Deutscher []
  2. argentinischer Ausruf: Hey! []
  3. Schwachkopf, Depp; Anrede unter Freunden in Argentinien []

Jenseits von Belgrano, im Wilden Rheingau – ausgerechnet am Feiertag

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

 

Der Autor hat als Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle in Buenos Aires gelebt und ist festes Ensemblemitglied des Argentinischen Theaters Tagebuchs.

 

♦♦♦♦♦

 

Wissen Sie, ich hatte eine Schreibstube in Buenos Aires, am Fuß des Belgrano-Hügels.

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Die Äquatorlinie zog sich 2460 Meilen weiter nördlich durchs Tiefland, doch meine Stube lag 19 Stockwerke über dem Fluss. Der Himmel war unfasslich blau, die Züge unfasslich kaputt, doch wir hatten unser Auskommen und die wöchentliche Mordrate war erträglich.

 

»Geh’ für das Argentinische Tagebuch nach Deutschland, als Korrespondent«, hieß es irgendwann. »Da kannst Du was erleben, und vielleicht zahlen wir auch was«, hieß es. Das hatte den Ausschlag gegeben. Heute weiß ich, dass sie mich loswerden wollten. Zu erfolgreich geworden, verstehen Sie? Bei den Lesern. Und bei den möglichen Praktikantinnen. Und im Fußball, natürlich.

 

Jetzt soll ich also aus diesem Deutschland berichten.

 

Na gut.

 

Wir gingen nach Osten, zu den Westgoten.

 

Die Westgoten: leben in Regen & Dunkelheit. In Deutschland regnet es praktisch immer. Die Meteorologen behaupten zwar etwas anderes, aber die haben nur Schiss um ihre gutbezahlten Jobs im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das Wetter ist fast so schwer auszuhalten wie die Tatsache, dass es in diesem Land kein gutesrichtiges Fleisch gibt. Hier haben sie Hühnchen (pollo), Schwein (cerdo) und Tofu (tofu). Und Bio-Rind, das schmeckt, wie eingeschlafene Fußsohlen (pies durmidos). Weil es in einem aus veganem Magerjoghurt destilliertemhandgewalktem Bratfettmittel angewärmt wird.

 

Viele Korrespondenten aus zivilisierten Ländern leiden deswegen unter Mangelerscheinungen und Fehlernährung. Wenn der Herausgeber CW erfährt, dass ich der hiesigen argentinischen Sektion der anonymen Vegetarier beigetreten bin, kürzt er mir die Auslandszulage. Aber irgendwas müssen wir ja essen. Vegetariertum wird in Deutschland übrigens nicht von der Krankenkasse bezahlt. Es gilt sogar als Eintrittskarte in Politik, Gesellschaft und Höhere Kreise.

 

Aba ick schweife ab.

 

An Feiertagen, die hier übrigens immer ›Sonntage‹ genannt werden, auch, wenn sie auf einen anderen Wochentag fallen, was wiederum daran liegt, dass die Deutschen für ihr Geld arbeiten müssen und kaum Feiertage haben – an solchen Feiertagen also: geht der Deutsche gerne in die Natur.

 

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Er nennt das »wild romantisch«. Ich verlange für sowas Schlamm-Zulage (die der Geizhals CW natürlich nicht zahlt).

 

Der Deutsche ist so gerne in der Natur, weil Goethe (JWv, 1749-1832, Nationaldichter, völlig überschätzt, höchstens ein Drittel der Sachen taugt was – um Ihnen den Link auf die Wikipedia zu ersparen, haha!) gesagt hat: »Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.« Wenn det Cristina wüsste, wa!?

 

Mein Fehler also, wenn ich nasse Schuhe habe, Ende (!) Mai (!) einen Schnupfen bekomme und die Aufstiegsfeiern von Darmstadt 98 verpasse. Danke für nichts, Goethe!

 

Der Deutsche hingegen hört auf seinen FührerNationaldichter und frönt der Natur, die er auch gerne »Mutter«  nennt, aber das ist ein anderes Thema. Zum Beispiel als kontemplierende Künstlerin

 

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als grimmiger Single mit klarer Perspektive

 

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oder als energisches Paar mit Karriereambitionen

 

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Um es mit dem Dichterwort zu sagen: »Wie es Euch gefällt« (GoetheMadonnaGrönemeyerShakespeare).

 

Doch am Ende des Tages hat auch der Park ein Ende: »Hier riecht’s nach Pferd, hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« (GoetheWaalkesMK): Im Schatten des Schlosses. In B. bei W.! Das ist ja wie zuhause, joder!! Bár!ba!ro!! Wie, wenn man an der Plaza Italia aussteigt und unter strahlendem Himmel auf das ehrwürdige Portal zuschreitet, um mit der von den üblichen Verdächtigen organisierten Ehren-Eintrittskarte die halbe Familie für umsonst an den wartenden Besuchern vorbei…

 

Aba ick fange zum Heulen an!

 

So ne Art Rural, jedenfalls. Nur halt für das Landleben nahe des Polarkreises. Also ohne Kühe. Dafür mit Handschuhen, Decken und was der Verteidiger der Nordwand sonst noch braucht

 

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Pfingst-Reitturnier in B. bei W. am R.: Champagner. Chapeau. Schale Erdbeeren mit Sahne € 5,20 (= AR$ 52, wenn Sie nicht schwarzgeschickt tauschen). Und es gewinnt? Damas & Caballeros? Im herbstlichen Mai? Mitten in Deutschland? Kein Gaucho. Sondern: ein Mexikaner. Singende caballeros auf’m bombigen Beat!

 

 

In der TexMex-Kneipe um die Ecke meckert der Besitzer (ein Italiener!), dass der Mexikaner für einen katarischen Stall reitet. Aber nicht von Blatter bezahlt wird.

 

Endlich vertraute Töne. Wir essen. Es ist warm. Spesen gehen auf den Herausgeber. Haha!

♦♦♦♦♦

Alle Texte aller Gastautoren des Argentinischen Tagebuchs

Robinson Wese, ein Katzenfresser und eine Fähre, die nicht kommt: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Paraguay (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Letzter Tag: Formosa (Argentinien) − Alberdi (Paraguay)

♦♦♦♦♦

Wir Menschen sind so. Wir wollen seit Urzeiten erfahren, was da am Horizont schimmert, wie es hinter dem Berg aussieht, der uns den Blick verstellt, und wer am anderen Ufer lebt. Schon unsere Vorfahren segelten drauflos, ins Unbekannte und Ungewisse, wieder und wieder. Jahrhunderte später umkreisten wir die Erde und landeten in einem Filmstudio auf dem Mond. Ohne unseren Pioniergeist würden wir vielleicht noch immer in Höhlen und Hütten hausen.

Apropos Hütten: Vor mir liegt der Straßenmarkt von Alberdi, und ich breche meine Expedition jetzt ab. Aber ich komme ja gerade vom Schiff, ich habe es schon auf die andere Seite des Río Paraguay geschafft. Den nächsten Schritt sollen andere tun.

Alberdi 11

> Auf dem Río Paraguay, kurz vor der paraguayischen Grenzstation

Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

> Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

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Es ist bestimmt zwei Jahre her. Mein Freund Pablo war mit einem Pfarrer verabredet, der in der Villa 31, einem berühmten und noch berüchtigteren Elendsviertel von Buenos Aires, als Seelsorger arbeitet. Als wir davor standen, rief Pablo den Geistlichen an und bat um Begleitschutz. Man soll nie allein solche Orte betreten – hinein kommt man natürlich immer problemlos. Ein paar Minuten später holte uns ein junger Mann ab, er trug ein Trikot des Fußballklubs Newell’s Old Boys aus Rosario, mit leichtem Abstand folgte ihm ein etwa Gleichaltriger, auch er sportlich gekleidet, aber nicht elegant. Pablo würde sie später so charakterisieren:

Es gibt Typen, denen du nachts niemals, unter keinen Umständen über den Weg laufen willst. Für diese Jungs galt das auch am Tag.

Nun ist es guter Brauch in Argentinien, Fans und Spieler aus Rosario als »Katzenfresser« (come gatos) zu beschimpfen. Einer Legende nach sollen die Rosarinos nämlich auf diese Weise während der großen Krise von 2001 ihren Hunger gestillt haben.

»Cheeeee1 Katzenfresser, hast du heute schon eine Mieze verspeist?«, brüllte ich zur Begrüßung. Ich wollte beweisen, was ich als Ausländer über Argentinien schon alles weiß. Was ich nicht wusste, war, dass der Newell’s-Fan und sein Begleiter nach jahrelangem Drogenkonsum gerade erst einen Entzug begonnen hatten. Pablo war sicher, unser vermeintlicher Beschützer werde ausrasten und uns aus Rache den schlimmsten Kriminellen der ganzen Villa zum Fraß vorwerfen. Er tat es nicht, aber Pablo erzählt diese Geschichte seitdem allen Leuten, die mich noch nicht für einen boludo2 halten.

Ich fahre dann mal zurück nach Formosa.

Ähm, nichts da. Ich müsse mindestens eine weitere Stunde warten, sagt der paraguayische Grenzbeamte, ich sei ja noch gar nicht in seinem System registriert. Welches System denn, Du Angeber? In Formosa hatte ich umgerechnet zwei Euro für die Fähre nach Alberdi bezahlt. Ich bekam eine eingeschweißte Visitenkarte der Fährgesellschaft, die sich später als Fahrschein erwies. Dann ließ sich ein Opa meinen Reisepass reichen und tippte auf einer mindestens 50 Jahre alten Schreibmaschine meine Daten auf die Passagierliste. Genau so ein verrostetes Ding steht jetzt hier noch mal.

