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Ankunft im Exil: Der förmliche Dicke, ein Elternabend und die Latina von gegenüber

von CHRISTOPH WESEMANN

Montevideo/Uruguay ♦ Donnerstagmorgen. Zeitungslektüre. Der Außenminister der sozialistischen Regierung verlangt von Venezuelas ebenfalls sozialistischem Präsidenten Nicolás Maduro, dass er die Schulden für die gelieferten Lebensmittel endlich bezahlt, es geht um 75 Millionen Dollar. Man fühle sich in seiner »Gutmütigkeit ausgenutzt«. Zudem haben heute 222 935 Oberstufenuruguayer keinen Unterricht, weil ihre Lehrer streiken. Einer von ihnen hatte eine Rauferei unter Schülern schlichten wollen und war dabei beleidigt und geschubst worden. Der Außenminister knöpft sich gleich noch die Pisa-Studie vor, deren Untersuchungsmethode er anzweifelt.

Ist es denn so wichtig, dass die Kinder mit dem Bleistift rechnen können, wenn sie doch Taschenrechner haben? Macht einer von Ihnen eine Division mit dem Bleistift?

Das hat er, berichtet El País, am Vortag auf einem Forum gefragt und seinen Zuhörern eine knifflige Aufgabe gestellt: »542 geteilt durch 24.«

Ist ganz schön was los in meiner neuen Heimat, nicht wahr? Ich glaube, ich lege mich noch ein bisschen … oh Wahnsinn: Am Abend empfängt Uruguays Großklub Nacional in der Copa Libertadores Palmeiras. Das Hinspiel in São Paulo war der Hammer.

Auf zu Redpagos. Wo der Uruguayer seine Strom-, Gas-, Telefon- und Sonstwas-Rechnungen bezahlt, die ihm der Postbote vorbeibringt. Redpagos verkauft auch Eintrittskarten für Konzerte und Fußballspiele.

Heute aber nicht. Darum.

Dann eben direkt zur Quelle. Der Kioskbesitzer nennt mir die Buslinie (329) und malt auf die Rückseite eines Kassenbons eine Wegbeschreibung von der Haltestelle zur Geschäftsstelle des Club Nacional de Football. »Hier vorne an der Ecke steigst du ein. 3-2-9.«

weg

Gerade fällt mir ein, ich soll ja am Abend zur Elternversammlung der fast Siebenjährigen. Keine Ahnung, was es drei Wochen nach Schulanfang schon so Wichtiges zu besprechen gibt. Die Lehrerin wird sich kurz fassen, denke ich. Ich kenne sie zwar bloß vom Hola-Winken am ersten Tag und weiß nicht einmal, wie sie heißt, was freilich auch zu viel verlangt wäre, ich habe schließlich drei Kinder. Ich dachte neulich, ich hätte mit ihr telefoniert, wegen irgendeiner Sache, die ich ebenfalls schon wieder vergessen habe. Aber das war die Klassenlehrerin des Zehnjährigen. Der Zehnjährige hat’s mir später bestätigt. Bislang jedenfalls hat sie uns in Ruhe gelassen, und das ist für mich die Kernkompetenz eines Pädagogen.

Die Eltern in Montevideo aber wirken irgendwie übermotiviert.

»Señor, buen día, qué tal, ich will ’ne Karte, bin ich hier richtig?« Der Dicke, der die Eingangstür des Vereinsheims von Nacional bewacht, schüttelt den Kopf und sagt, ihm lägen »keinerlei Informationen vor über die Modalitäten des Eintrittskartenverkaufs am heutigen Tage«. Alter, förmlich kann ich auch: »Hä?«

Ich soll es mal am Ticketschalter versuchen, er beschreibt den Weg und flüstert mir hinterher: »Wenn du keine Karte mehr bekommst, sprich mich nachher noch mal an. Vielleicht kann ich eine besorgen.«

Parque Central, Montevideo

> Parque Central, das Stadion des Club Nacional de Football

In der Schlange handeln sie eifrig mit Gerüchten.

»Alles ausverkauft, habe ich gehört.«

»Nein, gestern Abend haben sie gesagt, heute würden um 10 Uhr noch Karten verkauft.«

»Es ist zehn nach zehn, du Depp, und keine Sau sitzt am Schalter.«

»Mir wurde gesagt, es sollte noch welche bei Redpagos geben.«

»Redpagos ist der letzte Scheiß, amigo.« Die Schlange gibt mir in diesem Punkt absolut recht.

Die Frau vor mir, Nummer 34, Mate in der Hand, Thermosflasche unterm Arm, schwört, sie werde sterben, sollte sie es nicht ins Stadion schaffen. Und ich erst, señora! Plötzlich schreit der Bursche hinter mir in sein Telefon, er hat offenbar jemanden vom Verein dran: »Gestern Abend haben sie uns gesagt, dass heute … « Sekunden später legt er auf.

Feierabend. Keine Karten mehr.

Der Dicke von der Geschäftsstellenpendeltür erkennt mich wieder und speichert meine Nummer in seinem Telefon. Er werde einen Freund fragen, ob der eine Karte verkaufen wolle, angeblich sogar ohne Aufpreis. »Wenn dich keiner anruft, klappt es nicht.«

»Wann kann ich denn mit einem Anruf rechnen?«

»So um sieben, halb acht.«

»Mitten im Elternabend.«

»Was?«

»Perfekt. Anstoß ist um Viertel vor zehn?«

»Genau.«

»Gracias, querido.«

Also, das wird ganz sicher nix. Der Typ wirkt viel zu wenig verschlagen.

Ich will jetzt aber unbedingt zu diesem Scheißspiel. Von dem ich heute Morgen noch gar nichts wusste.

Meine letzte Hoffnung heißt Jorge. Jorge ist Vereinsmitglied von Nacional, und ich habe ihn schon mal begrillt, wir sind also Freunde. Eine warme südamerikanische Nacht. Vollmond. Zwei Kerle allein auf der Terrasse. Vor einem Haufen Fleisch. Von unten der hochblubbernde Verkehr. Gegenüber die eine Latina, die ganz zufällig vergessen hat, die Vorhänge zuzuziehen. Jorge verspricht, er werde sich umhören, und schickt fünf Minuten später eine Nachricht:

Mein Bruder hat seinen Stammplatz leider schon abgetreten. Aber der Onkel seiner Freundin hat eine Loge. Wenn er es schafft, mit ihm zu sprechen, sagt er mir Bescheid.

Whatsapp

Da war ja selbst die Kartenbeschaffung in Argentinien für Spiele der Boca Juniors weniger umständlich. Der Onkel der Freundin des Bruders meines Freundes, den ich seit sechs Wochen kenne – über mehr Ecken geht ja kaum.

Respekt, Uruguay. Ich denke, wir werden miteinander klarkommen.

¡Qué quilombo!

von CHRISTOPH WESEMANN

Welch Groteske! Allein dafür hat sich das Durchhalten und Niemalsaufgeben in den mitunter zähen Wahlkampfwochen gelohnt – für dieses Abwickeln einer Präsidentschaft, einer Ära, für dieses Hinüberstolpern mit Beinestellen und Schubsen gen Neuanfang. Der Wahnsinn, geliebtes Argentinien! ¡Qué quilombo!1

Fassen wir zusammen: Nach seinem Sieg in der Stichwahl besucht Mauricio Macri die scheidende Präsidentin Cristina Kirchner. Man redet gekonnt aneinander vorbei. Macri sauer ab. Kirchner lässt auf dem Anwesen des Staatsoberhaupts, das sie bald verlassen muss, gelbe Blümchen pflanzen. Gelb ist die Farbe von Macris Partei PRO.

Kirchneristen und Macristen beginnen zu streiten, wie und wo die Macht am 10. Dezember übergeben wird. Die Präsidentin will, dass Macri von ihr Schärpe und Zepter im Parlament empfängt, wie das in Argentinien seit 2002 gemacht wird. Steht so in der Verfassung, Artikel 93. Macri will aber auf keinen Fall, was Kirchner will. Erstens fürchtet er, dass auf den Balkonen des Kongresses ihre Anhänger sitzen, um ihm auf die Eier zu gehen. Zweitens hat er ja Wandel versprochen und muss sich vom Kirchnerismus absetzen. Macri also will nur den Amtseid im Parlament ablegen und dann die Insignien der Macht im Regierungspalast übernehmen, in der Casa Rosada. So war das vorher, und Tradition sticht Verfassung.

Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.

Das wäre damit geklärt.

Jetzt müssen alle noch darüber streiten, wann der neue Präsident anfängt zu arbeiten. Wenn er seinen Amtseid gesprochen hat? Nein. Wenn er  Schärpe und Zepter hat? Auch nicht. Wäre alles viel zu einfach, zu wenig Drama. Wäre ja absolut logisch und damit komplett unargentinisch. Die Kirchneristen sagen, die Präsidentschaft ende am 10. Dezember, Punkt Mitternacht, also erst einen halben Tag nach der Zeremonie. Warum? Darum.

Kommt gar nicht in Frage, sagen die Macristen, wer weiß, welche Dekrete die Kirchner noch erlässt, sie ist doch total durchge unberechenbar. Am 9. Dezember, Punkt Mitternacht, schicken wir sie in den Ruhestand. Das steht irgendwo.

Dann komme ich nicht, sagt Kirchner.

Macri und Kirchner telefonieren miteinander. Er hat mich angebrüllt, berichtet die Präsidentin hinterher. Kann er doch gar nicht, sagen Macris Leute, er ist ja nicht Cristina, und außerdem hat er, was sie nicht hat: Manieren.

Eine Richterin gibt Macri recht. 9. Dezember.

Ich komme dann nicht.

Staatsstreich, sagen die Kirchneristen. Argentinien wird zwölf Stunden ohne Präsident sein.

Auftritt Federico Pinedo, Vorsitzender des Senats und Parteifreund Macris: Ich mach’s! Ich darf auch. Ich bin die protokollarische Nummer Drei im Staat. (wedelt mit der Verfassung)

Ihr könnt mich mal. Meine Abgeordneten werden euren Festakt im Parlament übrigens auch boykottieren.

Donnerstag, 10. Dezember, kurz vor zwölf Uhr: Mauricio Macri legt seinen Eid ab. In seiner Antrittsrede bittet er die Argentinier ausdrücklich um Kritik, sollte seine Regierung Mist machen. Wir sind nicht unfehlbar, sagt er. Seine Vorgängerin reist nach Santa Cruz, um dabei zu sein, wenn ihre Schwägerin Alicia Kirchner, die neue Gouverneurin der Provinz, ihr Amt antritt. Sie sitzt nicht in der Präsidentenmaschine Tango 01. Sie fliegt Linie.

Ein Freund, strammer Peronist, witzelt: Ich bin von jetzt an bis in alle Ewigkeit Anhänger von Pinedo. Er hat seine Zwölf-Stunden-Präsidentschaft beendet, ohne einen einzigen Peso zu klauen.

Lachen vom Band.

♦♦♦♦♦

Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

  1. Was für ein Chaos! Argentinischer Ausruf []

Wenn Unternehmer übernehmen: Die neue Regierung Argentiniens

von CHRISTOPH WESEMANN

Cristina Kirchner hat Mühe, das Unvermeidliche anzunehmen, und dazu zählt auch ein neues Leben. Vom 10. Dezember an wird die frühere Abgeordnete, Senatorin, Primera Dama und dann Staatschefin außer Dienst zum ersten Mal nach 28 Jahren ohne – sichtbare – Macht sein. Sie verliert auch allerlei Annehmlichkeiten, den Dienstwagen, den Hubschrauber, ihre Sekretäre und Assistenten; 40 Leibwächter darf sie immerhin behalten, muss sie jedoch mit ihren Kindern Florencia und Máximo teilen. Ihr Umfeld überlegt schon, wer demnächst die Flüge bezahlt oder dafür kein Geld verlangt.

Kirchner pendelt oft zwischen El Calafate, su lugar en el mundo1, wie der Argentinier sagt, und Buenos Aires, wo die große Politik gemacht wird, ihre Enkel leben und sie eine Wohnung besitzt. Schon seit Juni lässt die Präsidentin umziehen, manches wird gen Süden gebracht und auf die Hotels und Häuser im Familienbesitz verteilt, anderes bleibt in der Hauptstadt. Kirchner will also weiter pendeln. Es soll aber alte Freunde mit Flugzeugen geben, die ihr noch etwas schulden, und wenn Alicia Kirchner, die neue Gouverneurin der Provinz Santa Cruz, gen Buenos Aires abhebt, nimmt sie ihre Schwägerin bestimmt mit.