Alberdi 10

»Guck dir den Markt an.«

»Habe ich schon.«

»Du bist gerade erst angekommen.«

»Es sieht nach Regen aus.«

»In Formosa regnet‘s schon. Es kommen erst mal keine Fähren mehr.«

Das ist nicht gut. Ich muss heute zurück nach Buenos Aires und in weniger als drei Stunden zum Flughafen. Aber ein bisschen Zeit ist ja noch.

»Könnte knapp werden«, sagt der Grenzbeamte.

Eine halbe Minute später fängt es an zu schütten. Ich gehe erst mal pinkeln. Die Toilette befindet sich draußen und ist ein bisschen schwer zu finden, aber eine Frau, die neben dem Schalter des Grenzbeamten einen Stand mit Leggins betreibt und auch Sandwiches verkauft, weist mir den Weg. Geh mir weg mit deinen ekelhaften Sandwiches, señora!

Andere Toilette in Alberdi

> Andere Toilette in Alberdi

Es blitzt und donnert.

Wo, zum Teufel, bin ich hier bloß? Die Holztür des Klos steht offen, weil irgendjemand mit einem Schnürsenkel die Klinke an der gegenüberliegenden Wand angebunden hat. Das muss ein nagelneuer, jedenfalls noch nicht entschlüsselter Seemannknoten sein, ich zuppele und zuppele. Hilfe, Hilfe, wenn nicht schnell was passiert, bin ich nicht mehr nur obenherum durchnässt.

Vielleicht sollte ich öfter mit dem Smartphone in der Hand aufs Pinkelndürfen warten müssen. Was man da alles lernt! Alberdi hat laut Wikipedia 7588 Einwohner und ist damit die zweitgrößte Stadt des Verwaltungsbezirks Ñeembucú. Benannt wurde sie nach einem großen Argentinier, dem Anwalt, Juristen, Ökonom, Politiker, Diplomaten, Staatsmann, Schriftsteller und Musiker Juan Bautista Alberdi (1810-1884). Damals gab es offenbar noch Alleskönner. Alberdi gehörte mit anderen argentinischen Intellektuellen wie Justo José de Urquiza, Domingo Faustino Sarmiento und Bartolomé Mitre zur »Generation von 1837«, die für die Demokratie kämpfte. Er ist der Vater der noch heute gültigen Verfassung von 1853. Anders als Mitre, Urquiza und Sarmiento aber wurde Alberdi nie Präsident Argentiniens. Im Tripel-Allianz-Krieg stand er auf der Seite Paraguays, ach, deshalb die Ehre. Der Tripel-Allianz-Krieg war der von 1864 bis 1870 dauernde Kampf …

Ah, eine Frau kommt, offenbar die Eigentümerin der Toilette. Sekundenschnell löst sie den Knoten, und ich verhandele gar nicht erst, sondern zahle direkt fünf Pesos, umgerechnet 50 Cent.

Keine Fähre wird kommen.

> Keine Fähre wird kommen.

Mittlerweile ist der Strom ausgefallen. Clever, wie ich bin, setze ich mich unauffällig in die Nähe des Legginsstands, wahrscheinlich bricht schon bald der große Ansturm auf die Sandwiches los. Ich will Käse-Schinken! Außerdem besitzt die Frau eine Taschenlampe, das kann heute noch kriegsentscheidend sein.

Einer der Gestrandeten erzählt, drüben in Formosa klare der Himmel angeblich schon wieder leicht auf. Wenn ich das hier überlebe, schreibe ich einen Abenteuerroman. Freitag ist heute auch, das passt ja.

Soll ich schon resümieren? Doch, es hat sich gelohnt, hierher zu reisen. Ich liebe Buenos Aires, ich werde Buenos Aires immer lieben. Aber dort lebend, vergisst man leicht, dass die Stadt nur ein winziger Teil dieses Riesenlandes ist und wahrscheinlich der am wenigsten südamerikanische.

Die Tangosängerin und -komponistin Eladia Blázquez (1931-2005) hat ihre Liebe zu diesem Land und seinen Leuten einst so erklärt:

Wie könnte ich leben, ohne dich zu sehen,
da ich doch weiß: ich gehöre hierher,
wo das Gefühl stets mehr zählt als der Verstand.
Denn Argentinien hat verrückte Schwalben im Herzen,
dort malt sich die Hoffnung immer wieder neue Farben aus
und werden die Menschen nicht müde zu träumen und zu lieben.

Zitat aus dem Reiseführer von Jürgen Vogt: »Argentinien mit Patagonien und Feuerland«

Der Porteño schaut gern mitleidig oder gar abschätzig aufs interior, das Hinterland, und sieht dort alles, was er nicht braucht: schlechten Fußball, unbefestigte Straßen, schmuddelige Restaurants, Hinterwäldlertum auf zwei Beinen, ein kollektives Schlurfen durch den Alltag.3 Langsamer geht es im Nordosten in jedem Fall zu, ich fühle mich regelrecht entschleunigt nach vier Tagen. Nur: Notorisch unpünktlich sind im Prinzip alle Argentinier − die in Buenos Aires allerdings hetzen sich beim Zuspätkommen auch noch ab.

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> Ankunft in Alberdi: die Grenzstation auf dem Río Paraguay

Alberdi 12

Alberdi 7

Die Fähre kommt! Es wird voll werden, aber gegen Nähe habe ich mittlerweile nichts mehr. Gestern Nachmittag, auf der Rückfahrt von Resistencia nach Formosa, schlief im Bus sogar ein kleines paraguayisches Mädchen, drei oder vier Jahre alt, an meiner Schulter. Seine Mutter lag weiter hinten, verteilt über beide Sitze.

Herrschaften, ist das ein Geschnatter an Bord. Holt doch mal Luft! Der Frauenanteil auf diesem Kahn liegt bei mindestens 90 Prozent – der Rest: Bettdecken in durchsichtigen Tragetaschen und ich. Ein Baby hat die Füße auf meinem Schoß gelegt, und jetzt packt seine Mama ihre Brust aus und beginnt zu stillen. Ich halte mal die drei Einkaufstüten so lange, ja? Ach was, kein Problem.

Kannste nicht erfinden.

Alberdi 9

17.36 Uhr. Ich bin tatsächlich pünktlich am Flughafen − das Flugzeug leider nicht. Es steht noch in Buenos Aires. Liegt bestimmt am Unwetter. Zum Glück habe ich Mate dabei.

18.49 Uhr. Für zehn Sekunden Stromausfall im gesamten Flughafen; völlige Dunkelheit.

18.55 Uhr. Um neun soll das Flugzeug starten. Also, in Buenos Aires. Ich könnte natürlich für ein paar Stunden zurück ins Zentrum von Formosa. Aber dann kommt das Flugzeug doch früher an als erwartet. Murphys Gesetz und so. (Argentinien ist sein Lieblingsland.)

19 Uhr. Wie man hört, streiken ein paar Angestellte von Aerolineas Argentinas, um 40 Prozent mehr Lohn zu bekommen und nicht bloß die vereinbarten 25. Das kann eine lange Nacht werden.

19.13 Uhr. ‘Ne Durchsage! Seid doch mal leise! Ruhe dahinten! Der Flug ist gestrichen. Rudelbildung am Check-in-Schalter. Ich bin bereit, die Meute anzuführen. Holt eure Mistgabeln, Leute. Zapft Benzin ab, so viel ihr könnt. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.

19.25 Uhr. Wir sind zu müde für Randale, und morgen Früh um elf kommt ja ein großes Flugzeug. In das passen wir dann alle rein. Verspricht die arme Sau am Check-in-Schalter.

19.27 Uhr. Halt. Morgen ist ja Sonnabend. Da kommt vielleicht doch kein großes Flugzeug. Benzin! Und Mistgabeln! Und Mist! ¡Qué se vayan todos!4

19.35 Uhr. Ich hätte noch viel länger in Alberdi bleiben können.

 

Allerletzter Tag

♦♦♦♦♦

14.35 Uhr. Die Maschine landet mit zwei Stunden Verspätung in Buenos Aires. Wie sich Zivilisation anfühlt? Nun, der Taxifahrer rast mit neunzig durch die Straßen der Hauptstadt, sieben Minuten brauchen wir vom Flughafen bis zur Haustür.

Nie war ich schneller zu Hause.

  1. argentinisch für »hey« []
  2. Schwachkopf oder Depp []
  3. All das kennt der Porteño natürlich auch aus seiner eigenen Stadt. []
  4. »Alle sollen sie verschwinden!«; Schlachtruf der Proteste während der Krise 2001 gegen die Politiker []

Faule Gnocchi, Frauenüberschuss und ein kleines Krokodil zum Abendessen: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Asunción (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Erster Tag: Formosa

♦♦♦♦♦

Sollten Sie, lieber Leser, eines Tages mit mir, aus Gründen, über die ich an dieser Stelle nicht spekulieren will,1 gemeinsam in der Wüste landen − keine Sorge, die Oase würde ich wohl finden. Falls Sie aber zu den Pyramiden wollen, die gar nicht zu verfehlen sind, fragen Sie bitte jemanden mit Orientierungssinn.