Cristina

> Cristina Kirchner am Montag in Río Negro      Foto: Casa Rosada

Das obligatorische Treffen mit ihrem Nachfolger Mauricio Macri, dem Gewinner der Stichwahl, hat gerade einmal 20 Minuten gedauert, und darüber, wie die Amtsgeschäfte übergeben werden, sollen die zwei auf dem Anwesen des argentinischen Staatsoberhaupts vor den Toren der Hauptstadt gar nicht gesprochen haben. Macri berichtete hinterher, Kirchner habe ihm zwar zum Sieg gratuliert, aber zugleich klargemacht, dass sie bis zum letzten Tag zu regieren gedenke und keine Starthilfe von ihr zu erwarten sei. Überraschend kam das nicht, schließlich hatte die Präsidentin schon vor Wochen per Dekret die Legislaturperiode bis zum 9. Dezember verlängert. Ursprünglich hätten Senat und Kongress am 30. November Feierabend gemacht. Nun könnte der Kirchnerismus, ehe er seine absolute Parlamentsmehrheit verliert, noch am Vorabend seines Abschieds Gesetze beschließen. Legal ist das. Es wäre aber auch ein in demokratischen Zeiten einmaliger Vorgang.

Casa Rosada

> Der Innenhof des Präsidentenpalastes, der Casa Rosada

Macri hatte sich mehr als nur ein paar logistische Absprachen über den Auszug der Kirchneristen aus dem Präsidentenpalast und den Ministerien erhofft; er wollte auch erfahren, ohne welches Spitzenpersonal er planen könne. Geht der Zentralbank-Chef Alejandro Vanoli freiwillig? Und Martín Sabbatella, der ultrakirchneristische Aufseher der staatlichen Medienbehörde Afsca? Kirchner ließ sich auf nichts ein. Kein Kommentar. »No valió la pena«, sagte Macri über das Treffen. »Es war sinnlos.«

Mit der Berufung seines Kabinetts hat der künftige Regent erste Fußspuren hinterlassen und eine Richtung vorgegeben. Wohin also will er Argentinien führen? Leicht fällt die außenpolitische Antwort. Außenministerin wird Susana Malcorra, augenblicklich noch Kabinettschefin von Ban Ki-moon, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen. In New York arbeitet sie seit mehr als zehn Jahren, vorher war sie bei IBM und Telecom. Mit ihr gibt Macri einem seiner Wahlkampfversprechen ein Gesicht: die Befreiung Argentiniens aus der Isolation.

Malcorra

Susana Malcorra mit Ban Ki-moon        UN Photo/Rick Bajornas

Der 53. Präsident will sich von der Diplomatie des Kirchnerismus verabschieden. Cristina Kirchner hatte mit »einer Politik zwischen Beschimpfung und Konfrontation« die Beziehungen zu traditionellen Partnern wie den Nachbarn im Mercosur, den Vereinigten Staaten und Europa gekappt oder heruntergekühlt. Im Gegenzug verschaffte sie dem Land andere Verbündete, und vornehmlich solche von zweifelhaftem demokratischen Renommee: Russland, Venezuela, Kuba, Iran, China. Wladimir Putin, Fidel Castro, Hugo Chávez und seit dessen Tod Nicolás Maduro wurden den Argentiniern als neue beste Freunde vorgestellt.

Macri will geheime Wirtschaftsverträge mit China und Russland überprüfen, Sanktionen gegen Venezuela wegen der politischen Gefangenen anstrengen und die Amia-Vereinbarung mit Iran außer Kraft setzen; die sollte offiziell helfen, den Bombenanschlag von 1994 auf die Zentrale der jüdischen Gemeinde von Buenos Aires aufzuklären, war aber in Wahrheit ein Abkommen darüber, hier wie dort die Füße still zu halten und stattdessen Geschäfte miteinander zu machen.

Susana Malcorra, in ihrer Heimat kaum bekannt, dafür in der Welt vernetzt und geschätzt, verspricht eine mehr an westlichen Werten orientierte, weniger ideologiegetränkte Außenpolitik. Argentinien soll wieder verlässlich werden und damit interessant für Geldgeber und Investoren. Macri wertet mit dieser Wahl zudem das diplomatische Corps auf, das Cristina Kirchner mies behandelt hatte. Karrieren wurden nach Gutdünken beendet und freie Posten mit pibes besetzt, unerfahrenen Gefolgsleuten aus der Bewegung. Außenminister Héctor Timerman spielte zuletzt kaum mehr eine Nebenrolle, er war ein Durchsbildgeher, ein Statist in der hiesigen Politik. Nicht mal versorgt wurde er mit einem Abgeordnetenmandat oder ähnlichem. Seine Nachfolgerin soll wieder gestalten dürfen.

Mauricio Macri hat mit seinem Kabinett das Erwartbare geliefert. Glanz versprüht es nicht, dafür sind zu viele Bekannte dabei – und überhaupt viele, die neue Regierung ist ziemlich aufgebläht. Wenn man sich den letzten Minister endlich gemerkt hat, hat man den ersten bestimmt gerade wieder vergessen, und der zweite ist vielleicht schon zurückgetreten. Es ging wohl nicht anders. Der liberal-konservative Bürgermeister von Buenos Aires war mit den Radikalen, der heruntergekommenen Mitte-links-Volkspartei UCR, und der sozialliberalen Coalición Cívica eine Wahlallianz eingegangen. Heraus kamen Cambiemos (Lasst uns verändern) – und der Triumph am 22. November über den Regierungskandidaten Daniel Scioli. Die Helfer des Siegers haben Ämter verlangt. Es war Zahltag.

Ein Kabinett, dem der Präsident vertrauen kann, so lässt es sich vielleicht charakterisieren. Die Zeitung La Capital aus Rosario nennt es ein »Ensemble aus Kindheitsfreunden, Hauptstadtfunktionären und Verbündeten«. Macri bleibt sich zumindest treu. Er ist kein klassischer Politiker, sondern ein Seiteneinsteiger, er war Unternehmer und kam als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors zu Ruhm. Kandidaten für seine 2005 gegründete Partei Propuesta Republicana (PRO) hat er gern außerhalb der Politik gecastet, was Schauspielern, Komikern, Wirtschaftsmanagern, einstigen Fußballern und sogar Schiedsrichtern im Ruhestand Posten und Mandate bescherte. Er umging damit die auch am Río de la Plata grassierende Politikerverdrossenheit. Es ist kein Zufall, dass sein Kabinett gerade den Enttäuschten gefällt, die Abstand zu Parteien halten. Endlich werden Leute Minister, die nicht nur behaupten, etwas zu können, sondern das schon nachgewiesen haben – dieser Satz fällt oft, wenn man nachfragt.

Es ist anzunehmen, dass Macri das Misstrauen, mit dem viele seiner Landsleute der Politik begegnen, noch heute teilt. Mit seiner Mannschaft bedient er sie. Ewige Funktionäre und die unvermeidlichen Juristen haben lange regiert, jetzt übernehmen wieder los técnicos, die Spezialisten. Von einer »Ceocracia« spricht Perfil auf der Titelseite seiner Sonntagsausgabe, der Herrschaft der Geschäftsführer. Denn wie kein Präsident vor ihm schicke Macri »frühere Führungskräfte der Privatwirtschaft in Schlüsselpositionen der neuen Macht«.

Ceocracia

Macri hat das Wagnis gescheut, dem Volk den Glauben an seine Politiker, deren Tatkraft und Ehrlichkeit zurückzugeben. Dies wäre ein lobenswertes Ziel gewesen – und zugleich ein wohl zu ehrgeiziges. Schon das Regieren wird schwierig genug werden. Der Peronismus, der große Wahlverlierer, könnte seine Muskeln spielen lassen, wie er es gerne tut, wenn unverschämterweise eine andere Kraft der Bestimmer ist. Seine Gewerkschaften könnten das Land wochenlang mit Streiks und Fabrikblockaden lahmlegen, falls ihnen nicht passt, was Macri macht, und eine Mehrheit im Parlament hat der Präsident ja ohnehin nicht.

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Dass all die Technokraten und Unternehmer ohne Stallgeruch in der Theorie exzellent regieren können, darf man annehmen. Und unter all den breitbeinigen Ministern der jüngeren Zeit, Alphatieren mit politischem Instinkt allesamt, die Volksnähe gut simulieren konnten, ist das Land ja auch nicht unbedingt vorangekommen. Die meisten haben nie etwas anderes gemacht, als Funktionär zu sein. Sagen ließen sie sich wenig bis nichts, und ärmer als die reichen Unternehmer sind sie heute trotzdem nicht.

Riskant ist Macris Strategie gleichwohl. In Buenos Aires hat sie funktioniert, auf einem eher kleinen Spielfeld. Allerdings ist der klassische Macriwähler – überdurchschnittlich gebildet und wohlhabend, mit Europa und den Vereinigten Staaten sympathisierend – anderswo deutlich seltener anzutreffen. Es könnte für Befremden sorgen, wenn im weiten, hilfsbedürftigen Hinterland Unangenehmes, vielleicht gar Schmerzhaftes verkündet werden soll – und dann die Schlauen aus der Hauptstadt anrücken, um ganz rational darzulegen, dass da keineswegs Reiche Politik für Reiche machten. Den Porteño, den Bürger aus Buenos Aires, hält der Nichtporteño sowieso für muy cheto – hochnäsig, etepetete, aufgeblasen.

Macri wird nicht daran vorbeikommen, dem Land weh zu tun, wenn er verändern will. Die Sozialprogramme kosten viel und bewirken wenig, weil der Staat die Armen bislang vor allem versorgt, aber nicht aus der Armut herausholt. Der Abbau der Importrestriktionen trifft vielleicht kleine und mittelständische Firmen, wenn der Markt – wie in den neunziger Jahren – von Billigware überschwemmt wird, und billiger als in Argentinien ist es mittlerweile fast überall auf der Welt. Große Geschenke sind sowieso nicht drin, weil die Kasse leer ist.

Macri

> Mauricio Macri am Wahlabend  Foto: Facebook/Macri

Schluss mit der Armut, Schluss mit dem Drogenhandel, Schluss mit dem Streit, der die Gesellschaft zerreißtdas sollen die großen Themen der Präsidentschaft werden. Sehr edle Vorhaben hat sich Macri ausgesucht, aber mehr als die Überschriften kennt Argentinien noch nicht. Sobald es an die Produktion geht, wird’s unweigerlich knirschen. Hält die Regierung dagegen, wenn die peronistischen Halbstarken Krawall machen? Ertragen gerade die Ressortchefs, die aus den Führungsetagen von Lan, Farmacity, General Motors und Co. stammen, dass ihre Untertanen keine Untergebenen sind und sie selbst nicht weisungsbefugt? Wissen sie damit umzugehen, dass man recht haben kann und trotzdem nicht immer recht bekommt in der Politik?

Macri hat darauf verzichtet, einen Superminister für Wirtschaft und Finanzen zu ernennen. Womöglich wäre der angesichts der Fülle der Entscheidungen von zu vielen Seiten attackiert worden und nach spätestens zweieinhalb Monaten mit den Nerven am Ende gewesen. Nun wird die Last gemeinsam getragen, je nach Zählweise von sechs, zehn oder zwölf Ministern.

Es lässt sich kaum Schlechtes über das Kabinett sagen, wenngleich Linke die Ernennung von Juan José Aranguren, bis vor wenigen Monaten Chef des Ölkonzerns Shell, zum Energie- und Bergbauminister kritisieren. »Wenig Gutes in Sachen Fracking und Megabergbau« erwartet hier die taz. Nicht immer allerdings, das lehrt die Vergangenheit, gibt die Biografie das Programm vor. So entstammt Guillermo Dietrich einer Dynastie aus der Automobilindustrie. Als Transportminister von Buenos Aires hat er jedoch den Nahverkehr modernisiert, er gilt als Vater der Radwege (150 Kilometer), die in vergangenen sieben Jahren entstanden sind, und des Metrobus-Netzes. Sechs Linien sind es mittlerweile; die noch immer recht klapprigen, aber nach wie vor wunderschönen colectivos fahren auf eigenen Spuren und kommen deutlich schneller voran als früher. Beklagt hatten sich über die (sehr teuren) Investitionen und die Dauerbaustellen die, die Platz machen mussten: Auto- und vor allem Taxifahrer. Der Metrobus ist heute eines der Aushängeschilder von Macris zwei Amtszeiten als Hauptstadtbürgermeister, und er soll weiter ausgebaut werden – von Dietrich, der zum Transportminister Argentiniens aufsteigt.

Nur drei Frauen haben übrigens einen Posten bekommen – aber mehr als 20 Männer. Hier schickt der Wandelprediger Macri das Land erstaunlicherweise zurück in die Blütezeit des machismo argentino. Wobei: Verblüht ist der ja noch gar nicht. Am Herrenklub, der in den zehn Tagen seine Arbeit aufnehmen wird, stört sich Argentinien bisher jedenfalls nicht.

♦♦♦♦♦

Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

  1. ihr Platz in der Welt []

Argentinien vor der Stichwahl (4): Grünschnabel gegen Chamäleon

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Peronismus ist, vielleicht, die politische Bewegung mit der weltweit höchsten Dichte an Anekdoten und Kalendersprüchen. Sein Erfinder Juan Domingo Perón (1895 bis 1974), dreimal Präsident Argentiniens, war ein begnadeter Wortakrobat. Viele seiner Weisheiten sind längst Volkseigentum, sie werden zitiert und abgewandelt.