Es ist mein erster Tag im argentinischen Nordosten, ich bin 1200 Kilometer entfernt von Buenos Aires und suche die goldene Perón-Statue. Seltsamerweise stehe ich im Augenblick allerdings vor der Coca-Cola-Fabrik.

Perón-Statue in Formosa

> Perón-Statue in Formosa

Das mexikanische Unternehmen Arca Continental, dem sie gehört, ist einer der wenigen echten Arbeitgeber in der Hauptstadt Formosa und der gleichnamigen Provinz. Die 400 Jobs im Abfüllwerk sind gut bezahlt und entsprechend begehrt. Denn eine nennenswerte Industrie gibt es nicht, und Formosas Tourismus ist auch noch keine Branche, nur Slogan: »El Imperio del Verde«, das Grüne Imperium.

Wichtiger als Coca-Cola ist nur der Staat.

95 Prozent des Provinzhaushalts bezahlt die Nationalregierung. Hilfe säen, Treue ernten, so haben es auch die Vorgänger der Präsidentin Cristina Kirchner gehalten. Deren linksperonistische Siegesfront (Frente para la Victoria) erreichte bei den Parlamentswahlen vor eineinhalb Jahren 60 Prozent in Formosa – fast doppelt so viel wie im Landesschnitt. Bei ihrer triumphalen Wiederwahl 2011 hatte Kirchner hier gar 78 Prozent geholt – landesweit kam sie auf 54.

Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

> Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

Vier Tage habe ich Zeit, um Formosa und Chaco zu bereisen, jenen Teil des argentinischen Nordostens, den ich noch nicht kenne. Misiones und Corrientes, die beiden anderen Provinzen des NEA, habe ich vor zweieinhalb Jahren mit dem Auto durchquert. Vier Tage, lächerlich. Formosa ist die fünftkleinste Provinz und trotzdem größer als der Freistaat Bayern – ein weites, weitgehend leeres Land mit nur 580 000 Einwohnern.

Der goldene Perón muss hier irgendwo sein. Ich sehe ihn noch nicht, fühle ihn aber. Jeder Argentinier ist ja laut Perón Peronist, einige wissen es nur nicht. »Wir Peronisten sind wie Katzen«, hat der General gesagt. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Unmöglich, dass ich den Kerl nicht finde; das glaubt mir doch kein Peronist.

In Buenos Aires haben viele Leute den Kopf geschüttelt. Was will man in Formosa? Dort gibt’s doch nichts. Nichts außer Schmugglern, die Waren aus Paraguay – vor allem Fernseher und Mobiltelefone – auf den argentinischen Markt bringen, weil der für derlei Produkte wegen der Importrestriktionen unverschämte Preise verlangt. Zigaretten? Natürlich. Andere Drogen? Ja, auch.

Biertransport über den Río Paraguay

> Biertransport über den Río Paraguay

Übrigens hat sich der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen, den Formosa tatsächlich besitzt, zum Hotel sehr böse ausgelassen über die Porteños, die Hauptstädter. »Porteños wissen alles. Deshalb mögen wir sie auch nicht«, sagte er. »Wenn du dich in Buenos Aires nicht auskennst, bist du aufgeschmissen. Dann fährt dich der Taxifahrer zehnmal im Kreis. Fragst du jemanden nach dem Weg, zeigt der hier lang, obwohl du da lang musst. Aber immer weiß er alles, der Porteño.«

Keiner − keiner außer den Porteños, versteht sich − mag die Porteños, so ist das in Argentinien. Und je weiter man sich von ihnen entfernt, umso übler wird ihr Ruf. Hier in Formosa ist die argentinische Hauptstadt in vielerlei Hinsicht sehr weit weg. Die meisten Formoseños kennen sie vor allem aus den Nachrichten oder vom Hörensagen, und über solche Kanäle exportiert Buenos Aires reichlich Geschichten über Mord und Totschlag an jeder Straßenecke. Die Metropole ist ein Moloch, bevölkert von arroganten, egoistischen und kaltherzigen Kreaturen, die überdies mehr Europäer sein wollen als Latinos. In Formosa ist jeder zweite Mestize, also Nachfahre von Weißen und Indigenen. Man lebt viel ruhiger, sagen sie und meinen auch: Wir versuchen nicht, uns 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche gegenseitig übers Ohr zu hauen.

Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

> Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

Puerto Formosa 2

Auch geografisch liegt anderes näher als Buenos Aires: Paraguays Hauptstadt Asunción erreicht man mit dem Auto in zweieinhalb Stunden und mit dem Bus in vier. An Formosas Uferpromenade fahren halbstündlich Barkassen über den Río Paraguay nach Alberdi, dem Grenzort des Nachbarn. Dort kaufen Argentinier gerne ein, weil’s drüben billiger ist, und die Paraguayer schicken dafür ihre Kinder in Formosa zu Schule und lassen sich im Hospital de Alta Complejidad »Presidente Juan Domingo Perón« gesund machen (was nicht jedem Argentinier gefällt).

»Ufff, da hast du dich aber ganz schön verlaufen«, sagt der Mann an der Bushaltestelle. »Also, geh mal zehn Blocks geradeaus, nein elf, dann kommt eine große Kreuzung, und dort biegst du rechts ab, gehst zwei Blocks und danach …«

Immer geradeaus, dann sehen wir weiter.

»Warte, mein Chef kommt gerade«, ruft er hinterher. »Sollen wir dich an der Plaza absetzen?«

»Sicher?«

»He, du bist nicht in Deutschland. In Formosa haben wir Vertrauen zu den Leuten.«

Ich finde es ja schön, dass ihr mir vertraut, wirklich, das ehrt mich. Aber die Frage ist doch: Soll ich auch euch vertrauen?

Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

> Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

> Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

Formosa ist, je nach Statistik, die ärmste, die zweitärmste oder die drittärmste aller 23 argentinischen Provinzen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist das zweitniedrigste nach dem des Nachbarn Chaco und liegt mit 2879 Dollar weit unter dem Schnitt (8269; Deutschland: 40 000). Studien zufolge sind mindestens sechs von zehn Formoseños beim Staat angestellt, was selbst in diesem Land, dessen Bürgermeister, Gouverneure, Minister und Präsidenten immer auch Jobvermittler sind, ein überragender Wert ist.

Freilich, nicht alle Staatsangestellte arbeiten auch für den Staat. Argentinien ist ja voller ñoquis (Gnocchi), Leuten, die zwar offiziell beschäftigt werden, in irgendeiner Behörde oder im Rathaus, aber nur am Monatsende zur Arbeit kommen, wenn der Lohn verteilt wird. Der Spitzname leitet sich ab von den Ñoquis del 29, einem alten argentinischen Brauch, wonach die Familie am 29. des Monats Gnocchi isst, weil das Geld in der Haushaltskasse nicht mehr für eine bessere Mahlzeit reicht.

»Danke fürs Mitnehmen, muchachos

Der Straßenmarkt der Paraguayer (Formosa)

> Der Straßenmarkt der Paraguayer

Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren, kaufe den Paraguayern auf dem Markt ein paar CDs mit argentinischer Rockmusik ab und lege mich dann früh schlafen. Morgen muss ich fit sein.

Die neue Uferpromenade von Formosa

> Die neue Uferpromenade von Formosa

Zweiter Tag: Asunción

♦♦♦♦♦

Hätte ich doch weniger Bier getrunken. Oder wenigstens schneller. Nicht bis Mitternacht. Aber Emilio hatte mich überredet, mit Blick auf den Río Paraguay zwei Delikatessen der regionalen Küche zu kosten: als Vorspeise trozos de yacaré rebozados en harina y huevo, den Brillenkaiman aus der Familie der Alligatoren, paniert mit Mehl und Ei; und als Hauptgang Surubí al paquete, den in Folie eingewickelten Pseudoplatystoma aus der Familie der Antennenwelse. Mein erster Abend in Formosa: viel Bier, ein knuspriges kleines Krokodil und ein gut geölter Süßwasserfisch.

Surubí al paquete

> Surubí al paquete

Jetzt, um 3.45 Uhr, klingelt mein Wecker. Ich habe nicht mal Kaffee da, und die Hotelküche ist noch geschlossen, also trinke ich zwei Tassen Cola. Die Dusche gibt kein warmes Wasser. Vielleicht bin ich auch zu blöd, die drei Knäufe zu bedienen, bei mir kommt jedenfalls nur kaltes oder gar kein Wasser. Um halb fünf stehe ich vor dem Hotel. Emilio hat einen Bekannten, der nachts Taxi fährt und mich zum Busbahnhof bringen wird.

Fünf Uhr. Um den Bus nach Asunción nicht zu verpassen, kümmere mich jetzt mal selbst um ein Taxi. »In diesem Land hat man immer das Gefühl, gleich geschieht was Schreckliches, und dann geschieht gar nichts«, lässt der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (1934-2010) eine Figur seines Romans Der Flug der Königin sagen. »Alles wird weitergehen wie bisher, du wirst schon sehen.«

Wollen wir hoffen, dass die anderen Passagiere genauso müde sind wie ich immer noch.

Busbahnhof von Formosa

> Formosas Busbahnhof morgens um halb sechs

»¡Señor! ¡Señor!«

Kann die verfluchte Alte bitte nicht so brüllen?

»¡Seeeeñññoooorrr! ¡Seeeeñññoooorrr!«

Oder kann sie der verdammte Señor mal hören?

»¡Seeeeeeññññoooooorrrrr! ¡Seeeeeeeññññoooooorrrrr!«

Ach Gott, die meint mich. Ich muss zwei Stunden durchgeschlafen haben, wir haben jedenfalls die paraguayische Grenze schon erreicht. Nur noch die freundliche Señora, ihre Tochter und ich sind im Bus. Das Mädchen, vielleicht elf Jahre alt, schaut mich verängstigt an. Wenn ich Glück hatte, habe ich nur laut geschnarcht. Mein Kinn ist allerdings ein bisschen feucht, das deutet auf sinnloses Gebrabbel im Schlaf hin – mit falscher Spanischgrammatik und schwerem Akzent. Beruhig dich, Kleines. Der alte weiße Mann ist okay.

> Argentinisch-paraguayische Grenze in der Stadt Clorinda

Paraguay 3

Ich bin der Letzte in der Schlange und stehe auch am Schalter wieder länger als alle anderen. Der Grenzbeamte studiert seelenruhig alle Aus- und Einreisestempel; ich habe bolivianische, chilenische, brasilianische, uruguayische, viele argentinische, dazu noch ein paar aus der Ukraine. Señor, ich will nur Asunción angucken. Ja, ich komme heute Abend zurück. Exactamente, ich lebe in Argentinien. , schon ‘ne ganze Weile. (Du hast doch all meine Visa, auch die abgelaufenen, zwei Minuten lang angeglotzt, ¡boludo!2)

Ringsherum sind die Geldwechsler unterwegs, einen Bündel Scheine in der Hand. Amigos, ich habe schon Guaraníes. 207 000! Emilio hat sie mir gestern Nacht geliehen, damit ich nicht bei euch Geiern zum miesen Kurs wechseln muss, sondern erst mal mit dem Taxi ins Zentrum fahren kann. 207 000 Guaraníes sind bei einem Peso-Wechselkurs von 1:380 … nee, das kann ich natürlich zu dieser frühen Stunde nicht … also irgendwas um 500 Peso vielleicht … also 50 Euro. Die Geldwechsler waren vorhin auch schon im Bus, ich habe sie im Halbschlaf gehört. Das war kein Traum, ich erinnere mich genau.

Puh, geschafft. Ich leg mich noch mal hin, lese ein bisschen und warte darauf, dass ich wegdöse.

Der Flug der Königin, erschienen 2002, verwebt die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen einem Chefredakteur und einer jungen Journalistin mit dem politischen Geschehen im korrupten Argentinien der späten neunziger Jahre, kurz vor dem Zusammenbruch. Tomás Eloy Martínez ist ein brillanter Erzähler.

»¡Venga!«

Der Busfahrer ist extra ins Oberdeck gestiegen. Mehr sagt er nicht. Ich soll nur mitkommen. Hoppla, offenbar habe ich zwar Argentinien verlassen, mich aber nicht von den Paraguayern aufnehmen lassen. Kann doch mal passieren, oder?

Na ja, sagt der Blick des Busfahrers.

Neben dem Schalter ist das Büro der paraguayischen Polizei, da muss ich jetzt auch noch schnell Hallo sagen, weil auf der Passagierliste des Busunternehmens hinter einem Namen das Häkchen fehlt. Sitzplatz 24. Ja, der bin ich.

Abfahrt.

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

Mein Freund Pablo schickt mir eine Nachricht. »Pass bloß auf«, schreibt er. »Die Paraguayerinnen sind äußerst warmherzig und die schönsten Frauen nach den Argentinierinnen.«

In Asunción herrscht Frauenüberschuss, wie es typisch ist für südamerikanische Metropolen. Hotels, Cafés und Restaurants, die weibliche Servicekräfte brauchen, sind auf dem Kontinent weitgehend ein Großstadtphänomen; hinzu kommt eine Wohlstandsschicht, die die Arbeit im Haushalt gern outsourct und sich bedienen lässt. Die Stadt gehört, demografisch gesehen, den Jungen: Mehr als die Hälfte aller Bewohner sind noch keine 30 Jahre alt; nur jeder zehnte hat die 60 schon überschritten.

Der Großraum Asunción ist auch einer der 20 großen Ballungsgebiete Südamerikas. Mehr als zwei der 6,7 Millionen Paraguayer leben hier. Täglich, so schätzt man, fahren 2,1 Millionen Menschen und mehr als 300 000 Fahrzeuge hinein in die Hauptstadt. Offiziell heißt sie übrigens: La Muy Noble y Leal Ciudad de Nuestra Señora Santa María de la Asunción, die sehr noble und treue Stadt unserer Heiligen Jungfrau Mariä Himmelfahrt. Asunción ist auch eine der ältesten spanischen Städte des Kontinents, gegründet 1537, eineinhalb Jahre nach Buenos Aires.

Ich kenne überhaupt keine andere paraguayische Stadt.

Der bekannteste Paraguayer?

Für mich: Roque Santa Cruz.

 

Der Polizist vor dem Busbahnhof meint, das Taxi ins Zentrum werde ungefähr 50 000 Guaraníes kosten. Mhhmm, das macht, du hast es gleich, fuffzig durch dreikommaacht, sagen wir: vier, la puta madre,3 ist das ein Wechselkurs de mierda, fuffzig durch vier sind zwölf, und jetzt noch die Nullen hinten dran, la concha de mi hermana,4 so schwer ist das doch … ach komm, gib auf, unmöglich. Versucht hast du‘s ja.

Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

> Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

Palacio de los López, der Präsidentenpalast

> Palacio de los López, der Präsidentenpalast

Das Nationalparlament

> Das Nationalparlament

Paraguay 9

Catedral Metropolitana, Bischofskirche des Erzbistums Asunción

> Catedral Metropolitana, die Bischofskirche des Erzbistums Asunción

Ich beschließe, mich treiben zu lassen. Kein Stadtplan. Mir bleiben ohnehin nur fünf, sechs Stunden, bis der Bus zurückfährt, und ich weiß ja ungefähr, was ich sehen will: das Parlamentsgebäude, die Kathedrale, den Panteón de los Héroes, in dem die Reste der Kriegshelden aufbewahrt werden, den stillgelegten Hauptbahnhof von 1861 und natürlich den Palacio de los López, den Präsidentenpalast. Seit zwei Jahren regiert dort der Konservative Horacio Cartes, ein gelernter Flugzeugmechaniker und Tabakbaron.

Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

> Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

Paraguays Ruf ist ja nicht der beste: Armut, Schulden, Korruption und Ungleichheit – von all dem hat das Land reichlich, mehr als viele andere Länder. Selbst für südamerikanische Verhältnisse soll es bisweilen ziemlich gesetzlos zugehen, und die Vetternwirtschaft hat ohnehin eine lange Tradition. In unguter Erinnerung sind auch die 35 Dienstjahre des Präsidenten Alfredo Stroessner (1954-1989). Der Sohn eines Buchhalters aus Oberfranken und einer Guarani-Indianerin war ein glühender Antikommunist und Tyrann, was erfahrungsgemäß keine angenehme Kombination ist. Stroessner ließ Widersacher foltern und trieb eine Million Landsleute ins Exil. Franz Josef Strauß verlieh ihm 1973 den Bayerischen Verdienstorden.

Ich kaufe doch mal einen Stadtplan. Wegen Pablos Auftrag sehe ich mittlerweile bloß noch Banken und Geldautomaten. Aber ich fühl mich wohl, ich bin vielleicht sogar verliebt, ein kleines bisschen. Eine Großstadt, die nicht unaufhörlich brüllt –  so etwas kennt man nach fast drei Jahren in Argentinien ja gar nicht mehr. Asunción ist jedenfalls zur Mittagszeit leiser als Buenos Aires nachts um drei, und das liegt nicht bloß an der Müllabfuhr, die dann durch unsere Straße rumpelt. (Also, jede Nacht um drei.) Hier ist es, als ob man Ohrenstöpsel trüge, so gedämpft erzählt Asunción von sich.

Der Stadtplan kostet 20 000 Guaraníes. Bestimmt ein Schnäppchen. ¡Vamos!

Polizistenverschnaufpause

> Polizistenverschnaufpause

Argentinier im Allgemeinen halten eher wenig von ihren Nachbarn – und trotzdem viel mehr als die umgekehrt von ihnen. Auf die Bolivianer, Brasilianer, Chilenen, Paraguayer und Uruguayer wirken sie überheblich und laut. Der Argentinier, heißt es, fällt, das Trikot seines Fußballklubs stets am Leib, ins fremde Land ein, flucht unaufhörlich und fordert: Bewundert mich!

Es ist kein Geheimnis: Argentinier bilden sich auf ihre Herkunft viel ein, obwohl es mit dem Land im Grunde seit 80, 90 Jahren − die Spanier sagen: seit dem 9. Juli 1816bergab geht. »Wenn ich abends nach Hause komme, ist die Straße menschenleer. Ich sehe nur Bettler, die sich daherschleppen«, sagt die junge Journalistin im Flug der Königin zu ihrem Geliebten, dem Chefredakteur. »Wir sind uns dessen gar nicht bewußt, Bitte,5 aber Buenos Aires verändert sich. Es ist ein Schmetterling, der ins Larvenstadium zurückschlüpft.«

Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

> Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Asunción: Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Aber die ganz alte Vergangenheit glänzt nach wie vor. Lange war Argentinien ja die größte Nummer auf dem Kontinent. Die erste U-Bahn Lateinamerikas (und der gesamten Südhalbkugel) fuhr 1913 in Buenos Aires, auch das erste Kinderkrankenhaus (1875) stand hier. Es war ein Argentinier, der Chirurg René Favaloro, dem 1961 die erste Bypass-Operation am Herzen gelang. Der erfolgreichste Formel-1-Fahrer, bevor der Kerpener kam? El Balcarceño, Juan Manuel Fangio, fünfmal Weltmeister in den fünfziger Jahren, 24 Siege in 51 Rennen. Das schönste und beste Opernhaus der Welt laut Wilhelm Furtwängler, dem Jahrhundertdirigenten? Das Teatro Colón, eröffnet 1908 und fast gelegen an der breitesten Straße der Welt, der 9 de Julio. Wer kann bei so viel Pracht schon mithalten?