  • Ich habe Bösewichte gesehen, aus denen gute Menschen wurden. Aber niemals einen Idioten, der wieder intelligent geworden wäre.
  • Die Preise steigen im Fahrstuhl, die Löhne nehmen die Treppe.
  • Ich bin ein friedfertiger General, so was wie ein pflanzenfressender Löwe.
  • Wir Peronisten sind wie Katzen. Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.
  • Für den Peronismus gibt es nicht mehr als nur eine Klasse von Menschen: die, die arbeiten.

Doch trotz all der Beschreibungen, die das Idol der Bewegung hinterlassen hat, ist der Peronismus kaum zu begreifen. Er orientiert sich mal nach links und mal nach rechts, dann wieder tummelt er sich dazwischen; er hat kein festgelegtes Programm, nicht mal eine Organisation (sondern viele und viele untereinander verfeindete), ja selbst die Suche nach Ideen als Grundlage des Handelns führt ins Nichts. Fündig wird man eher im Tierreich, bei einem Wesen, das ähnlich anpassungsfähig ist: dem Chamäleon. Gefragt nach der wahren Ideologie dieser unvergleichbaren Bewegung, soll einer der Unternehmerfreunde Peróns mit einem Bonmot geantwortet haben: »Man muss immer dem Weg des Geldes folgen. Wenn Geld da ist, werden Eisenbahnen gekauft. Wenn nicht, werden sie verkauft.«1

Der Peronismus wird die Stichwahl um die Präsidentschaft am Sonntag wohl verlieren, es wäre seine zweite historische Niederlage binnen eines Monats. Am 25. Oktober hat er schon – nach 28 Jahren ununterbrochener Herrschaft – die Riesenprovinz Buenos Aires an das Oppositionsbündnis Cambiemos (Lasst uns verändern) abgeben müssen. Dort, wo fast vier von zehn Argentiniern zu Hause sind und das industrielle Herz schlägt, hat nun María Eugenia Vidal das Sagen. »Heidi«, wie das verträumte Mädchen aus den Alpen, hatte einer ihrer peronistischen Gegenkandidaten sie im Wahlkampf verächtlich genannt. Jetzt steigt Vidal, derzeit noch Vize des liberal-konservativen Hauptstadtbürgermeisters Mauricio Macri, zur zweitwichtigsten politischen Figur des Landes auf – mit 42 Jahren. Und ihr Chef sitzt auch schon mit einer Pobacke auf dem ganz großen Thron, dem in der Casa Rosada.

Regierungsmann Daniel Scioli (58), scheidender Gouverneur der Provinz Buenos Aires, schafft es offenbar nicht, den Rückstand aufzuholen, den Meinungsforscher ermittelt haben. Seine vielleicht letzte große Chance, das 80 Minuten lange TV-Duell am vergangenen Sonntag, hat der frühere Motorbootrennfahrer nicht nutzen können. Allenfalls ein Unentschieden gelang ihm, die meisten Umfragen sahen sogar seinen Gegner vorn. Dabei hatte Macri (56) keineswegs brilliert. Er rezitierte ausgiebig aus seinem Wahlkampfredenbüchlein und bestritt alles, was Scioli einfiel an möglichen Folgeschäden einer Amtsübernahme Macris: die Abwertung des Pesos. Auch die Abwertung des Pesos. Und die Abwertung des Pesos, die sowieso. Er wirkte ruhig und unaufgeregt, mitunter fast eine Spur zu lässig. Wenn er nicht noch versucht, in den letzten Tagen über den Río de la Plata zu laufen, sollte er sein Ziel unbeschadet erreichen.

Alles andere wäre, mittlerweile, eine ziemliche Sensation. Erstaunlich, wie sich die Stimmung gedreht hat. Bei den Vorwahlen Anfang August hatte Macri noch acht Prozentpunkte hinter Scioli gelegen; in der ersten Wahlrunde am 25. Oktober waren es dann nur noch zweieinhalb; und jetzt führt er angeblich. Warum? Sieben der mehr als 32 Millionen wahlberechtigten Argentinier haben vor vier Wochen weder für ihn noch für Scioli gestimmt, sondern für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten der antikirchneristischen Opposition. Am Sonntag wollen die meisten von ihnen offenbar Macri wählen.

Scioli hatte für die Fernsehdebatte Attacken versprochen, und dann war es doch Macri, der als Erster angriff. »Was ist nur aus dir geworden? Du ähnelst einem der Experten von 6-7-8«, sagte er. 6-7-8 ist eine Talkshow am Sonntagabend, in der strenggläubige Kirchneristen gegen die Opposition in Politik und Medien hetzen. Ein paar Tage zuvor hatte Scioli die dicke Staubschicht von einem alten, aber unvergessenen Zitat gepustet: Wenn Macri regiere, »werden die Wissenschaftler wieder Teller spülen«. Es war ein weiterer Versuch, seinen Rivalen dem Volk als herzlosen Neoliberalen vorzuführen. »¡Andá a lavar los platos!«2, hatte 1994 Domingo Cavallo, der Wirtschaftsminister des Präsidenten Carlos Menem, einer Soziologin zugerufen, die sich über die steigende Arbeitslosigkeit beschwerte.

Macri soll Scioli diesen Vergleich übel genommen haben, oder er tat zumindest so. Die beiden sind alte Freunde, zumindest waren sie es. Schon José Scioli und Franco Macri, ihre Väter, hatten sich sehr nahe gestanden. Franco Macri, heute 85 Jahre alt, ist einer der schwerreichen Wirtschaftskapitäne Argentiniens – und ein besonders umstrittener, weil er dank bester Kontakte in die hohe Politik zu allen Zeiten Geschäfte mit dem Staat gemacht hat. Einer seiner Schachpartner war: Daniel Scioli.3

Überhaupt Schach, was für ein Thema! Die frühere Journalistin Gabriela Cerruti, heute kirchneristische Abgeordnete in der Hauptstadt, erzählt in El Pibe, der Biografie Mauricio Macris, wie dieser zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr jeden Sonntagvormittag drei Stunden lang mit dem Vater spielen musste. Anschließend stolzierte der Patriarch zum großen Tisch, an dem sich die Familie zum Mittagessen versammelte, und rief aus: »Dieser dämliche Grünschnabel wird mich nie besiegen.« Irgendwann war der Alte dann doch einmal dran. Schachmatt. Er schaute überrascht und schwieg, packte in aller Ruhe die Figuren ein und stellte sie mit dem Brett in das höchste Regal, das er, auf Zehenspitzen stehend, erreichte. Nie wieder hat er mit dem Sohn gespielt.

Im TV-Duell revanchierte sich Mauricio Macri für den Tellerwäscher-Satz und landete einen Wirkungstreffer, den Scioli und seine Berater – eingestellt auf einen zahmen Gegner – nicht hatten kommen sehen. Der Kirchnerist reagierte fahrig, sein Kopf pendelte hin und her; er sprach den Kontrahenten mit »Ingenieur Macri« an, als wäre der ein Fremder, und guckte dabei nicht einmal zu ihm hinüber. Später fing er sich ein wenig und argumentierte besser, aber überzeugend war sein Auftritt nicht. Die Zeitung Clarín schrieb, der Schachliebhaber Scioli sei »en zugzwang« gewesen, ein Gefangener »dieser seltsamen Stellung, in der jede Figur, die du bewegst, deine Situation vermutlich nur noch schlimmer macht«.

Scioli Mar del Plata

> Daniel Scioli gestern beim Wahlkampfabschluss in Mar del Plata                                                                                   Foto: Scioli/Facebook

Es sind zwar noch drei Tage bis zur Entscheidung, aber schon gestern haben die beiden Kandidaten ihren Wahlkampf mit einer letzten großen Kundgebung offiziell beendet. Macri reiste nach Humahuaca in die Nordprovinz Jujuy, wo er in der ersten Wahlrunde nur Dritter geworden war. Scioli zog es dorthin, wo der Argentinier gern mit vielen anderen Argentiniern seinen Sommerurlaub verbringt: an die Atlantikküste nach Mar del Plata. Seit Freitagmorgen um acht gilt der Waffenstillstand. Keine Auftritte. Keine Wahlkampfspots im Fernsehen und Radio. Nur im Internet und den sozialen Netzen darf noch geworben werden.

So wahrscheinlich ein Sieg Macris ist, der Peronismus wird stark bleiben. In mehr als der Hälfte aller 24 Provinzen stellt er den Gouverneur, manche von ihnen stehen Präsidentin Cristina Kirchner nahe, andere hassen sie, aber alle sind Peronisten. Gegen sie kann Macri nicht regieren. Und ohne sie auch nicht.

»In Argentinien wird dir alles verziehen, außer du sprichst schlecht von Perón und dem Peronismus«, schreibt die Journalistin Silvia D. Mercado in ihrem aktuellen Buch El relato peronista.4 »Der Spitzname Gorilla5 ist fast so, als würden sie im Nazi-Deutschland zu dir Jude sagen. Du bist außerhalb des Registers. Sie stecken dir einen gelben Stern ans Sakko, und deine Worte verlieren ihren Wert. Die Leute sehen dich auf der Straße und wechseln den Bürgersteig.«

Macri Humahuaca

> Mauricio Macri gestern beim Wahlkampfabschluss in Humahuaca                                                        Foto: Macri/Facebook

Auch deshalb hat sich Macri peronisiert – nicht erst, als er in der Hauptstadt, die er seit 2007 regiert, eine Perón-Statue einweihte. Den Wandel, den er Argentinien verspricht, hat er schon hinter sich, nur entgegengesetzt. Er will nicht mehr der sehr liberale Reformer sein, vor allem, weil nur eine Minderheit den radikalen Neuanfang will. Er bekennt sich zur Rückverstaatlichung des Ölkonzerns YPF, eine der überaus populären Entscheidungen des Kirchnerismus, gegen die seine Partei noch 2012 im Parlament gestimmt hatte. Der Staat soll bitte stark bleiben, so wünscht es das Volk bis hoch in die Mittelschicht, und Macri versucht nicht mehr, es ihm auszureden.

Eine Obsession für die Neunziger, die »verlorenen Dekade«, hat die Zeitung La Nación den Argentiniern jüngst bescheinigt. Eine neue goldene, unbeschwerte Zeit schien aufzuziehen, denn die große Privatisierung löste so viele Probleme auf einmal. Präsident Menem benahm sich wie ein Popstar, fuhr im Sportwagen herum und umarmte die Rolling Stones. Seine Untertanen, jedenfalls die mit Geld, drehten ähnlich durch und ließen es krachen. Doch Menem vererbte dem Nachfolger ein ausverkauftes Land und ist heute als Überträger von Pech und Unglücken aller Art verschrien, weshalb sich Abergläubische, wenn sie seinen Namen hören oder aussprechen, gern in den Schritt (Männer) oder an die Brust (Frauen) fassen. Das soll die Ansteckung verhindern.

Der Kirchnerismus hat versucht, Macri zum Wiedergänger Menems zu machen, und tatsächlich gibt es Zitate, die den Kandidaten überführen. »Der große Transformator« sei Menem, sagte er 2003, als er gerade in die Politik eingestiegen war. Vier Jahre brauchte er, um sich öffentlich zu widerrufen. »Bei Menem habe ich mich geirrt«, sagte er. »Menem war für alle ein Desaster.«

Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen.

Man kann ihn für unerfahren halten, weil er erst vor acht Jahren sein erstes und bislang einziges politisches Amt angetreten hat, das des Bürgermeisters von Buenos Aires. Zuvor war er allerdings 13 Jahre lang Präsident der Boca Juniors gewesen, und der mit Abstand populärste Fußballklub im Land hat die größten Erfolge seiner mehr als hundertjährigen Geschichte genau in dieser Zeit gefeiert. Unterschätzen sollte man Macri also nicht. Ein Gewinner ist er.

»Für einen Peronisten kann es nichts Besseres geben als einen anderen Peronisten«, hat Juan Domingo Perón einst gesagt. Es ist die sechste der 20 peronistischen Wahrheiten, die im großen Fundus aus Zitaten, Sprüchen und Schnurren ganz oben liegen. Mit Mauricio Macri wird sich die Bewegung trotzdem gut stellen wollen – und zwar aus reinem Selbsterhaltungstrieb: Seine Gouverneure und Bürgermeister im ganzen Land hängen seit Ewigkeiten am Tropf des Präsidenten. Ohne Geld aus der Staatskasse riskieren sie, was sie am meisten lieben: Macht.

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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

  1. zitiert nach Silvia D. Mercado: El relato peronista. Porque la única verdad no siempre es la realidad, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2015, S. 279. []
  2. Geh Teller spülen! []
  3. Pablo Ibáñez/Walter Schmidt: Scioli sectreto, Buenos Aires 2015, S. 12. []
  4. Silvia D. Mercado: El relato peronista. Porque la única verdad no siempre es la realidad, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2015, S. 11. []
  5. So nennen Peronisten gern Anti-Peronisten []

Argentinien vor der Stichwahl (2): Mit Chewbacca, Bambi und der Mutter von McFly gegen die Angst

von CHRISTOPH WESEMANN

Doch, doch, witzig ist er, der Wahlkampf um die Präsidentschaft. Argentinier haben ja einen speziellen, sehr flinken und oft abgründigen Humor, der ihnen hilft, all den Irrsinn, der sie umgibt und zu dem sie natürlich selbst viel beitragen, erträglicher zu machen. Aber alles, was war, ist nichts gegen das, was nun kommt.

Vor Argentinien liegen nämlich – von heute an gezählt – noch 36 unbeschwerte Tage. Am 22. November wird ein neuer Präsident gewählt, und wenn der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri den linkspopulistischen Regierungskandidaten Daniel Scioli besiegt, beginnt mit seinem Amtsantritt am 10. Dezember unverzüglich der Untergang des Landes. Sagt die Regierung. Dann kürzt der neue Präsident das Kindergeld und streicht die staatlichen Hilfen für Arme, er nimmt den Leuten auch Fútbol para Todos (Fußball für Alle) weg, die kostenlose Live-Übertragung der Ligaspiele, und sieht gleichgültig zu, wie die Arbeitslosigkeit steigt, die Löhne sinken und der Peso an Wert verliert. Es gefällt ihm sogar.

Vor allem aber privatisiert Macri alles. Wirklich alles.

Macri grupo

> Scherz auf Whatsapp: Macri ist der Gruppe beigetreten. – Macri hat die Gruppe privatisiert.

Und nicht einmal dabei belässt er es. Wenn Macri gewinnt,

  • heiratet die Mutter von McFly Biff;
  • wird der Toast auf die Seite mit der Marmelade fallen;
  • fängt Wile E. Coyote Road Runner;
  • machen sie aus Bambi Pastete;
  • trinkt das Baby nicht mehr aus deiner Brust;
  • verlangt Chewbacca von dir, dass du ihn kämmst;
  • wird dir dein Hund nicht mehr das Stöckchen holen;
  • enthält das Überraschungsei keine Überraschung mehr;
  • lässt dich Rexona im Stich.
Bu

> Wenn Macri gewinnt, verlangt Chewbacca von dir, dass du ihn kämmst. Foto: Campaña Bu/Facebook

Es ist genial, wie die Facebook-Gruppe Campaña Bu (Motto: »Mit Angst wählst du besser«) vermeintlich die Wahl der Regierung empfiehlt, um genau das nicht zu erreichen. Auf einer anderen Seite im Netz werden falsche Nachrichten verbreitet, die behaupten, Macri sei verantwortlich für das Verschwinden der Dinosaurier, er plane, den Buchstaben K (für kirchnerismo) aus dem Wörterbuch zu entfernen, werde die Siesta verbieten und stehe unter dem Verdacht, Schneewittchen vergiftet zu haben.

Witzig also ist der Wahlkampf. Aber das kann er nur sein, weil er zugleich schmutzig ist. Das eine bedingt das andere, der Witz ist die Antwort auf den Schmutz. Die Regierung von Cristina Kirchner versucht gerade, und zwar ganz ernsthaft, den Oppositionskandidaten in einen Alleskaputtmacher zu verwandeln. Von Stärke zeugt das nicht, im Gegenteil: Wer Angst schürt, fürchtet sich bekanntlich selbst, Machtwechsel bedeutet eben auch Machtverlust. Eine Regierung, der nach zwölf Jahren Herrschaft als Werbung für sich selbst nichts Besseres einfällt als das Warnen vor der Zeit ohne sie, misstraut ihrer Bilanz. Auch Meinungsforscher und Politikwissenschaftler glauben übrigens, dass die Angstkampagne zum Bumerang werden könnte.

Doch die Angst ist so etwas wie die letzte Patrone, die der Kirchnerismus noch hat vor der gefürchteten Stichwahl. Denn ein Zusammengehen mit den peronistischen Rebellen um Sergio Massa wird es wohl nicht geben. Massa, mit 21 Prozent der Drittplatzierte des ersten Wahlgangs vom 25. Oktober, hat sich festgelegt: Für den Regierungsmann Scioli wird er nicht stimmen. Das bedeutet im Umkehrschluss, wenngleich er es nicht ausdrücklich sagt, dass er Macri will. Wie viele seiner mehr als fünf Millionen Wähler ihm folgen, lässt sich schwer sagen. Klar ist aber, dass diese Masse auf Präsidentensuche die Wahl entscheidet.

Verglichen mit den cleveren Gegenkampagnen im Netz, die das Angstmachen übertreiben und die Angstmacher lächerlich machen, wirkt das, was der Kirchnerismus den Wählern auftischt, plump und einfallslos. Mit Macri, das ist die Kernbotschaft, kehrt der Neoliberalismus der neunziger Jahre zurück, die berühmte Epoche von Pizza y Champagne, als es scheinbar Geld im Überfluss gab, weil Präsident Carlos Menem Staatsbetrieb um Staatsbetrieb verscherbelte. Das Ende ist bekannt: erst Urlaube in Miami und ein Leben in Saus und Braus für die Mittelschicht, dann 2001 Staatspleite, Chaos, Straßenschlachten, Tote, Elend. Man hat es nicht vergessen – und auch nicht, dass es die Kirchners waren, unter denen es seit 2003 wieder eine ganze Weile bergauf gegangen ist. Deshalb wird Macri den Argentiniern als neuer Menem verkauft, als Schreckgespenst und Mann von gestern. Das Volk soll bitte glauben, dass seine Ideen das Land zurück in diese Vergangenheit führten.

Diese Argumentation hat freilich drei – mindestens drei – Schwächen: Erstens hat nicht Macri in den neunziger Jahren an der Seite Menems gestanden, sondern sein aktueller Gegner Daniel Scioli, der damals von eben diesem Präsidenten in die Politik geholt wurde und ihn bald darauf als Abgeordneter »mit Krallen und Zähnen« verteidigte, genau wie Cristina Kirchner übrigens; zweitens hat sich Menem selbst gewandelt, heute ist er: Kirchnerist; und drittens ist Macri erst seit 2003 politisch aktiv.

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

> Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

Oder auch das: Macri bringe die Armut zurück nach Argentinien, behauptet die Regierung, die sich seit zwei Jahren nicht mehr traut, sie zu messen, wohl aus gutem Grund. Unabhängige Studien gehen davon aus, dass die Armut wieder wächst, sie soll sogar das Niveau der neunziger Jahre erreicht haben – trotz all der Sozialprogramme, die der Kirchnerismus aufgelegt hat, trotz des Kindergeldes, das ständig erhöht werden muss, damit es von der Inflation nicht aufgefressen wird. Und der Peso, der mit Macri angeblich an Wert verlieren würde, verliert ja schon Monat für Monat an Wert. »Die Frage ist, warum die Armen nach so vielen Jahren mit günstigen internationalen Rahmenbedingungen für Argentinien so viel Angst haben sollen, noch ärmer zu werden«, meint der Rechtsprofessor Ezequiel Spector. »In wirklich prosperierenden Ländern sind Regierungswechsel nicht traumatisch. Man feiert die Demokratie und die Alternative.«

Gewiss, man weiß nicht, was mit Macri kommt, er selbst hat über seine Pläne bislang auch wenig verraten; seine Versprechen sind eher vage: Wandel, Arbeitsplätze und Investitionen aus dem Ausland. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass es den Argentiniern – oder zumindest dem Großteil – besser gehen wird als jetzt, wenn er regiert. Nur: Schlau wird man ja aus sowieso immer erst aus der Regierung und nie aus den Kandidaten.

Ein kultureller Wandel ist jedoch wahrscheinlich. Fútbol para Todos wird Macri wohl nicht antasten − er bestätigte damit ja alle Vorurteile, er mache Politik für die Reichen. Versprochen hat er aber, die kostenlosen Live-Spiele nicht als Dauerwerbesendung für die Regierung zu nutzen, wie es der Kirchnerismus seit Jahren tut. Auch die Fernsehansprachen mit Überlänge − vor einer Woche redete die Präsidentin 168 Minuten − sollen ein Ende haben.

Sein Kontrahent Scioli repräsentiert dagegen − kulturell betrachtet − eher schlechte argentinische Angewohnheiten. Die Präsidentschaftsdebatte Anfang Oktober, die erste in der Geschichte des Landes, hat er als einziger der sechs Kandidaten geschwänzt. Dies zeige, so schreibt Pablo Sirvén in der Zeitung La Nación, »dass er nicht toleriert, oder es ihm Angst macht, dass andere anderer Meinung sind als er«. Obendrein, so Sirvén, »verwechselt er den Staat mit sich selbst«. Gemeint ist: Der Gouverneur begreift sich als Eigentümer der Provinz Buenos Aires, die er seit acht Jahren regiert. Und schließlich könne man bei Scioli noch »ein anderes Kennzeichen peronistischer Anführer ausmachen: die Vetternwirtschaft«. Tatsächlich ist die Politik am Río de la Plata voller Ehefrauen und Ehemänner, Schwestern und Brüder, Söhne und Töchter, Schwager und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen, die nicht nur Beiwerk sind, sondern selbst nach Ämtern streben, als wären’s Erbgüter.

Sciolis Frau, das Ex-Model Karina Rabolini, führt als Präsidentin die Bank-Stiftung der von ihrem Mann regierten Provinz. Sein Bruder José, genannt Pepe, spielt als Wahlkampfstratege eine wichtige Rolle. Lorena, die Tochter, die der einstige Motorbootrennfahrer erst nach 15 Jahren anerkannt hat, zieht als »Fahnenträgerin« von Desarrollo Argentino, der Denk- und Spendensammelfabrik ihres Vaters, durchs Land. Man sollte eher nicht erwarten, dass Daniel Scioli nach dem Einzug in den Präsidentenpalast diesen Familienbetrieb auflöst.

Eine Angst-Kampagne gegen Macri hat er in dieser Woche bestritten. Sie war vielleicht nicht seine Idee, Scioli ist eher kein Raufbold, er hat den politischen Nahkampf immer gescheut. Mindestens jedoch fehlt ihm die Autorität, einzuschreiten und einen anderen Weg vorzugeben. Nicht einmal jetzt, so kurz vor der Stichwahl, ist er die starke Figur des Kirchnerismus. Die sitzt − noch − im Präsidentenpalast.

Kirchner in der Casa Rosada

> Cristina Kirchner bei ihrer 168 Minuten lange Rede im Präsidentenpalast                         Foto: Casa Rosada

In ihrer langen Rede am vergangenen Donnerstag erwähnte die Amtsinhaberin Scioli mit keinem Wort − dafür dessen Rivalen: Macri »denkt, dass Homosexualität eine Krankheit sei«, sagte Kirchner. Am Sonntagabend, als Argentinien vor dem Fernseher saß, um zu schauen, wie Boca seine 25. Meisterschaft holt, wurde in der Spielpause von Fútbol para Todos ein Spot ausgestrahlt. »Macris Wirtschaftsplan ist der gleiche wie der der Militärdiktatur«, verkündete eine Stimme.

Alles sauber? Kein Schmutz?

Am Abend zuvor, bei einer anderen Partie, hatte einer der ultrakirchneristischen Kommentatoren in der Halbzeit gesagt: »Alle Tore gehören weiter allen … weil du sie nicht den Propheten des Hasses zurückgeben wirst, nicht?« Der Satz, eine Blutgrätsche mit Anlauf, legte nahe, dass unter dem Präsidenten Macri der Fußball wieder – wie vor 2009 – im Bezahlfernsehen ausgestrahlt werde.

Am Dienstag twitterte der Gesundheitsminister, von dem man gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt, die zwölf neuen Krebstherapiezentren »bleiben bestehen, wenn Scioli Präsident ist. Überleg dir deine Wahl gut«. Bald darauf löschte er den Tweet und klagte, sein Account sei gehackt worden.

Alles friedlich? Keine Angst?

Macri erzählte im Radio übrigens: »Meine Tochter Antonia hat mich gefragt, ob es wahr sei, dass die Überraschungseier keine Überraschung mehr haben werden, und ich musste ihr sagen, dass es nicht stimmt und sie sich keine Sorgen machen soll.«

Auch das war, natürlich, nur ein Witz.

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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

Argentinien vor der Stichwahl (1): Der Zickzack-Kandidat der Allmächtigen bleibt sich treu

von CHRISTOPH WESEMANN

Wie also hält es Daniel Scioli, der Mann, der Argentinien die kommenden vier Jahre regieren will, mit der Frau, die noch bis zum 10. Dezember regieren wird? Mehr Cristina Kirchner in den letzten Wochen? Oder doch weniger? Wobei die Frage streng genommen lauten müsste: Noch mehr, echt jetzt? Die scheidende Präsidentin ist ja bereits überpräsent, sie bricht, was die Anzahl ihrer Fernsehansprachen betrifft, alle Rekorde – die eigenen, wohlgemerkt. Anlässe für Volksreden gibt es genug, manchmal steigt das Kindergeld, oft ist etwas einzuweihen, wie jüngst zwei Schwimmhallen in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz, und ab und zu muss sich Kirchner auch einfach jemanden vorknöpfen. Gestern Abend hielt sie Ansprache Nummer 45 in diesem Jahr, es war die 164. seit ihrem Amtsantritt am 10. Dezember 2007. Zum Vergleich: Amtsvorgänger Néstor Kirchner, ihr 2010 verstorbener Mann, brachte es in seinen vier Jahren auf gerade einmal zwei. 