> Verlassener Mate

> Verlassener Mate

> Fotograf im absoluten Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

> Fotograf im Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

Die Nachbarn rächen sich mit schlechten Witzen. Wie begeht ein Argentinier Selbstmord?, fragen sie. – Er springt von seinem hohen Ego. Warum rennt er aus dem Haus, wenn‘s draußen blitzt? – Er denkt, Gott fotografiert ihn.

Ganz schön warm heute in Asunción. Ich kann die Jacke wohl ausziehen. Mein Trikot: das weiße vom Quilmes Atlético Club.

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

> Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Paraguay 17

  1. weil es nur um den fabelhaften Einstieg in diesen Text geht []
  2. Schwachkopf/Depp, sehr beliebte Anrede in Argentinien []
  3. argentinischer Fluch: puta = Hure, madre = Mutter, la = die []
  4. das Geschlechtsorgan meiner Schwester, nur derber []
  5. ihr Spitzname für den Chefredakteur []

¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch

von DIRK RÜGER

 

Der Autor lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

♦♦♦♦♦

»¡Estás igual!«, kräht es jedes Mal aus dem Mund meiner Freundinnen und Freunde. »Du hast dich gar nicht verändert!« Einerseits sind das ja die Komplimente, die man gerne hört mit fast 44. Andererseits ist es immer so eine Sache mit dem »Sich-nicht-verändert-Haben« – selbst wenn das zunächst nur der erste Eindruck ist, vor allem rein äußerlich gemeint.

Eine Ewigkeit − 17 Jahre − ist es her, dass ich Argentinien und vor allem Buenos Aires verlassen habe, wo ich (lediglich) zwei Jahre gewohnt, gelebt, studiert habe. Vor der Wirtschaftskrise (welcher denn?) 2001. Mit meiner damals hochschwangeren argentinischen Exfrau flogen wir im Juni 1998 nach Berlin. Ich wollte nur mein Studium beenden und dann spätestens nach dem Examen wieder zurückkehren nach Argentinien. Dann machte uns die große Krise einen Strich durch die Rechnung. Die Straßen brannten, und das halbe Land versank in Armut.

Juristische Fakultät

> Eine breite Straße in den Norden von Buenos Aires: die Avenida Figueroa Alcorta mit der Juristischen Fakultät (r.)

Ich war 1996 nicht unvorbereitet nach Argentinien gekommen. Ich hatte zuvor schon große Teile Südamerikas bereist, hatte in Perú ein Praktikum in einer Schule gemacht. Ich hatte durch mein Lateinamerikanistik-Studium und argentinische Freundinnen und Freunde Ahnung von Literatur (Sábato, Córtazar, Borges), Rockmusik (Sumo, Charly, Fito), Sozio-Kultur (Perón, Mate, Tango, Gauchos) und den Besonderheiten der Sprache (vos, che).

> Ezeiza, der internationale Flughafen von Buenos Aires

> Buenos Aires und sein berühmter Fluss, der Río de la Plata

Schon als ich das erste Mal in Buenos Aires ankam und mich mein Freund der Reisebürobesitzer (damals noch Student von irgendwas, jetzt in México lebend) in dem alten Fiat seiner Eltern vom Flughafen Ezeiza abholte, fühlte ich mich wie zu Hause. Obwohl ich bis dahin die Stadt nur aus Erzählungen von einem fünftägigen Besuch in Mendoza kannte: »Wenn du Argentinien richtig kennenlernen willst, musst du unbedingt nach Buenos Aires, das ist der Wahnsinn!«. Und das war auch 1996 schon mehr als zwei Jahre her.

Ich erlebte zunächst ein bonaerensisches Klischee: die italienische Einwandererfamilie des Reisebürobesitzers im »Vorort« Olivos, Boca-River-Fußballspiele im Fernsehen, sonntags selbstgemachte Lasagne, meine ersten Milanesas (argentinische Schnitzel, dem Wienerschnitzel nicht unähnlich, aber viel besser!), abends in Palermo Viejo im Auto vor irgendeinem Kiosk mit den Freunden Bier trinkend, die Wochenenden in Tigre mit Bootsfahrten, Asado und Mate.

Asado: Morcillas (Blutwürste), chorizo (Bratwurst) und Pollo (Huhn)

> Asado: morcillas (Blutwürste), chorizos (Bratwürste) und pollo (Huhn)

Danach tauchte ich ins Studentenleben ein, wohnte erst bei einer exaltierten Architektin in einer Designer-Wohnung im Bezirk Caballito, inklusive US-amerikanischen und brasilianischen Mitbewohnerinnen, und brachte argentinischen Yuppies Englisch in einer Sprachschule bei. Danach zog ich übergangsweise ins Barrio Once, in das Zimmer eines mir über zwei Ecken bekannten Dramaturgen (in dessen WG ich das Licht-Double von Brad Pitt in »Sieben Jahre in Tibet« kennenlernte, der damals in Mendoza gedreht wurde), und schließlich zu meiner Freundin der Theater-Lehrerin nach Chinatown. Das bestand damals nur aus drei Blocks der Straße Arribeños im Stadtteil Belgrano.

Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im Norden der Hauptstadt

> Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im im Stadtteil Belgrano

Ich las pro Woche zwei Romane in einem Seminar über argentinische zeitgenössische Literatur an der UBA, bestellte Heiligabend Eis per Liefer-Service, tanzte ein einziges Mal Tango, und zwar auf der Hochzeit meiner Freundin der Schauspielerin, besuchte Vorlesungen bei Beatríz Sarlo über Postmoderne in Argentinien, lernte von meinem Freund dem Dichter die Besonderheiten des Gangster-Slangs »Lunfardo« und ging abends auf Konzerte von Divididos, Illya Kuryaki and the Valderramas oder El Otro Yo und in Clubs wie das »Nave Jungla«, wo das Service-Personal aus Kleinwüchsigen bestand und man vor zwei Uhr morgens noch verbilligten Eintritt bezahlte.

Ich fühlte argentinisch, ich war porteño.

Und dann: 17 Jahre weg.

> Das Microcentro von Buenos Aires und ganz entfernt ein Wahrzeichen der Stadt: el Obelisco

Natürlich hat Argentinien auch danach eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ich war in Berlin weitere acht Jahre mit einer Argentinierin zusammen. Ich redete in dieser Zeit mehr spanisch als deutsch. Ich trank weiterhin Mate, Familie und Freundinnen berichteten uns über die aktuelle politische Lage, ich gab eine spanischsprachige Zeitung heraus.

Aber 17 Jahre keinen Fuß auf argentinischen Boden.

Ich war so aufgeregt wie nur was. Und hatte auch Angst.

Die Argentinier so:

17 Jahre? Das ist so, als wärst du noch nie da gewesen! Alles hat sich total verändert. Und die Kriminalität! Alles ist viel schlimmer! Du kannst keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne dass du Angst haben musst, überfallen zu werden. Und wenn du in Ezeiza ankommst: Pass bloß auf mit den Taxis. Nimm bloß kein Taxi, das nicht registriert ist! Es ist schon so viel passiert!

Ich habe meine argentinischen Freundinnen und Bekannten so gelöchert und genervt, dass ich gut verstanden hätte, wenn sie mich aus ihrem Facebook-Freundeskreis gestrichen und einfach nicht mehr geantwortet hätten.

Aber außerdem war ich auch aufgeregt, weil ich meiner deutschen Ehefrau, die noch nie in Argentinien gewesen war, den Ort zeigen wollte, den ich 17 Jahre nicht gesehen hatte. Ich hoffte natürlich, dass sie Buenos Aires genauso liebte wie ich.

Es hat sich nichts verändert. Als unsere Freundin die Schauspielerin uns in den Arm nimmt und »¡Pero estás igual, che!« zu mir sagt; als wir das erste Mal in einen »bondi«, den Stadt-Bus, steigen und ich sofort, ohne Stadtplan, wieder weiß, wie Buenos Aires funktioniert, wie die Stadt tickt, wie man in diesem Geschoss freihändig stehen muss, um bei dem rasenden Tempo durchs Verkehrs-Chaos nicht umzufallen, worauf man achten muss, um die Ziel-Haltestelle nicht zu verpassen: Da ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Freude darüber, dass Freundschaften, die quasi 17 Jahre auf Eis gelegen haben, sich nach nicht mal einer Minute wieder so anfühlen, als hätten wir erst gestern zusammen Mate getrunken − diese Freude lässt sich kaum beschreiben.

Und, na klar, es hat sich auch vieles verändert. Meine Freundinnen von damals sind keine Studenten, Biochemikerin, Bonaerenser, Argentinier mehr, sondern jetzt Reisebürobesitzer, Schauspielerin, Cordobesen, Mexikaner und Pariserin, alle sind älter und bis auf einen auch Eltern geworden. Aber die italienischen Reisebürobesitzer-Eltern wohnen immer noch in Olivos, und die Mutter hat extra für uns frische Pasta handgemacht. Das Barrio Chino, also Chinatown, ist nur ein paar Blocks gewachsen, und die alte Gänsehaut, die ich jedes Mal hatte, wenn ich am Río de la Plata stand und bis zum Horizont nur Süßwasser sah, stellt sich auch sofort wieder ein.