Daniel Scioli und Cristina Kirchner Foto: Casa Rosada

> Daniel Scioli und Cristina Kirchner                       Foto: Casa Rosada

Überdies hat sie bislang auch in der Präsidentschaftskampagne des Regierungskandidaten Daniel Scioli kräftig mitgemischt – da aber eher im Verborgenen. Kirchneristen, die etwas werden wollten im argentinischen Superwahljahr, ob Abgeordneter, Bürgermeister oder Gouverneur, wurden von ganz oben auf Gesinnungshärte geprüft. Kirchner sucht verlässliche Erben, sie will die Errungenschaften der zwölfjährigen Herrschaft in guten Händen wissen. Ihre Werkzeuge bei der Nominierung der Kandidaten waren lapicera y guadaña, wie man in Argentinien sagt, Kugelschreiber und Sense.

Selbst Scioli gab die Allmächtige ja ihren Segen – und bestellte auch gleich noch den Aufpasser: ihren ewigen Vertrauten Carlos Zannini, der Vizepräsident wird, wenn es der Spitzenmann in die Casa Rosada schafft. Scioli akzeptierte diesen Vorschlag und erzählte hinterher, der Chinese (Zanninis Spitzname) sei seine Idee gewesen. Falls das stimmt, dann hatte er die Eingebung aus vorauseilendem Gehorsam. Oder wollen wir wirklich glauben, dass der politisch so erfahrene Gouverneur der Provinz Buenos Aires aus freien Stücken ausgerechnet den Mann angeworben hat, der seit fast 30 Jahren die Familie Kirchner auf Engste begleitet?

Nein, Cristina Kirchner will die Kontrolle in den Ruhestand verlängern – und den Preis dafür hat am vergangenen Sonntag der frühere Motorbootrennfahrer bezahlt. Er gewann zwar die erste Runde der Präsidentschaftswahl knapp, muss aber nun dorthin, wo er keinesfalls hinwollte: in die Stichwahl. Er hatte ja ganz darauf gesetzt, direkt gewählt zu werden, entweder mit mehr als 45 Prozent oder aber mit 40 und dann zehn Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzieren. Die beiden Ziele verfehlte er klar, obwohl die Umfragen zumindest Variante zwei für möglich bis wahrscheinlich gehalten hatten. Doch nicht nur das. Er verspielte auch den großen Vorsprung vom August: Bei den Vorwahlen hatte er noch acht Punkte vor Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri und dessen zwei Bündnispartner im internen Kandidatenrennen gelegen. Nun sind sie fast gleichauf: Scioli bei 36,86 Prozent, Macri solo bei 34,33.

Am 22. November wählen die Argentinier noch einmal, sie müssen sich dann zwischen diesen beiden, fast gleich alten Männern – Scioli ist 58 Jahre alt, Macri 56 – entscheiden. Sieben Millionen Wähler, die am Sonntag für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten gestimmt haben, suchen in den nächsten drei Wochen noch einmal neu. Wobei: Sie müssen gar nicht suchen, sie werden schon gefunden. Begehrt sind vor allem die 21 Prozent, die den antikirchneristischen Peronisten Sergio Massa in der ersten Runde unterstützt haben – umgerechnet mehr als fünf Millionen Wähler. Wer von diesem Riesenbatzen das große Stück bekommt und noch einmal seine Stimmen vom ersten Durchgang einsammelt, wird gewinnen.

Am wenigsten muss man sich um Massa sorgen; als Stimmenbeschaffer kann er im Grunde alles werden, was er will, außer natürlich Präsident und Vize. Schwer zu ködern wird er sein. Massa ist jung, gerade einmal 43 Jahre alt, und hat noch Zeit. Er muss nicht jetzt ein wichtiges Amt erobern, er könnte sich auch daran machen, den zerstrittenen Haufen zu befrieden, der sich Peronismus nennt, um dann als großer Anführer 2019 ein neuen Anlauf zu nehmen. Dafür allerdings müsste Scioli die Stichwahl verlieren – sonst ist er der starke Peronist.

Daniel Scioli am Wahlabend im Luna Park

> Daniel Scioli mit Carlos Zannini am Wahlabend im Luna Park Foto: Daniel Scioli/Facebook

Massa scheint eher geneigt, Macri zu helfen, jedenfalls lassen das seine Äußerungen in dieser Woche vermuten. »Ich will nicht, dass Scioli gewinnt«, sagte er und erklärte die Präsidentin zur ersten Verliererin der Abstimmung: »Das Volk hat am Sonntag gesagt, dass es keine Kontinuität will.« Kirchner war mal, es ist schon ein paar Jahre her, seine Vorgesetzte und Massa ihr Kabinettschef. Er ist dann weitergezogen und Bürgermeister der Stadt Tigre vor den Toren von Buenos Aires geworden, er hat sich politisch verändert und vom Kirchnerismus losgesagt – Peronist aber ist er bis heute geblieben. »Cristina muss weg, sie geht, am 11. Dezember ist sie Rentnerin«, sagte er. »Ich würde den Kirchneristen raten, dass sie sich darum kümmern, ihre Papiere zu ordnen und ihre Amtsgeschäfte abzuwickeln.«

Sergio Massa am Wahlabend

> Sergio Massa am Wahlabend in Tigre        Foto: Sergio Massa/Facebook

Das alles klang wie die Bewerbung um einen Posten im Kabinett des Präsidenten Mauricio Macri. Doch wie gesagt, Massa ist Peronist – genauso wie Scioli und offiziell auch Cristina Kirchner. Schon der Heilige des Peronismus, sein Gründer Juan Domingo Perón, hat Gegner vor falschen Schlüssen gewarnt, als er das Innenleben dieser weltweit einmaligen politischen Bewegung beschrieb. »Wir Peronisten sind wie die Katzen«, lautet eines seiner unsterblichen Zitate. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Und selbstverständlich hat Massa, als er sich in dieser Woche einmauerte, nicht vergessen, eine Fluchttür einzubauen. Er sagte nämlich auch: »Wenn Scioli doch Präsident werden will, muss er aufhören, der Kandidat des Kirchnerismus und ein Angestellter von Cristina zu sein.«

Zu den Kuriositäten des Wahljahres gehört, dass die Präsidentin wieder unheimlich beliebt ist; das war nicht immer so in den vergangenen Jahren. Auf den ersten Blick erscheint deshalb die Mehr-Kirchner-Strategie durchaus naheliegend, ja vielversprechend: Scioli hängt sich an die populäre Staatschefin, die noch häufiger im Fernsehen redet als bislang, und lässt sich von ihr in die Casa Rosada schleppen. Wählen aber wird er wohl Variante zwei: weniger Kirchner, viel weniger, so wenig wie möglich. Er dürfte auf größtmöglichen Abstand zur Amtsinhaberin gehen. Prognose: Nach diesem Wochenende kennt er sie nur noch flüchtig, und spätestens zwei Tage vor der Stichwahl, also am 20. November, hat er ihren Namen noch nie gehört. Und der Chinese, der von ihr ausgesuchte Vizekandidat Carlos Zannini, wo steckt der eigentlich gerade? – Scioli: »Wer?«

Cristina Kirchner bei der Stimmabgabe in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz Foto: Casa Rosada

> Cristina Kirchner bei der Stimmabgabe in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz                                                             Foto: Casa Rosada

»Jedes Mal, wenn Cristina eine Fernsehansprache hält, verlieren wir 700 000 Stimmen«, hat einer von Sciolis Unternehmerfreunden gerade gesagt. Das ist übertrieben, es zeigt aber das Problem: Der Kandidat wird als Marionette wahrgenommen und erscheint deshalb jenen Wählern unattraktiv, die einen Wechsel wollen. Die Kirchnerallianz Frente para la Victoria, für die Scioli antritt, wurde zwar auch bei der Wahl vom 25. Oktober die stärkste Kraft – aber schon wieder stimmten sechs von zehn Argentiniern für die Opposition.

Der Gouverneur hat bereits im Wahlkampf versucht, in diesem feindlichen Lager zu punkten, indem er von Tag zu Tag ein bisschen mehr Neuanfang versprach und ein bisschen weniger Kontinuität. Monatelang hatte er den Ultrakirchneristen gegeben und die Präsidentin gepriesen. Mitten in der Kampagne rückte er davon ab und war nun wieder, was er schon gewesen war, bevor er Ultrakirchnerist wurde: ein undogmatischer Peronist mit breitem Profil. Aber wer sollte und wollte bei all diesen Häutungen noch durchsehen? Eine Strategie war das jedenfalls nicht, dieser Zickzack, eher ein Fürblödhalten der Leute, und natürlich hat es nicht funktioniert.

Scioli wird diesen Weg trotzdem weitergehen. Er hat keine Wahl. Er braucht die Stimmen aus dem Oppositionslager, weil Kirchnerismus allein nicht reicht für einen Sieg gegen Macri. Riskant bleibt es allemal. Es ist nicht absehbar, wie die Präsidentin und ihre Freunde auf die Trennung reagieren werden. »El candidato es el proyecto«, heißt noch immer das inoffizielle Wahlkampfmotto. »Der Kandidat ist das Projekt.« Nichts ist wichtiger als das Erreichte; es zählt ausschließlich, was Néstor und Cristina Kirchner seit 2003 geschaffen haben. Nichts anderes steht zur Wahl und muss verteidigt werden – von jedem Kandidaten, und erst recht von dem, der Präsident werden will.

Was werden die kirchneristischen Stammwähler (30 Prozent) machen, wenn Scioli nun das Projekt vergessen lassen will und einen Dreiviertel-Macri gibt, also fast so viel Wechsel verspricht wie der angeblich rechte Rivale, der den Neoliberalismus der neunziger Jahre auferstehen lassen würde? Wählen sie den Überläufer mit Parteibuch dennoch? Oder wird er bestraft? Begeistert hat Scioli die standfesten Kirchneristen nie. Er gehört nicht zu ihnen, er war politisch schon überall, weil er wie jeder gute Peronist anpassungsfähig ist. »Es lo que hay«, sagten sie aber bislang. Frei übersetzt: Das ist nun mal der, der da ist, was willste machen.

Mauricio Macri am Wahlabend im sogenannten búnker seiner Allianz Cambiemos

> Mauricio Macri am Wahlabend im Centro Costa Salguero

Sicherheitshalber hat Cristina Kirchner ihr Erbe in den vergangenen Monaten wetterfest gemacht. Ihrem Nachfolger wird es fast unmöglich sein, die vom Kirchnerismus verstaatlichten Unternehmen wie YPF und Aerolíneas Argentinas abermals zu privatisieren; im Nationalparlament werden viele Vertraute sitzen, und eine Mehrheit hätte Macri dort ohnehin nicht. Man könnte also vielleicht auch ihn vier Jahre werkeln lassen. Kirchner darf ja 2019 wieder antreten.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass es so kommt. Ausgeschlossen aber auch nicht.

Bis zur Stichwahl am 22. November sind es noch 23 Tage. Es sieht nicht danach aus, dass  die Präsidentin bis dahin zum Wohle Sciolis öfter den Mund hält und sich zurücknimmt. Sie soll ja – es ist nur ein Gerücht – bereits einen Unterhändler losgeschickt haben, der Sergio Massa eine Einladung zum Kaffeetrinken überbrachte. Der Peronist mit den fünf Millionen Wählerstimmen hat angeblich angenommen und auch gleich einen Termin vorgeschlagen: den 11. Dezember. Den ersten Tag nach Kirchners Abschied von der Macht.

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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

 

Die Komödie vom kleinen Pipi eines Hurensohns und den großen Sorgen des Neunjährigen

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, Argentinien, früher Nachmittag. Ein Vater und sein neunjähriger Sohn auf dem Heimweg vom Fußballtraining

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ERSTE SZENE

SOHN. Ich habe heute zwei golazos1 geschossen, Papa.

VATER. Echt? Toll! Du hast natürlich auch einen brillanten Trainer.

SOHN. Ja, der ist ganz gut.

VATER. Ich meinte mich, wir üben ja fast jeden Sonntag im Park.

SOHN. Ach so. Ja.

Fußball im park

VATER. Ich bin trotzdem sehr stolz auf dich.

SOHN. Ohne mich hätte meine Mannschaft heute verloren.

VATER. Sag so was nicht.

SOHN. Doch, das stimmt. Die anderen haben vierdrei geführt, und dann habe ich kurz vor Schluss zweimal getroffen.

VATER. Aber so denkt nur ein hijo de re re re re contra mil puta2, wie dieser Cristiano Ronaldo.

SOHN. Weil der einen kleinen Pipi hat.

VATER. Das kannst du gar nicht wissen.

SOHN. Das hast du mir aber mal erzählt.

VATER. (überlegt) Der ist wirklich winzig.

Trikot des 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner (Fan von Racing Club), das dieser gern beim Kicken trug; Ausstellungsstück im Museum del Bicentenario

> 100 Prozent Kirchnerist: das Trikot des 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten und Racing-Fans Néstor Kirchner, das dieser gern beim Kicken mit seinen Freunden trug (ausgestellt im Museo del Bicentenario)

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ZWEITE SZENE

SOHN. (geht an einer Baustelle vorbei) Warum wird denn gerade so viel gebaut in Buenos Aires?