Río de la Plata

> Die direkteste Verbindung nach Uruguay: über den Río de la Plata

Aber auch: Meine Frau ist von dem 17-Millionen-Moloch anfangs ganz schön überfordert − und nicht erst, als wir direkt an einem Slum vorbei im Dunkeln zur zehn Minuten entfernten Bahnstation laufen müssen, um von dort zum Busbahnhof zu fahren, der neben einem anderen, noch viel größeren Slum liegt. Und das alles vor einer zwölf Stunden langen Busfahrt in Richtung Córdoba.

Argentinisch Reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

> Argentinisch reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

Und ja (ganz realistisch): Buenos Aires ist nicht mehr der verklärte Sehnsuchtsort, an den auszuwandern ich mir vorstellen kann, wenn wir alt sind. Es wird wohl doch eher Uruguay, in das wir uns verliebt haben, insbesondere Colonia del Sacramento. Von dort ist man mit der schnellen Fähre auch in einer Stunde drüben, nur für den Fall, dass sich meine Sehnsucht alle zwei Wochen bei mir meldet und um ein Wiedersehen mit Buenos Aires bittet. Meine Frau begleitet mich sicher auch gern, und sei es nur, um bei unserer Freundin der Schauspielerin auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen und ein helado von der Eisdiele um die Ecke zu essen. Am letzten Tag hat sie, die Quasi-Italienerin, übrigens zugeben müssen, dass dieses Eis (fast) besser schmeckt als das italienische.

Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

> Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

Und noch: Auf die Frage meiner Frau, was denn anders sei als auf der Nordhalbkugel, wusste ich, trotz jahrelangem Aufenthalt und wiederholten Reisen auf die Südhalbkugel, nur zu erwidern, dass ich gelesen hätte, der Strudel im Klo drehe sich in »die andere« Richtung. Außerdem wusste ich, dass man das »Kreuz des Südens« am Himmel sehen kann und die Jahreszeiten »umgekehrt« zum Norden stattfinden.

Meine kluge Frau hat schon am ersten Abend in Buenos Aires gemerkt, dass der Mond spiegelbildlich, in die jeweils andere Richtung hin, zu- und abnimmt und dann später auch, dass die Sonne mittags im Norden im Zenit steht und nicht wie bei uns zu Hause in Berlin im Süden.

Grass und Gagelmann, Katsche und Schmelzer, mieses Internet und kaltes Wasser in Buenos Aires: die ausgerutschte Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Whatsapp und Facebook-Chat.

♦♦♦♦♦

ERSTE SZENE

CW. Ich lese übrigens gerade »Herr Pep«, das Buch von Martí Perarnau über Guardiolas erstes Jahr beim FC Bayern. Auf Spanisch, weil’s billiger war als die deutsche Ausgabe. Schön erzählt. Tolle Anekdoten. Was allerdings arg nervt: hemos visto, han ganado, he dicho1. Habe ich noch nie benutzt. Ist das dieser ominöse Perfekt? Vollkommen überflüssig, wenn Du mich fragst. Oder reden normal entwickelte Spanisch sprechende Völker so?

Wörterbuch

MC. Das ist korrektes Spanisch. Bildet eine Verlaufsform der Vergangenheit ab, die dem knöcheltief in seiner Geschichte stehenden La-Plata-Spanier nicht verständlich ist.

CW. Verlaufsform, aha. ¡Qué sé yo!2

MC. Das heißt: ¡Yo qué sé!

CW. In Madrid vielleicht, wo ja Dein Kolonialherrenspanisch herstammt.

MC. Überall, wo christlich gesprochen wird.

CW. Ich bin Argentinier. ¡Andate!3

MC. Véte, heißt das.

CW. Nie gehört.

MC. Der Imperativ von irse. Der Spanier kann noch starke Flektion.

CW. Asador
Hübsches Foto, ne?

MC. 1959? Nach der Einnahme von La Habana?

CW. Die Geschichte muss neu geschrieben werden, wenigstens teilweise. El comandante Fidel. El Che. Und El Wese. Ach, vergiss den Medizinmann. Wir haben Havanna natürlich nicht eingenommen, sondern befreit.

MC. Das ist doch bei Euch immer das Gleiche.

♦♦♦♦♦

ZWEITE SZENE

CW. So ein Mist.

MC. Was?

CW. Ich habe plötzlich kein Internet mehr. Der schöne Stream ist weg. Das Halbfinale des DFB-Pokals! Wieso kommt dieses Spiel auch nicht im argentinischen Fernsehen? Die zeigen lieber Mr. Empoli gegen Dr. Caligari … Cagliari … was weiß ich, jedenfalls Mafialiga. Scheiß Argentinien! Verdammte Präsidentin! Verfluchter Peronismus! Und Evita kann mich auch mal.

Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner, Cristina Kirchner

> Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner

MC. Wesemann! Ich wusste, Du begreifst es irgendwann. Aber: Lass das Land in Ruhe. Die Präsidentin kann nichts dafür. Sie hat es nicht gewusst. Wie früher.

CW. Obendrein ist das Wasser kalt; auch so ein Zusammenhang, den es nur in Argentinien gibt.

MC. Weiß ich doch. Wenn Du in Buenos Aires kein Internet hast, hast Du auch kein heißes Wasser. Aber: Wenn das Wasser heiß ist, heißt das noch lange nicht, dass Du Internet hast.

CW. Aquí también la Nación Crece.4

Werbetafel in der Provinz Misiones

> Werbetafel in der Provinz Misiones

MC. Noch zehn Minuten. Gagelmann raus!

CW. Das von Schmelzer war keine Hand.

MC. Du hast es doch gar nicht gesehen.

CW. Marcel ist, so wie ich, in Magdeburg geboren. Er hat, anders als ich, für den 1. FC Magdeburg gespielt. Für den Club. Europapokalsieger 1974. Schmelzer darf alles.

MC. Die Hand soll ihm abfaulen! Hab‘s damals übrigens nicht geguckt, Euer Finale gegen den AC Mailand. Hat das überhaupt jemand geguckt in der normalen Welt? 4641 Zuschauer im Stadion, sagt Wikipedia. Ewige Minuskulisse.

CW. Sohn kommt gerade von der Schule. Und flucht auch gleich auf die Präsidentin.

MC. Saludos an meinen kleinen Bayernfan.

CW. Er grüßt zurück. So langsam wird er erwachsen, also, er misstraut mir neuerdings. Hab ihm vor ein paar Tagen erzählt, dass das 6:1 gegen Porto wiederholt werden muss, wegen Peps zerrissener Hose, klarer Verstoß gegen Uefa-Regularien usw. Da sagte er:

Ja, und letztes Jahr hab ich dir geglaubt, dass die Meisterschaft nachträglich an Dortmund geht, weil Pep die Meisterschale hat fallen lassen. Und das WM-Finale gegen Argentinien wird noch mal gespielt, weil Neuer ein grünes Trikot anhatte und man das im Endspiel nicht darf wegen gleicher Farbe wie der Rasen.

MC. Neuer: souverän! Sohn: Weltklasse!

CW. Mein Sohn!

MC. DIE BRINGEN LEWA UM, UND DER PFEIFT NICHT!!!! Zweiter klarer Elfer! Der gehört doch auf die Sportakademie, der Gagelmann.

CW. Uli schlägt in der JVA gerade jemanden zusammen.

MC. Mit Recht. 90 Sekunden bis zum Elfmeterschießen.

CW. Und ich bin ohne Internet. Und ohne Warmwasser. Ich dreh aber noch mal am Hahn. Gleich zurück.

♦♦♦♦♦

DRITTE SZENE

MC. Wir fangen an. Lahm:

CW. Pfosten.

MC. Vorbei. Rutscht weg wie Beckham damals gegen die Türken.
Gündoğan trifft.
Xabi. Aus. Wie Lahm. Rutscht weg.
Kehl. Tor.
Götze. Langerak hält.

CW. Was ist da los?

MC. Bestechung.
Hummels. Neuer!

CW. Sohn weint.

MC. Noch nicht! Neuer schießt. Latte.
Jetzt ja.

CW. Und ich bin so schlecht im Bayernsäue-Trösten.

MC. Du lachst ja auch schon wieder hinter seinem Rücken. Und er bekommt es natürlich mit. Weil er Dich durchschaut.

CW. Er sagt einen Satz, den nur ein Bayernfan sagen kann:

Immer verlieren wir.

MC. Mit rechten Dingen ging das jedenfalls nicht zu. Betrug. Bestechung. Beschiss.

CW. Heul doch! #schlechteVerlierer.

MC. Immer verlieren wir.

CW. Diese Saison nur noch zweimal. #Barça #MesQueUnClub #Messi #Mascherano

MC. Ein Unentschieden und zwei Siege. #SternDesSüdens

CW. Stern des Südens? Strauß? Der große FJS? Der die Westbindung erfunden hat?

MC. Mein lieber junger Freund, das war Adenauer!!! Der den Soffjets die Oder-Neiße-Linie aufgezwungen hat. Entweder man akzeptiert sie. Oder man ist nicht unser Freund. So war er, der Konny. Der Osten? Fort mit Schaden! Einer der wenigen Punkte, an denen sich Thomas Mann geirrt hat. #schlechterrussentisch #klawdiachauchat #zauberberg

CW. Amen, Herr Grass.

MC. Aber Günter wollte immer auf die andere Seite der Oder-Neiße-Linie.

CW. Äh, auf welche Seite jetzt? Der war doch früh auf der anderen Seite. Geboren in Gdánsk. Meine Oma war übrigens auch Vertriebene!

MC. Aber er wollte zurück. Deine Oma nicht.

CW. Und wer hat ihn aufgehalten?

MC. Die Gruppe 47. Nach seiner Lesung der »Blechtrommel« haben sie für ein Stipendium gesammelt. Jedes Mal, wenn wieder 500 DM zusammen waren, kam Richter am Tresen vorbei, und Grass hat einen Obstler genommen. Nach diesem Abend war er reich. Und dann berühmt.

CW. Die Gruppe 47 ging mir schon beim Abi auf den Wecker. Nur Schaumschläger. Aber gutes Marketing. Peter Weiss, war der da auch drin? Und Enzensberger? Konnten ja alle nicht für fünf Pfennig schreiben. Da ist mir die Gruppe 74 lieber.

gruppe 74

MC. Die mit Müller, Maier und Hoeneß?

CW. Ja, und mit Katsche.

Zwei Beine, ohne Interesse an Genialität,
vereinfachter Mechanismus, nichts Brasilianisches,
kein Sternenlauf, kein Jubel in den Fußgelenken,
Standbein, Schussbein, nichts für Genießer,
und trotzdem einer, dessen die Menschen,
die ihn spielen sahen, gedenken.

MC.

Unzuständig für alles Künstlerische!
Kein Dribbling, kein nie gesehener Trick,
stattdessen Luft für neunzig Minuten,
und notfalls für die Verlängerung, wenn die Kollegen Krämpfe quälen.
Merkwürdig, daß so einer, eckig wie eine leer gegessene
Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund ist.

CW. »Gedicht für Georg Schwarzenbeck«. Das einzig Brauchbare und halbwegs Verständliche von Wolf Wondratschek.

MC. Lessing sagt:

Wer mich einen Intellektuellen nennt, dem hau‘ ich eine rein!

Aus dem Hintergrund wird »Fußball ist unser Leben« langsam unter den letzten Worten durchgeblendet. Estragon und Wladimir schauen sich fragend an. Botho Strauß zerknüllt ein Stück Papier und verlässt den Raum. Irgendwo pinkelt jemand auf ein Buch von Ggm. Frau CW nimmt die Kinder und zieht zu ihrer Mutter.

VORHANG.

  1. wir haben gesehen, sie haben gewonnen, er hat gesagt []
  2. Was weiß ich! []
  3. Hau ab! []
  4. Bekannter Satz auf Werbetafeln der argentinischen Regierung überall im Land: »Auch hier wächst die Nation.« []

Frisches Angeberwissen (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

♦♦♦♦♦

Mindestlöhne und Hausangestellte

  • Der Mindestlohn beträgt 4400 Pesos und wurde im September 2014 um 22,2 Prozent angehoben. Vorher waren es 3600 Pesos (beschlossen zum Januar 2014). Zum 1. Januar 2015 soll der Mindestlohn abermals steigen, um 7,2 Prozent auf dann 4716 Pesos. Das wäre der höchste Mindestlohn in Lateinamerika. Allerdings betrifft der Mindestlohn nur 113 000 der fast zehn Millionen Personen, die offiziell beschäftigt werden und nicht schwarz arbeiten. In Deutschland wird vom 1. Januar 2015 an ein Mindestlohn von 8,50 Euro gelten.
  • 25 Pesos beträgt der Mindeststundenlohn von argentinischen Hausangestellten, wenn sie dort wohnen, wo sie auch arbeiten. Haben sie eine eigene Wohnung, sind es 28 Pesos. Der offizielle Mindestmonatslohn beträgt 3220 Pesos (ohne eigene Wohnung) und 3590 Pesos. Hausangestellte haben Anspruch auf Urlaub; die Zahl der (bezahlten) Urlaubstage hängt davon ab, wie lange die Person bereits im Haus angestellt ist:

− sechs Monate bis fünf Jahre: 14 Tage

− fünf bis zehn Jahre: 21 Tage

− zehn bis 20 Jahre: 28 Tage

− mehr als 20 Jahre: 35 Tage

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Armut und Arbeitslosigkeit

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

  • Die offizielle Arbeitslosenquote lag im zweiten Trimester 2014 bei 7,5 Prozent. Die Erwerbstätigenquote betrug 41,4 Prozent − der niedrigste Wert seit Anfang 2006 (40,7 Prozent). In Deutschland liegt sie bei mehr als 72 Prozent. [Nachtrag: Ich habe die Vergleichszahl gestrichen. Siehe den Äpfel-mit-Birnen-Kommentar von Jorge. War insgesamt keine gute Idee, auf diesem Feld, das statistisch hier wie dort Niemandsland ist, den Vergleich zu suchen.]
  • Unabhängige Studien beziffern die Armut in Argentinien auf 30 bis 33 Prozent − das wären zwischen 13 und 14,5 Millionen Menschen. Die Regierung spricht von 1,6 Millionen, umgerechnet etwa fünf Prozent. Offizielle Daten zur Armut werden aber seit dem vergangenen Jahr nicht mehr veröffentlicht. Die Regierung hatte angekündigt, die Untersuchungsmethode zu verändern. Dabei ist es bislang geblieben.
  • In Argentinien wird statistisch zwischen einem Leben in »pobreza« (Armut) und »indigencia« (Armut und Mittellosigkeit, im Sinne von Elend) unterschieden. Grundlage zur Einstufung bilden die Einkünfte und Sozialleistungen, die eine Familie − zwei Erwachsene, zwei Kinder − monatlich zur Verfügung hat. Staatliche und nichtstaatliche Institutionen kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, was die Monatsobergrenzen betrifft:

− Einheitsgewerkschaft CGT: bis 3110 Pesos Elend, bis 7122 Pesos Armut

− Politikinstitut IpyPP: bis 3435 Pesos Elend, bis 6320 Pesos Armut

− Katholische Universität UCA: bis 1982 Pesos Elend, bis 4142 Pesos Armut

− staatliches Statistikamt Indec: bis 787,63 Pesos Elend, bis 1783,63 Pesos Armut.

  • Vergleichsdaten: ein Liter Milch kostet 7 bis 10 Pesos, das Kilogramm Weißbrot mindestens 18 Pesos, 200 Gramm Butter 12 Pesos oder mehr. Die Regierung legt für mehr als 200 Produkte des täglichen Bedarfs die Preise fest.

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♦♦♦♦♦

Gesundheit

  • Nach Angaben des Gesundheitsministeriums rauchen 25,1 Prozent der Erwachsenen in Argentinien − weniger als in Deutschland (30 Prozent). 2005 waren es noch 30 Prozent, vier Jahre später 27,1.
  • Fast sechs von zehn Argentiniern über 18 Jahren (57,9 Prozent) sind übergewichtig. 2005 waren es nur 49 Prozent, vier Jahre später schon 53,9. Für »fettleibig« hält das Ministerium 20,8 Prozent der Erwachsenen. Der Anteil nach Alter:

− 18 bis 24: 7,7 Prozent

− 25 bis 34: 15,8 Prozent

− 35 bis 49: 24,3 Prozent

− 50 bis 64: 29,6 Prozent

− 65 und älter: 24,3 Prozent

Quelle:  Dritte landesweite Umfrage des Gesundheitsministeriums zu Risikofaktoren (2013)

♦♦♦♦♦

Umwelt

Müll am Río de la Plata

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Die Provinz Buenos Aires

  • Wenn Argentinier »Buenos Aires« sagen, meinen sie die Provinz, eine von 23. (Die Hauptstadt Buenos Aires nennen sie einfach »Capital«.) Buenos Aires, die Provinz, ist flächenmäßig fast so groß wie Deutschland und hat mehr als 15 Millionen Einwohner. Vier von zehn Argentiniern leben hier.
  • Es gibt es 12 000 staatliche Schulen (3,3 Millionen Schüler) und 4800 private (1,5 Millionen).
  • Im Schnitt wird in dieser Provinz alle 32 Stunden ein Mord begangen. Pro Stunde gab es im Jahr 2013 82 Verbrechen − fünf Prozent mehr als 2012.

♦♦♦♦♦

Kino

1. Relatos Salvajes: 449 986 (2014)

2. Metegol: 422 845 (2013)

3. Corazón de León: 295 332 (2013)

4. Séptimo: 270 322 (2013)

5. Bañeros 3 Todopoderosos: 228 497 (2006)

  • Die erfolgreichsten Kinostarts aller Zeiten in Argentinien:

1. Monsters University: 791 225 (2013)

2. Los Simpsons: 759 032 (2007)

3. La Era de Hielo 4: 620 009 (2012)

4. Shrek para siempre: 600 041 (2010)

5. Rápidos y Furiosos 6: 594 978 (2013)

Der Herausgeber, der Karrierist und das Zeugnis

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten.

♦♦♦♦♦

CW. Es kann doch nicht sein, dass in diesem Land sechs Klopapierrollen (einlagig!) umgerechnet fünf Euro kosten.

MC. Das nennt man Inflation, der Herr, und davon haben wir doch 40 Prozent. Es kann aber auch nicht sein, dass jede fünfte Rolle (doppellagig) so scheiße konfiguriert ist, dass sie nicht richtig abrollt.