VATER. Keine Ahnung. Vielleicht wegen der Präsidentschaftswahl. Cristina Kirchner will, dass alles hübsch aussieht.

SOHN. Dauert es noch lange bis zur Wahl?

VATER. 38 Tage. Am 25. Oktober wird gewählt.

SOHN. Will Cristina wieder Präsidentin werden?

VATER. Sie darf nicht.

SOHN. Nein?

VATER. Nein, die argentinische Verfassung erlaubt nur zwei Amtszeiten am Stück.

SOHN. Mmmhh.

VATER. Also acht Jahre.

SOHN. (sorgenvoll) Und der neue Präsident, Papi, macht der dann alles kaputt, was Cristina gebaut hat?

VORHANG

  1. Traumtore []
  2. in etwa: verdammter, verfluchter Scheißdreckmisthurensohn []

Ein Chinese mit Handschellen für den Auserkorenen: Der teufliche Plan der argentinischen Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober ist Argentinien seit Sonntag, 0 Uhr, schlauer. Punkt Mitternacht war vorerst Schluss mit Gerüchten und Geschäften: Parteien und Bündnisse präsentierten ihre Kandidaten, und das Land weiß nun, wer Präsident werden will. Es riecht nach einem Duell zwischen dem Peronisten Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, und dem nichtperonistischen Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri. Die beiden sind alte Freunde, obwohl sie politisch weit auseinander liegen: Scioli verspricht Kontinuität, Macri einen Wandel. Die große Überraschung ist jedoch die Noch-Präsidentin: Cristina Kirchner bewirbt sich um kein neues Amt. Zieht sie sich nach 26 Jahren wirklich aus der Politik zurück?

Das Argentinische Tagebuch beschäftigt sich in zwei Teilen mit dem Wahlkampf, stellt die wichtigsten Kandidaten vor und erklärt die Strategien. Der erste Teil widmet sich der Regierung.

Cristina Kirchner im Hubschrauber der Präsidentin mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli

> Cristina Kirchner mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli am Tag der Fahne, der am 20. Juni in Rosario gefeiert wurde. Scioli durfte zum ersten Mal mit dem Hubschrauber der Präsidentin fliegen. Foto: Casa Rosada

Was hat die Staatschefin beim Chinesen bestellt? Carlos Zannini, Spitzname El Chino, ist Cristina Kirchners Strippenzieher und einer ihrer engsten Vertrauten. Viele umstrittene Projekte der linkspopulistischen Regierung, etwa das Mediengesetz, sind sein Werk. Nun soll Zannini Vizepräsident werden.

Der 60-Jährige, früher Maoist, dann verfolgt und verhaftet während der Militärdiktatur, ist im Windschatten der Familie Kirchner an die Macht gelangt. Unter dem neuen Bürgermeister von Río Gallegos, Néstor Kirchner, wurde er 1987 Sekretär der Stadtregierung. Als Kirchner vier Jahre später die Gouverneurswahlen in der Provinz Santa Cruz gewann, machte er Zannini zum Minister. Der drehte noch eine Runde durchs Parlament und wurde 1999 zum Chef des Obersten Gerichtshof ernannt. Weitere vier Jahre später ging es gemeinsam in die Hauptstadt. Kirchner wurde Präsident − und Zannini, was er bis heute ist: un peso pesado, ein Schwergewicht der hiesigen Politik; sein offizieller Titel: Sekretär für Legalisierung und Technik.

El Chino gehört zu den wenigen Technokraten, die nach Néstor Kirchners Tod 2010 politisch überlebt haben. Cristina Kirchner, die berühmteste Witwe am Río de la Plata, seit fast acht Jahren Präsidentin, hat viele Posten neu besetzt, aber Zannini weiter vertraut. Nun endet ihre gemeinsame Zeit. Am 10. Dezember muss die Präsidentin die Casa Rosada räumen. Schickt sie deshalb einen Aufpasser? Hat sie also beim Chinesen Handschellen für ihren potenziellen Nachfolger bestellt?

Daniel Scioli in Handschellen – dieses Bild wird augenblicklich gern gezeichnet in Argentinien. Es ist bloß eine Vermutung, aber eine naheliegende, schließlich hat die Präsidentin Scioli (58) auserkoren. Nichts ist ihr wichtiger als der Fortbestand ihrer Politik, ein Weiter-so ohne Abstriche, das hat sie oft genug gesagt. Warum sollte Kirchner jemandem das Erbe anbieten, der es nicht pfleglich behandelt? Der Realität entrückt mag sie bisweilen wirken, naiv aber ist sie keineswegs. Scioli in der Regierung, sie selbst weiter an der Macht − das wäre ein geradezu teuflicher Plan.

Der Peronist Scioli regiert seit 2007 Buenos Aires, nicht die Hauptstadt, sondern die viel wichtigere Provinz. Sie ist flächenmäßig so groß wie Deutschland und der Ort, an dem sich vieles entscheidet: 40 Prozent aller Wahlberechtigten leben hier. Scioli hat die Gouverneurswahlen zweimal gewonnen, er ist der mächtigste Provinzfürst des Peronismus. Aber viele Kirchneristen mögen ihn nicht. Obwohl er von 2003 bis 2007 Néstor Kirchner als Vize gedient hat, gilt er nicht als Mann der Bewegung. Man weiß nicht, ob Scioli das Projekt – wie der Kirchnerismus seine zwölf Jahre an der Macht nennt – fortführen, ja vorantreiben wird. Öffentlich hat der einstige Motorbootrennfahrer Cristina Kirchner stets die Treue geschworen; im kleinen Kreis aber soll er ausgiebig über sie lästern.

Trotzdem darf er für den Kirchnerismus antreten; er ist sogar sein einziger Kandidat. Lange hatte es nach einem Zweikampf ausgesehen, über dessen Ausgang die Vorwahlen am 9. August entscheiden würden. Transportminister Florencio Randazzo (51), der treue Kirchnerist und Liebling der Basis, ging offenbar fest davon aus, dass die Präsidentin ihn auswählen werde. Doch dann verkündete Scioli am Dienstag voriger Woche in einem Fernsehinterview, dass Carlos Zannini als sein Vize mit ihm den Wahlkampf ziehe. Er hatte nicht weniger als eine Bombe gezündet.

Randazzo soll vollkommen überrascht gewesen sein, ja erschüttert. Ausgerechnet Zannini! Der Mann, der ihn, Randazzo, die ganze Zeit unterstützt hatte! Der alles ausgeheckt hatte! Ihr Plan sah vor: Der Transportminister verbessert die rostige Infrastruktur, er stellt jede Woche neue Züge auf frische Gleise, sticht so Scioli aus, beerbt Kirchner und garantiert Kontinuität. Und ausgerechnet Zannini, der Hexenmeister, wechselt kurz vor Schluss zu Scioli, über den Randazzo monatelang gelästert hatte. Hach, und die Präsidentin, jene Frau, die Randazzo nahezu abgöttisch verehrt, gibt dem Gespann obendrein ihre Segen. Womöglich war es sogar ihre Idee, und Scioli durfte nur noch akzeptieren. (Die Meinungen gehen diesbezüglich auseinander. Scioli reklamiert für sich, Zannini selbst ausgewählt zu haben.)

Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge

> Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge Foto: Ministerio del Interior y Transporte

Und Randazzo? Der hatte sich vor langer Zeit festlegt: Alles oder nichts, entweder schafft er es in die Casa Rosada – oder er geht nach Hause. Er hielt Wort. Das Angebot der Präsidentin, das Gouverneursamt der Provinz Buenos Aires anzustreben, als alleiniger Kandidat der Regierung, lehnte er. Ein fast ungeheuerlicher Vorgang – denn ein Kirchnerist gehorcht der Anführerin eigentlich. Randazzo wird nun offenbar wie ein Aussätziger behandelt. Sein Stab klagte am Ende der Woche: »Wir sind einsamer als Boudou am Tag des Freundes.«1 (Amado Boudou ist der nach unzähligen Affären und Ausrutschern demolierte Vizepräsident, zu dem selbst Parteifreunde größtmöglichen Sicherheitsabstand halten.)

Randazzo twitterte daraufhin Treueschwüre:

»Dass sich keiner irrt. Ich unterstütze alle Entscheidungen, die die Präsidentin trifft. Sie führt das Projekt, dem ich angehöre und dessen Teil ich weiter sein werde.«

»An die Journalisten, die eine böse Absicht verfolgen: Ich habe nie gesagt, dass mir die Präsidentin verboten hat, bei den Vorwahlen anzutreten.«

»Aber gegen Carlos Zannini anzutreten, bedeutet, gegen die Präsidentin anzutreten.«

»Ich wiederhole, ich werde nie etwas tun, das der Präsidentin schadet.«

Dass Cristina Kirchner nicht selbst antritt, ist eine mittelgroße Sensation. Sie hätte sich ja ein Amt quasi aussuchen können: Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, Senatorin oder Abgeordnete eines Parlaments (Argentinien oder Mercosur). Es schien unvorstellbar, dass sie verzichtet, zumal sie sich wieder erholt hat. Ihre Beliebtheitswerte sind  gestiegen, sie wurde von Bürgermeistern, Gouverneuren und Abgeordneten regelrecht angefleht, im Spiel zu bleiben und der Kampagne Schub zu verleihen. Nun tritt sie ab.

Warum? Sie hatte in den vergangenen Jahren kleinere und größere gesundheitliche Probleme. Nach einer Kopf-Operation war sie Ende 2013 sogar für sechs Wochen ganz abgetaucht. In jüngster Zeit allerdings wirkte sie indes stabil, gut gelaunt, mitunter sogar aufgekratzt und tatendurstig. In der vergangenen Woche hat sie per Erlass das Kindergeld um 30 Prozent2 erhöht – und dieses Geschenk, wie es sich gehört für diese Präsidentin, dem Volk per Fernsehansprache verkündet. Es war ihre 24. Cadena Nacional in diesem Jahr; das Recht des Staatsoberhauptes, sich in Ausnahmefällen auf die staatlichen Sender schalten zu lassen, nutzt Kirchner fleißiger als ihre Vorgänger: im Schnitt alle sieben Tage.

Möglicherweise wäre ein Verbleib an der Macht oder in deren Nähe auch zu viel Ballast für den Kandidaten Scioli gewesen. Der hat sich ja schon ordentlich verbiegen müssen. Für Aufsehen und Heiterkeit sorgte sein Wahlkampfspot, in dem er die erste Zeile eines kirchneristischen Schlagers wieder und wieder zitierte: »Yo vengo bancando este proyecto nacional y popular.« Er unterstütze dieses kirchneristische Projekt seit dem ersten Tag, sagte er – erst als Vizepräsident, dann als Gouverneur. Nun bitte er, dass »du mich unterstützt«.

Für einen Sieg braucht Scioli die Stimmen der kirchneristischen Stammwähler (etwa 30 Prozent), aber auch die jener Peronisten, die auf einen leichten Wandel hoffen. Es ist ein riskantes Spiel. Schon länger skizzieren Sciolisten, die Anhänger des Gouverneurs, dessen Weg in die Casa Rosada: Danach bleibe Scioli bis zu den Vorwahlen am 9. August Ultrakirchnerist, löse sich bis zur Wahl am 25. Oktober allmählich und regiere am Ende, ohne Rücksicht zu nehmen auf die alten Freunde, die ihm die Macht besorgt haben. Anders gesagt: erst esclavitud (Sklaventum), dann liberación (Befreiung), schließlich independencia (Unabhängigkeit).

Scioli

> Ich werde der Präsident sein mit Glaube, Hoffnung, Optimismus, Sport, Tourismus, Freunde – und mit mehr Unabhängigkeit denn je.

Diese Strategie hat freilich Schwachpunkte. Nach bewährter Tradition war das Anfertigen sämtlicher Kandidatenlisten der Bewegung das Vorrecht der Präsidentin; von lapicera y guadaña spricht man in Argentinien, dem Kugelschreiber und der Sense, zu denen Kirchner greife, um dafür zu sorgen, dass ungeeignete, also unzuverlässige Parteifreunde auf der Strecke bleiben. Die Parlamente und Rathäuser überall im Land werden nach den Wahlen voller Cristinistas sein, ultratreuer Anhänger der Staatschefin a. D. La Cámpora, die Nachwuchstruppe der Bewegung, gegründet und angeführt vom Präsidentensohn Máximo Kirchner (38), hat bei der Aufstellung der Kandidaten ordentlich abgesahnt. Máximo Kirchner bewirbt sich zum ersten Mal um ein öffentliches Amt, er steht auf Platz eins der Liste in der Provinz Santa Cruz für das Nationalparlament.

Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin

> Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin Foto: Casa Rosada

Und dann ist da ja noch der Vizepräsidentschaftskandidat Carlos Zannini, der Chinese mit den Handschellen für Daniel Scioli. Ein kircheristischer Aufpasser für den wankelmütigen Peronisten. Ein Garant der Kontinuität. »Die Peronisten glauben, dass sie den Kirchnerismus überleben können«, schreibt die Journalistin Silvia Mercado, »Cristina und Zannini aber wollen, dass niemand übererlebt, wenn sie selbst nicht mehr da sind, und sie verdrängen Peronisten so weit wie möglich, um jene einzusetzen, die loyal zum Projekt sind.«

Vielleicht kann sich Cristina Kirchner einfach leisten, in Rente zu gehen – weil sie genau weiß: Auch so geschieht nichts gegen ihren Willen. Außerdem könnte sie wiederkommen, wenn es mit dem neuen Präsidenten – ganz gleich, wie der heißt – nicht klappt.

  • Sonntag, 9. August: Vorwahlen (Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias, PASO)
  • Sonntag, 25. Oktober: Präsidentschaftswahlen
  • Sonntag, 22. November: wenn nötig Stichwahl (balotaje)
  • Donnerstag, 10. Dezember: Vereidigung des neuen Präsidenten
  1. 20. Juli, el Día del Amigo in Argentinien []
  2. 837 Pesos statt 644 []

Piranhas am Straßenrand, mein tapferer Zeh und ein schwerhöriger Priester: Die Wallfahrt nach Luján

von CHRISTOPH WESEMANN

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Wallfahrt 20

Route: Liniers > Morón (8,467 km) – Morón > Merlo (10,024 km) – Merlo > La Reja (9,695 km) – La Reja > Las Malvinas (9,007 km) – Las Malvinas > General Rodríguez (3,054 km) – General Rodríguez > Basílica de Luján (16,163 km)

♦♦♦♦♦

 

10.30 Uhr – Stadtteil Liniers (Buenos Aires).

Erste Schritte. Mit meinen Marathonlaufschuhen, mit denen ich selbstverständlich noch nie Marathon gelaufen bin, läuft es sich wie auf Federn. Vielleicht pilgere ich heute nicht nur die 60 Kilometer vom Bahnhof Liniers nach Luján (sprich: Lu-chahn), sondern morgen auch gleich noch zurück.

11 Uhr.

Kern des Pilgerns ist: Bescheidenheit. Demut.

Geh nicht zu schnell! Lass sie rennen! Halt deine Schrittfrequenz! Raste sparsam!

11.30 Uhr – Haedo

Erster Stopp. Unplanmäßig. Schmerzen. Ich ziehe den Schuh aus und versuche, den Fuß aus der Marathonläufersocke zu bekommen, ohne dass der kleine Zeh, den ich mir vor zwei Wochen gebrochen habe, etwas davon merkt.

Wo sind wir überhaupt? Ah, Haedo, 41 509 Einwohner. Die Vororte von Buenos Aires sehen ja alle gleich aus. Hoch über dem Bürgersteig hängen die − in der Hauptstadt verbotenen − Werbetafeln der Taxizentralen, Anwälte, Banken, Matratzenmacher und Schlüpferverkäufer, und irgendwann kommt eine Plaza, die aussieht wie die davor und die danach: ein Befreier auf dem Pferd, Brunnen, Palmen, ringsherum Rathaus, Kirche, Gericht, Museum, Café, Kiosk, Café, Kiosk, Café.

Ich hole die Pflaster hervor und klebe wild an Zehen und Hacken herum. Ein Mann beugt sich herunter und fragt, ob ich Creme wolle, er habe welche dabei. »Anaflex« heißt sie. Danke.

»Falta mucho?«, frage ich Cristian. Frei übersetzt: Ist es noch weit? Nein, die Frage kommt nicht zu früh. Im vorigen Jahr hatte ich schon nach 300 Metern das erste Mal gefragt.

»Falta muy poco.«

Wir sind also fast da.

Cristian fragt, ob ich eine der grünen Tabletten schlucken wolle. Nein, Doping lehne ich ab.

12 Uhr.

»Anaflex« ist sensationell. Die Schmerzen sind weg. Könnte aber auch an »Actron 600« liegen, den grünen Pillen, von denen ich dann doch eine … ist ja nur Ibuprofen. Also kein Doping.

12.15 Uhr.

Es ist übrigens die 40. Wallfahrt der Jugend nach Luján. Und meine zweite.

Mit Cristian am 5. Oktober 2013 vor der Basilika von Luján

Mit Cristian am Morgen des 6. Oktober 2013 vor der Basilika

12.45 Uhr.

In der Apotheke gibt es keine Salbe von »Anaflex«. Nur »Diclofenac«. Soll aber genauso wirken. Probiere ich gleich aus. Neue Pflaster von »Band-Aid« haben wir auch. »Diclofenac«. »Actron 600«. »Band-Aid«. Ich fühle mich, als hätte ich die argentinische Ausgabe der »Apotheken-Umschau« gefrühstückt.

13 Uhr.

An der Straße werden Regencapes verkauft, weil Regen angekündigt ist. Man staunt ja immer wieder, wie flink argentinische Straßenhändler ihren Warenbestand umstellen können. Schiene wie im vorigen Jahr die Sonne, würden sie jetzt Sonnencreme verkaufen. Und Sonnenbrillen. Und Sonnenschirme. Und Handventilatoren. Und die passenden Batterien. Halbleer allerdings.

Wir kaufen natürlich keine Regencapes. Es regnet ja nicht. Sonnenmilch und alles andere würden wir auch nicht kaufen. Gegen die Sonne, die nicht da ist, trage ich meinen Hut vom Fußballverein Quilmes Atlético Club. Vor einem Jahr hatte ich schon am frühen Nachmittag ein knallrotes Gesicht. Weil wir keine Sonnenmilch gekauft hatten.

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

13.20 Uhr.

Cristian, mein argentinischer Freund, dessen Eltern aus Bolivien stammen, pilgert schon zum siebten Mal. Ich hatte ihm irgendwann erzählt, dass ich mit dem Auto nach Luján gefahren sei. Was für eine Riesenstrapaze das war! Üble Straße, unlesbare Wegweiser und so weiter. Ich erfuhr, dass Hunderttausende offenbar vollkommen Verrückte am ersten Sonnabend im Oktober zu Fuß nach Luján gehen. »Ich bin einer von ihnen«, hatte Cristian gesagt. »Willst du mitkommen?«

Pilger 1

Als wir dann am 5. Oktober 2013 unterwegs waren, zwei von zwei Millionen, erzählte er von der Tradition: Die Gläubigen pilgern zur Basilika und tragen der Jungfrau ihre Sorgen vor. Zeigt sich im Laufe des Jahres dann, dass sich die Jungfrau der Probleme angenommen hat, muss man die nächsten drei Jahre wieder zu ihr pilgern. Aus Dankbarkeit. Von mir hat sie nichts erfahren. Ich wollte in dieser Nacht nichts riskieren.

13.30 Uhr.

Cristians alter Schulfreund Nedy begleitet uns, auch er hat bolivianische Wurzeln. Ach, wie beneide ich ihn: Er weiß noch gar nicht, was ihm bevorsteht, es ist sein erstes Mal. Mein Hausmeister hat heute Morgen, als er mich davongehen sah, übrigens geschworen, es seien mehr als 60 Kilometer von Liniers nach Luján. Eher 70. Sein Kollege nebenan sagte: 80. Die beiden sind die Strecke vor vielen Jahren angeblich mal mit Fahrrädern abgefahren. Nedy wird aber auch zum ersten Mal die Frauen sehen, die vor dem Altar weinen und dabei Fotos ihrer Kinder und Enkel hochhalten.

Chrorípankauf (2013)

Chrorípankauf (2013)

Mittagessen. Wir holen uns Chorípan, eine grobe Wurst vom Grill im Baguette, und essen sie auf dem Bordstein sitzend. Köstlich. Ich könnte jetzt ein Bier nicht vertragen; würde dank der grünen Pille herrlich rumsen. Aber Alkohol darf ja heute nicht verkauft werden. (Und wird trotzdem heimlich verkauft.)

Wir sind in Morón angekommen, 122 642 Einwohner, Heimat eines Drittligisten mit dem Spitznamen »El Gallo«, der Hahn. Ich habe die Mannschaft mal an einem Winterabend gegen Platense gesehen, den »Tintenfisch«. Mieses Spiel.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Wallfahrt nach Luján (2013)

Wallfahrt nach Luján (2013)

14.30 Uhr.Wallfahrt 18

Gleich beim ersten Souvenirstand halte ich an. Diese weiß-himmelblauen Bändchen mit dem Bild der Jungfrau und der Aufschrift »Protegé mi …« gefallen mir. Eins kostet umgerechnet 70 Cent.

»Was soll beschützt werden, chico?«, fragt der Händler. »Ich habe, warte, lass mich gucken: Beschütz meine Familie, Beschütz mein Auto oder Beschütz mein Moped

»Mein Auto.«

»Macht zehn Pesos.«

»Dein Auto? Du bist ein solcher Schwachkopf!«, sagt Cristian.

»Ähm Señor, meine Familie natürlich. Aber das Auto-Bändchen kaufe ich auch.«

15 Uhr.

»Wie willst du eigentlich mit diesem Zeh und dieser Frisur nach Luján kommen?«, hatte die Frau gestern gefragt. Eine Frechheit. Mein Zeh ist so tapfer.

15.05 Uhr.

Ich habe mich gerade in einem Schaufenster gespiegelt. Meine Frisur, das räume ich ein, ist gewagt. Carlos kann halt nur kurz, vorne jedenfalls. Er schneidet seit 40 Jahren Haare. (Die Frau meint: wie vor 40 Jahren.) Den Friseursalon bei uns im Viertel hat er im Winter 1974 aufgemacht. Er fragt mich immer nach Franz Beckenbauer und Karl-Heinz Rummenigge. Und zum Abschied zeigt er mir das Schwarzweißfoto von seiner Hochzeitsreise nach Dortmund. Ja, Dortmund. Die Ehe hat trotzdem gehalten.

Wallfahrt 2

Wallfahrt 1

Wallfahrt 3

16 Uhr − Castelar.

In Castelar denke ich an Alejandro, Fernando, Mauricio und Daniel, wobei Alejandro, genannt »der Affe«, schon tot ist. Sie sind die Helden aus dem großartigen Buch »Vier Jungs auf einem Foto« des Schriftstellers Eduardo Sacheri und stammen wie er aus Castelar.

Als Alejandro »Mono« stirbt, hinterlässt er nicht nur eine schmerzliche Lücke im Leben von Fernando, Mauricio und Daniel, sondern auch ein Riesenproblem: Das Erbe seiner kleinen Tochter droht sich in nichts aufzulösen. Monos gesamtes Vermögen steckt in einem jungen Fußballspieler, der einst eine glorreiche Karriere vor sich hatte, mittlerweile aber in einem drittklassigen Club kickt. In ein paar Monaten ist er keinen Peso mehr wert. Den Freunden bleibt nur eine Chance: Sie müssen den Spieler verkaufen, und zwar schnell. Doch wie sollen sie, die keine Ahnung vom Fußballgeschäft haben, einen Stürmer an den Mann bringen, der keine Tore schießt? Der Kampf um Monos Erbe wird zur Herausforderung ihres Lebens – und zur Zerreißprobe ihrer Freundschaft.

Inhaltsangabe des Verlags

Wir kaufen uns an einem Stand Bondiola, also fettiges Nackensteak vom Schwein im Baguette. Hat noch nirgends besser geschmeckt als in Castelar.

Wallfahrt 5

18 Uhr.

Wir haben vorhin mit vollem Bondiolamund ausgemacht, mindestens zwei Stunden ohne Pause zu gehen. Das machen wir. Wir halten weder in Ituzaingó noch in Merlo oder Moreno. Ich glaube, in Moreno hatten wir im vorigen Jahr unsere Rucksäcke öffnen müssen. Alkoholkontrolle der Polizei. Diesmal wird nicht kontrolliert.

18.30 Uhr.

Wir befinden uns auf dem unangenehmen, weil sehr langweiligen Teil des Pilgerwegs. Es geht nur noch geradeaus, immer den Gleisen entlang. Die nächste Sehenswürdigkeit: die Ampel, dort ganz hinten, also ganz vorn am Horizont. Vier Kilometer. Alles ist jetzt Luftlinie.

Wallfahrt nach Luján

18.50 Uhr.

Regen! Blitze! Donner! Die vor Stunden gekauften Umhänge kommen zum Einsatz. Bei den anderen. Und Regenschirme, die größtenteils Gerippe sind. Weil ich keinen eingepackt habe, reicht mir Cristian eine dunkelgraue Mülltüte. Die Löcher für Kopf und Arme hat er schon herausgeschnitten. Ein Pilgerprofi.

19 Uhr.

Guck mal, Diego geht direkt hinter uns. Ich habe ja an der Universidad Kennedy »Politische Kommunikation« belegt oder »Politische Strategie« oder »Strategische Politik« oder »Kommunikative Politik«. Und Diego leitet den Kurs: jeden zweiten Freitag im Monat von 9 bis 21 Uhr, Zertifikat im Oktober 2015. Ja, nur einmal im Monat. Aber das Erholen von zwölf Stunden Spanisch dauert bei mir auch zwei Wochen.

Diego hat noch gearbeitet und ist deshalb von Merlo losmarschiert. Pfffffff, fast die Hälfte ausgelassen. ¡No vale! Zählt nicht!