CW. Wir sollten auf das Regierungsblatt Página/12 umsteigen. Ist erstens ein politisches Statement und zweitens billiger.

MC. Und drittens: sanfter.

CW. Mein Laptop macht mir auch gerade Sorgen. Der Akku funktioniert nicht mehr.

MC. Nicht gut! Vor allem, weil Stromausfälle ja nicht unbedingt selten sind in Argentinien.

CW. Ich hatte das Ding einem Bekannten in Buenos Aires gegeben, damit er es ein bisschen updatet und einige Programme installiert. Da hat er wohl meinen funktionierenden Akku gegen ein kaputten ausgetauscht. Ganz schön frech, oder?

MC. Dein Land! Deine Leute!

Zertifikat

 

 

CW. Dafür habe ich mein Portemonnaie nicht verloren.

MC. Bitte, was?

CW. Es war mir im Kiosk aus der Tasche gefallen, hab’s natürlich erst ’ne halbe Stunde später gemerkt.

MC. Für argentinische Verhältnisse also relativ schnell.

CW. Der Kioskbesitzer hatte inzwischen versucht, meine Adresse rauszukriegen.

MC. Echt?

CW. Wir Argentinier sind halt ehrliche Leute.

MC. Muahahahahaha. Der war gut!

CW. So hat der Kioskbesitzer auch auf den Satz reagiert.

MC. Guter Mann!

CW. Ich bin übrigens wieder Student. Diesmal an der Universität von Buenos Aires. Ein PR-Kurs.

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

MC. Aber Marketing kannst Du doch schon.

CW. Ich kann ja praktisch alles. Aber die Chefin will Zeugnisse und Zertifikate sehen.

MC. Das klingt nach Abschlusspflicht. Aber Intellektuelle Deines Kalibers haben nie ein Zeugnis. Nie! Das wäre rufschädigend.

CW. Und mein guter Ruf darf auf keinen Fall Schaden nehmen.

MC. Ich hatte immer nur die besten Zeugnisse, und was habe ich heute davon? Also, pass auf: Ich schreibe Dir etwas, und zwar endlich mal gegen Geld. Nämlich ein Zeugnis.

CW. Großartig!

MC. Dir sollte allerdings klar sein, dass Deine Frau alles rausbekommt und angemessen empört sein wird.

CW. Von mir erfährt sie nix.

MC. Natürlich nicht! Als guter Argentinier bist Du ja auch vollkommen uneinsichtig. Also um genau zu sein: Zunächst wirst Du alles abstreiten, und zwar über Tage, solange es geht. Damit alles noch schlimmer wird. Und dann erst bist Du uneinsichtig.

CW. Und am Ende sage ich: Das war seine Idee.

MC. Ich merke: Wir verstehen uns.

Unfälle im argentinischen Mund

von CHRISTOPH WESEMANN

Schwerin sagt dem Argentinier natürlich erst einmal nichts, und falls doch, kann er die Stadt nicht aussprechen. S, c, h, w, vier Konsonanten am Stück also, überdies gleich am Anfang, sind für argentinische Zungen nicht zu bewältigen. Das ist kein Name, sondern ein Unfall, ein Zusammenstoß und Ineinanderverknautsche von Buchstaben. Man dichtet sich in solchen Fällen einen Vokal hinzu, der die Aussprache ermöglicht. Seit ich in Buenos Aires lebe, habe ich mal in E-Schwerin gelebt.

Im vergangenen Sommer waren wir mit argentinischen Freunden in Warmunde. Herrlich war’s. Der riesige und so saubere Strand. Die Ostsee. Der Alte Strom. Das Neptun-Hotel. Hohe Düne. Ich musste fünf Tage lang Matjesbrötchen (mit ordentlich Zwiebeln) an die vierköpfige Familie aus Buenos Aires verfüttern, bis aus Warmunde so etwas Ähnliches wie Warnemünde wurde. Inzwischen heißt Warnemünde wieder Warmunde.

Dass Schwerins Bekanntheit ausbaufähig ist, hat natürlich auch mit dem Fußball zu tun. Allein in Buenos Aires gibt es ja derzeit sechs Erstligaklubs; mit dem Conurbano, dem Speckgürtel, sind es sogar zehn, und Independiente, einer der großen Fünf des argentinischen Fußballs, ist im vergangenen Jahr zum ersten Mal abgestiegen – ein Jahrhundertereignis hierzulande – und spielt derzeit bloß zweite Liga. Der FC Mecklenburg Schwerin kickt in der Verbandsliga. Noch, aber nicht mehr lange, weiß ich doch.

Alle Vergleiche hinken ja sowieso. Im Großraum Buenos Aires leben 13 oder 15 Millionen Menschen, das ist eher Nordrhein-Westfalen. Immerhin habe ich neulich beim Heimspiel eines Zweitligisten aus dem Stadtviertel Caballito (Pferdchen) einen Mann im Shirt von Hansa Rostock gesehen. Es ist also durchaus was möglich.

Mit der Aussprache ist es umgekehrt selbstverständlich auch nicht immer leicht – vor allem, wenn man seinerzeit in Mecklenburg viel herumgefahren ist: Barkow und Bützow, Dargelow und Dassow, Malchow und Mirow, Suckow und Sukow, das prägt ja doch. Humahuaca zum Beispiel, ein sehr hübsches Städtchen hoch im Norden, gelegen auf 2950 Metern und nahe an der bolivianischen Grenze, ist für jede argentinische Zunge ein Vergnügen: Vokale, wohin man guckt. Nichts zischt. Für einen Deutschen freilich liegt der Ort nahe Kieferbruch. Versuchen wir es mal: Uh-ma-wak-ga. Schon ganz gut. Wirklich. Noch einmal, bitte. Uhmawaka. Danke. Das wird.

Stau ist in Schwerin in meiner Erinnerung, wenn man mit dem Auto auf dem Obotritenring zwei Ampelphasen brauchte. Was habe ich mich aufgeregt! Der Porteño, der Bürger der immer verstopften argentinischen Hauptstadt, würde da nicht einmal hupen, und der Porteño hupt eigentlich pausenlos. Das Hupen unterbricht er bloß zum Fluchen, was man wiederum nicht persönlich nehmen darf. Im Prinzip finden wir uns alle gegenseitig toll – im Stolz vereint, in dieser großartigen Stadt zu Hause zu sein. Das Zusammenleben ist sowieso weniger förmlich als in Deutschland. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal gesiezt worden wäre oder gesiezt hätte. In Buenos Aires gilt: duzen und duzen lassen.

Wenn ich Freunden hier von Euch erzähle, denken sie seltsamerweise gleich an Santiago del Estero, die dünnbesiedelte Provinz im Norden, die für den Hauptstädter schon mehr Paraguay als noch Argentinien ist. Der dortige Menschenschlag gilt als bescheiden und wortkarg. Anderswo macht man sich gern lustig über die Santiagueños, der gemeine Argentinier ist ja doch eher das Gegenteil: Es kommt vor, dass sich der Kunde in der Supermarktschlange umdreht und sein komplettes Intimleben nach hinten erzählt, Affären, Scheidungen und Krankheiten unterhalb der Gürtellinie inklusive. Dann zahlt er und sagt: »Wir sehen uns, amigo.«

Die Leute aus Santiago del Estero sind berühmt dafür, dass sie gern eine mehrstündige Siesta abhalten. Treffen sich zwei Santiagueños um 14 Uhr. Sagt der eine: »Komm mal her, ich muss dir was erzählen.« Sagt der andere: »Oh nö, ich geh jetzt erst mal schlafen.« – »Gute Idee.« Hat der Nachbar in Buenos Aires so gehört.

Ich weiß nicht. Vielleicht drücke ich mich auf Spanisch zu schlecht aus, aber der Vergleich ist ungerecht, ich lästere jedenfalls nicht über Mecklenburger. Ich bin ja mit einer verheiratet und nicht verrückt. Außerdem ist unser Sohn in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Er sprach noch lange danach dieses herrliche Norddeutsch, bei dem man das Rauschen der Ostseewellen gleich mithört, wenn man aus Sachsen-Anhalt kommt. Er klang wie Opa aus Neumühle vorm Stimmbruch, er dachte erst nach und redete dann. Heute könnte er sich mit fünf Mecklenburgern gleichzeitig unterhalten.

Unser Bürgermeister Mauricio Macri will übrigens Ende 2015 Präsident werden und hat seine Kandidatur schon zwei Jahre vorher bekannt gegeben. Bescheiden geht anders, einerseits. Andererseits: Wenn wir – also Argentinien – im Sommer Fußballweltmeister geworden sind, ist für Politik bis auf Weiteres ohnehin kein Platz mehr. In Mecklenburg-Vorpommern wird 2016 wieder gewählt? Ich mische mich nicht ein, und es ist auch keine Wahlempfehlung: Aber Frau Schwesig aus Schwerin als Landesmutter wäre für Argentinien natürlich eine ausgesprochene Zumutung. Käme sie uns besuchen, würden wir sie trotzdem willkommen heißen, die verehrte Frau Ministerpräsidentin Manuela E-Schwesig aus E-Schwerin. Und dann würde sie von allen geduzt.

Ich habe von 2005 bis 2008 in Schwerin gelebt und gearbeitet. Diese Kolumne ist erstmalig im Onlinemagazin Die Schweriner erschienen.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)