19.30 Uhr.

Die Shell-Tankstelle. Auf die warte ich schon seit Stunden. Noch 300 Meter, dann kommt rechts »La Quinta«, das Landhaus. Großer Garten. Großer Pool. Ein Geheimtipp. Die Besitzer grillen jedes Jahr Hamburger und Würste. Essen und Trinken sind kostenlos. Viele Pilger, die wenig Geld haben, stärken sich hier. Man kann sich sogar im Haus eine Weile aufs Bett legen. Aber das ist jetzt voller Mädchen.

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Wir treffen Padre Adolfo, einen der vielen Priester, die mit der Masse pilgern. Viele von ihnen arbeiten und leben in Villas Miserias, den Elendsvierteln. Ihnen braucht man nichts übers Leben zu erzählen. Sie wissen alles. Sie kennen die Jungs, die Drogen verkaufen, und die, die an ihnen hängen. Oft sind’s ja dieselben. Wenn man verstehen will, warum die Katholiken in Südamerika mit Papst Benedikt XVI. nie ganz warm geworden sind – das ist die Erklärung. Er wirkte auf die Leute hier intellektuell und kühl, den Alltagssorgen entrückt. Der Priester ist für Katholiken auf dem Kontinent zuallererst ein Seelsorger, und die Kirche ein Zufluchtsort, wo es warmes Essen gibt und das Kind Nachhilfe bekommt oder ein Buch lesen kann. Der Unterricht fällt in den Armenvierteln ja regelmäßig aus − wenn es stark regnet zum Beispiel. Dann wollen oder können die Lehrer nicht kommen.

Benedikts Nachfolger hat Heldenstatus. Papst Franziskus‘ Ansehen liegt meilenweit vor allen anderen, ähm, Autoritäten im Land. In einer aktuellen Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts haben 88,6 Prozent der Befragten ein positives Bild vom Papa argentino. Zum Vergleich: Präsidentin Cristina Kirchner schafft gerade 27,7 Prozent; Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri, der im Oktober 2015 ihr Nachfolger werden will, kommt auf 42,2 Prozent.

Wallfahrt nach Luján (2013)

Die Zeitschrift »Noticias« hat übrigens jüngst berichtet, der Papst sei sehr sauer auf all die Regierungsleute, die ihn jetzt besuchen. Als er noch Jorge Mario Bergoglio hieß und Erzbischof von Buenos Aires war, haben sie ihn nämlich beschimpft, ja gehasst, weil er eine ihrer lautesten Kritiker war. Franziskus wundert sich auch, dass er einige seiner Landsleute bei der Generalaudienz treffe und hinterher höre, er habe ihnen ein privates Gespräch gewährt. »Wird das eine deformación argentina werden?«, fragt er. Der Text endet mit einem Zitat, das wohl nur ein argentinischer Papst bringen kann: »Sie halten mich für eine französische Prostituierte.«

»Padre Adolfo, wie geht’s?« Kuss auf die Wange. Im vorigen Jahr hatte er mir als einziger die Wahrheit gesagt: dass es noch sehr weit sei nach Luján. Als er das hört, lacht er. »Und ist es noch weit?«, frage ich. »Aber sag mir bloß nicht die Wahrheit!«

»Es ist nicht mehr weit. Das ist die Wahrheit.«

21.30 Uhr.

Ich brauche einen Wanderstock. Dringend.

21.35 Uhr.

Es werden Besenstiele verkauft.

Wallfahrt nach Luján (2014)

21.40 Uhr.

Ich kaufe doch keinen Besenstiel.

21.45 Uhr.

BESENSTIEL!

22 Uhr.

Plötzlich steht ein Mann neben mir, deutet auf meinen Hut und krempelt dann seine Hose ein Stück hoch, um sein Tattoo vom Quilmes Atlético Club zu zeigen. Fette Umarmung. Dos Cerveceros. Zwei Bierbrauer. So nennen wir uns, weil aus Quilmes Argentiniens bekanntestes Bier kommt. Er ruft gleich seine Freunde herbei: »Hey, wir haben sogar Fans in Deutschland.«

Wallfahrt 9

22.15 Uhr – General Rodríguez.

Das letzte Drecksnest vor Luján. Noch 16 Kilometer. Vor einem Jahr lagen Pilger links und rechts der Straße im Gras. Viele schliefen. Jetzt ist alles aufgeweicht vom Regen. Dafür werden wir, auf den letzten Metern sozusagen, gut versorgt. Helfer reichen Wasser, Kekse, Kakao und Mate cocido, also Teebeutel-Mate, der nur halb so gut schmeckt wie der echte. Die Versorgung ist überhaupt sehr gut. Es gibt auf der ganzen Strecke 57 medizinische Stützpunkte; ob Massage oder Blasenaufstechen: Die Hilfe ist kostenlos.

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

Am 5. Oktober 2013 wurde mir in General Rodríguez mein Quilmes-Hut geklaut. Okay, in Wahrheit habe ich ihn verschenkt, an einen Würstchengriller, der behauptete, aus Quilmes zu sein. Aber der angebliche Diebstahl ist mir weniger peinlich.

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

»He, du hast ja deinen Hut noch auf«, sagt Cristian, als wir die Stadt verlassen haben.

23 Uhr.

Noch zwei Stunden. Schätze ich. Niemandsland. Nur noch wenige Stände. Am Straßenstrand stehen Autos mit einer Pappe an der Frontscheibe: »Remís 50 Peso«. Die Besitzer würden einen also für umgerechnet drei Euro (Schwarzmarktkurs) zur Jungfrau bringen.

So kurz vorm Ziel.

Das ist gemein.

Und ungemein verlockend.

»Piranhas!«, sagt Cristian. »Nicht hingucken!«

23.45 Uhr.

Dort hinten bei den Lichtern ist die Brücke, die vorletzte. Ich kann sie nicht sehen, aber ich glaube Cristian jetzt alles. Von dort sind es nur noch acht Kilometer nach Luján. 90 Prozent haben wir geschafft. Sagt Cristian. Er hält das offenbar für eine motivierende Nachricht.

Zwanzig Minuten später, unter der Brücke, sticht er mir mit seinem Haustürschlüssel eine kirschgroße Blase auf. Sollten wir noch mit den Priestern sprechen, die dort aufgereiht sind? Schnelle Beichte? Ach nee, habe ich im vorigen Jahr gemacht, und es war nicht so ergiebig. Der Priester fragte, woher ich käme, und überlegte dann, welche deutschen Wörter er kenne. Und? Tja, »und«.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Unter der vorletzten Brücke: noch acht Kilometer bis nach Luján (2014)

Cristian kann »Guten Tag« sagen, »Arsch« und seit General Rodríguez »Ich heiße Cristian«.

Nedy und ich cremen noch mal die Füße mit »Diclofenac« ein. Ich nehme meine dritte grüne Pille.

»Ist für dich die letzte heute, mein Freund«, sagt Cristian.

Sonntag, 0.15 Uhr.

Bei jedem Motorrad, das vorbeifährt, bei jedem Auto, das hupt, damit wir den Weg freimachen, selbst bei dem Jungen auf dem Fahrrad rufen wir: »¡Trampa!« Das bedeutet: Mogelei! Ein Baby im Kinderwagen ist auch trampa.

Nur auf eigenen Füßen zählt.

0.30 Uhr.

Ein Rollstuhl überholt uns. Trampa! Ja, auch unser Humor kriegt langsam Blasen.

0.40 Uhr.

Cristian erzählt, es gebe auch eine viertägige Wallfahrt, die von Buenos Aires nach San Nicolás de los Arroyos führe und 240 Kilometer lang sei. Könnten wir ja im nächsten Jahr machen.

Mal sehen.

0.55 Uhr.

Wir reden kaum noch. Es ist alles gesagt. Wir sind gleich da. Gewiss.

Jeder Schritt tut weh. Ich kann die Schmerzen nicht mehr orten. Es brennt unten und oben, vom großen Zeh bis zur Hüfte.

Ringsum allgemeines Humpeln. Mit krummem Rücken. Vornübergebeugt. So geh’n die Gauchos.

1 Uhr – Luján.

Luján! Luján! Luján! Luuuuuujaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan. Also: der Ortseingang. »Brauchst du wieder eine Massage?«, fragt Cristian.

»Weiter!«

1.02 Uhr.

Kurze Pause. Mehr »Diclofenac«. Warum bloß habe ich mich diesmal nicht massieren lassen?

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

1.04 Uhr.

»No falta nada«, sagt Cristian. Es fehlt nun wirklich nichts mehr, wir sind im Grunde angekommen. Zum wievielten Male eigentlich? Ein Wagen mit Lautsprecher überholt uns. »Menos que 40 cuadras«, spricht ein Junge ins Mikrofon. »Weniger als 40 Blocks.«

Ein Häuserblock, das sind in Argentinien, wo die Städte von oben wie Schachbretter aussehen, 110 Meter. Noch 4,4 Kilometer? Viertausendvierhundert Meter? La puta que me parió.1 Dreizehntausendzweihundert Schritte. Dreizehntausendzweihundertmal dieses Gefühl, dass der Fuß auf Glut geht. Nedy, der dritte Mann, hat’s auch gehört und guckt noch niedergeschlagener als ich.

»Er hat gesagt: weniger als 40!«, sagt Cristian. »¡Vamos muchachos, no falta nada!«

1.47 Uhr.

Wir sind da. Vor der Basilika steht ein Priester mit Mikrofon, begrüßt die Pilger und fragt, woher sie kämen.

»Chaco

»Herzlich willkommen.«

»Formosa

»Willkommen. Alles gut?«

»Córdoba.«

»Ihr habt’s geschafft!«

»Alemania.«

»Woher?«

»Alemania!«

»Ich verstehe nicht. Komm mal näher.«

»Aaaaa-leeee-maaaaa-niiiiiii-aaaaaa!«

Schweigen.

Wallfahrt 12

Wallfahrt 11

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

 

  1. »Die Hure, die mich geboren hat.« Argentinischer Fluch []

Der Herausgeber, der Karrierist und das Zeugnis

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten.

♦♦♦♦♦

CW. Es kann doch nicht sein, dass in diesem Land sechs Klopapierrollen (einlagig!) umgerechnet fünf Euro kosten.

MC. Das nennt man Inflation, der Herr, und davon haben wir doch 40 Prozent. Es kann aber auch nicht sein, dass jede fünfte Rolle (doppellagig) so scheiße konfiguriert ist, dass sie nicht richtig abrollt.

CW. Wir sollten auf das Regierungsblatt Página/12 umsteigen. Ist erstens ein politisches Statement und zweitens billiger.

MC. Und drittens: sanfter.

CW. Mein Laptop macht mir auch gerade Sorgen. Der Akku funktioniert nicht mehr.

MC. Nicht gut! Vor allem, weil Stromausfälle ja nicht unbedingt selten sind in Argentinien.

CW. Ich hatte das Ding einem Bekannten in Buenos Aires gegeben, damit er es ein bisschen updatet und einige Programme installiert. Da hat er wohl meinen funktionierenden Akku gegen ein kaputten ausgetauscht. Ganz schön frech, oder?

MC. Dein Land! Deine Leute!

Zertifikat

 

 

CW. Dafür habe ich mein Portemonnaie nicht verloren.

MC. Bitte, was?

CW. Es war mir im Kiosk aus der Tasche gefallen, hab’s natürlich erst ’ne halbe Stunde später gemerkt.

MC. Für argentinische Verhältnisse also relativ schnell.

CW. Der Kioskbesitzer hatte inzwischen versucht, meine Adresse rauszukriegen.

MC. Echt?

CW. Wir Argentinier sind halt ehrliche Leute.

MC. Muahahahahaha. Der war gut!

CW. So hat der Kioskbesitzer auch auf den Satz reagiert.

MC. Guter Mann!

CW. Ich bin übrigens wieder Student. Diesmal an der Universität von Buenos Aires. Ein PR-Kurs.

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

MC. Aber Marketing kannst Du doch schon.

CW. Ich kann ja praktisch alles. Aber die Chefin will Zeugnisse und Zertifikate sehen.

MC. Das klingt nach Abschlusspflicht. Aber Intellektuelle Deines Kalibers haben nie ein Zeugnis. Nie! Das wäre rufschädigend.

CW. Und mein guter Ruf darf auf keinen Fall Schaden nehmen.

MC. Ich hatte immer nur die besten Zeugnisse, und was habe ich heute davon? Also, pass auf: Ich schreibe Dir etwas, und zwar endlich mal gegen Geld. Nämlich ein Zeugnis.

CW. Großartig!

MC. Dir sollte allerdings klar sein, dass Deine Frau alles rausbekommt und angemessen empört sein wird.

CW. Von mir erfährt sie nix.

MC. Natürlich nicht! Als guter Argentinier bist Du ja auch vollkommen uneinsichtig. Also um genau zu sein: Zunächst wirst Du alles abstreiten, und zwar über Tage, solange es geht. Damit alles noch schlimmer wird. Und dann erst bist Du uneinsichtig.

CW. Und am Ende sage ich: Das war seine Idee.

MC. Ich merke: Wir verstehen uns.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)