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Faule Gnocchi, Frauenüberschuss und ein kleines Krokodil zum Abendessen: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Asunción (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Erster Tag: Formosa

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Sollten Sie, lieber Leser, eines Tages mit mir, aus Gründen, über die ich an dieser Stelle nicht spekulieren will,1 gemeinsam in der Wüste landen − keine Sorge, die Oase würde ich wohl finden. Falls Sie aber zu den Pyramiden wollen, die gar nicht zu verfehlen sind, fragen Sie bitte jemanden mit Orientierungssinn.

Es ist mein erster Tag im argentinischen Nordosten, ich bin 1200 Kilometer entfernt von Buenos Aires und suche die goldene Perón-Statue. Seltsamerweise stehe ich im Augenblick allerdings vor der Coca-Cola-Fabrik.

Perón-Statue in Formosa

> Perón-Statue in Formosa

Das mexikanische Unternehmen Arca Continental, dem sie gehört, ist einer der wenigen echten Arbeitgeber in der Hauptstadt Formosa und der gleichnamigen Provinz. Die 400 Jobs im Abfüllwerk sind gut bezahlt und entsprechend begehrt. Denn eine nennenswerte Industrie gibt es nicht, und Formosas Tourismus ist auch noch keine Branche, nur Slogan: »El Imperio del Verde«, das Grüne Imperium.

Wichtiger als Coca-Cola ist nur der Staat.

95 Prozent des Provinzhaushalts bezahlt die Nationalregierung. Hilfe säen, Treue ernten, so haben es auch die Vorgänger der Präsidentin Cristina Kirchner gehalten. Deren linksperonistische Siegesfront (Frente para la Victoria) erreichte bei den Parlamentswahlen vor eineinhalb Jahren 60 Prozent in Formosa – fast doppelt so viel wie im Landesschnitt. Bei ihrer triumphalen Wiederwahl 2011 hatte Kirchner hier gar 78 Prozent geholt – landesweit kam sie auf 54.

Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

> Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

Vier Tage habe ich Zeit, um Formosa und Chaco zu bereisen, jenen Teil des argentinischen Nordostens, den ich noch nicht kenne. Misiones und Corrientes, die beiden anderen Provinzen des NEA, habe ich vor zweieinhalb Jahren mit dem Auto durchquert. Vier Tage, lächerlich. Formosa ist die fünftkleinste Provinz und trotzdem größer als der Freistaat Bayern – ein weites, weitgehend leeres Land mit nur 580 000 Einwohnern.

Der goldene Perón muss hier irgendwo sein. Ich sehe ihn noch nicht, fühle ihn aber. Jeder Argentinier ist ja laut Perón Peronist, einige wissen es nur nicht. »Wir Peronisten sind wie Katzen«, hat der General gesagt. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Unmöglich, dass ich den Kerl nicht finde; das glaubt mir doch kein Peronist.

In Buenos Aires haben viele Leute den Kopf geschüttelt. Was will man in Formosa? Dort gibt’s doch nichts. Nichts außer Schmugglern, die Waren aus Paraguay – vor allem Fernseher und Mobiltelefone – auf den argentinischen Markt bringen, weil der für derlei Produkte wegen der Importrestriktionen unverschämte Preise verlangt. Zigaretten? Natürlich. Andere Drogen? Ja, auch.

Biertransport über den Río Paraguay

> Biertransport über den Río Paraguay

Übrigens hat sich der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen, den Formosa tatsächlich besitzt, zum Hotel sehr böse ausgelassen über die Porteños, die Hauptstädter. »Porteños wissen alles. Deshalb mögen wir sie auch nicht«, sagte er. »Wenn du dich in Buenos Aires nicht auskennst, bist du aufgeschmissen. Dann fährt dich der Taxifahrer zehnmal im Kreis. Fragst du jemanden nach dem Weg, zeigt der hier lang, obwohl du da lang musst. Aber immer weiß er alles, der Porteño.«

Keiner − keiner außer den Porteños, versteht sich − mag die Porteños, so ist das in Argentinien. Und je weiter man sich von ihnen entfernt, umso übler wird ihr Ruf. Hier in Formosa ist die argentinische Hauptstadt in vielerlei Hinsicht sehr weit weg. Die meisten Formoseños kennen sie vor allem aus den Nachrichten oder vom Hörensagen, und über solche Kanäle exportiert Buenos Aires reichlich Geschichten über Mord und Totschlag an jeder Straßenecke. Die Metropole ist ein Moloch, bevölkert von arroganten, egoistischen und kaltherzigen Kreaturen, die überdies mehr Europäer sein wollen als Latinos. In Formosa ist jeder zweite Mestize, also Nachfahre von Weißen und Indigenen. Man lebt viel ruhiger, sagen sie und meinen auch: Wir versuchen nicht, uns 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche gegenseitig übers Ohr zu hauen.

Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

> Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

Puerto Formosa 2

Auch geografisch liegt anderes näher als Buenos Aires: Paraguays Hauptstadt Asunción erreicht man mit dem Auto in zweieinhalb Stunden und mit dem Bus in vier. An Formosas Uferpromenade fahren halbstündlich Barkassen über den Río Paraguay nach Alberdi, dem Grenzort des Nachbarn. Dort kaufen Argentinier gerne ein, weil’s drüben billiger ist, und die Paraguayer schicken dafür ihre Kinder in Formosa zu Schule und lassen sich im Hospital de Alta Complejidad »Presidente Juan Domingo Perón« gesund machen (was nicht jedem Argentinier gefällt).

»Ufff, da hast du dich aber ganz schön verlaufen«, sagt der Mann an der Bushaltestelle. »Also, geh mal zehn Blocks geradeaus, nein elf, dann kommt eine große Kreuzung, und dort biegst du rechts ab, gehst zwei Blocks und danach …«

Immer geradeaus, dann sehen wir weiter.

»Warte, mein Chef kommt gerade«, ruft er hinterher. »Sollen wir dich an der Plaza absetzen?«

»Sicher?«

»He, du bist nicht in Deutschland. In Formosa haben wir Vertrauen zu den Leuten.«

Ich finde es ja schön, dass ihr mir vertraut, wirklich, das ehrt mich. Aber die Frage ist doch: Soll ich auch euch vertrauen?

Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

> Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

> Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

Formosa ist, je nach Statistik, die ärmste, die zweitärmste oder die drittärmste aller 23 argentinischen Provinzen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist das zweitniedrigste nach dem des Nachbarn Chaco und liegt mit 2879 Dollar weit unter dem Schnitt (8269; Deutschland: 40 000). Studien zufolge sind mindestens sechs von zehn Formoseños beim Staat angestellt, was selbst in diesem Land, dessen Bürgermeister, Gouverneure, Minister und Präsidenten immer auch Jobvermittler sind, ein überragender Wert ist.

Freilich, nicht alle Staatsangestellte arbeiten auch für den Staat. Argentinien ist ja voller ñoquis (Gnocchi), Leuten, die zwar offiziell beschäftigt werden, in irgendeiner Behörde oder im Rathaus, aber nur am Monatsende zur Arbeit kommen, wenn der Lohn verteilt wird. Der Spitzname leitet sich ab von den Ñoquis del 29, einem alten argentinischen Brauch, wonach die Familie am 29. des Monats Gnocchi isst, weil das Geld in der Haushaltskasse nicht mehr für eine bessere Mahlzeit reicht.

»Danke fürs Mitnehmen, muchachos

Der Straßenmarkt der Paraguayer (Formosa)

> Der Straßenmarkt der Paraguayer

Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren, kaufe den Paraguayern auf dem Markt ein paar CDs mit argentinischer Rockmusik ab und lege mich dann früh schlafen. Morgen muss ich fit sein.

Die neue Uferpromenade von Formosa

> Die neue Uferpromenade von Formosa

Zweiter Tag: Asunción

♦♦♦♦♦

Hätte ich doch weniger Bier getrunken. Oder wenigstens schneller. Nicht bis Mitternacht. Aber Emilio hatte mich überredet, mit Blick auf den Río Paraguay zwei Delikatessen der regionalen Küche zu kosten: als Vorspeise trozos de yacaré rebozados en harina y huevo, den Brillenkaiman aus der Familie der Alligatoren, paniert mit Mehl und Ei; und als Hauptgang Surubí al paquete, den in Folie eingewickelten Pseudoplatystoma aus der Familie der Antennenwelse. Mein erster Abend in Formosa: viel Bier, ein knuspriges kleines Krokodil und ein gut geölter Süßwasserfisch.

Surubí al paquete

> Surubí al paquete

Jetzt, um 3.45 Uhr, klingelt mein Wecker. Ich habe nicht mal Kaffee da, und die Hotelküche ist noch geschlossen, also trinke ich zwei Tassen Cola. Die Dusche gibt kein warmes Wasser. Vielleicht bin ich auch zu blöd, die drei Knäufe zu bedienen, bei mir kommt jedenfalls nur kaltes oder gar kein Wasser. Um halb fünf stehe ich vor dem Hotel. Emilio hat einen Bekannten, der nachts Taxi fährt und mich zum Busbahnhof bringen wird.

Fünf Uhr. Um den Bus nach Asunción nicht zu verpassen, kümmere mich jetzt mal selbst um ein Taxi. »In diesem Land hat man immer das Gefühl, gleich geschieht was Schreckliches, und dann geschieht gar nichts«, lässt der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (1934-2010) eine Figur seines Romans Der Flug der Königin sagen. »Alles wird weitergehen wie bisher, du wirst schon sehen.«

Wollen wir hoffen, dass die anderen Passagiere genauso müde sind wie ich immer noch.

Busbahnhof von Formosa

> Formosas Busbahnhof morgens um halb sechs

»¡Señor! ¡Señor!«

Kann die verfluchte Alte bitte nicht so brüllen?

»¡Seeeeñññoooorrr! ¡Seeeeñññoooorrr!«

Oder kann sie der verdammte Señor mal hören?

»¡Seeeeeeññññoooooorrrrr! ¡Seeeeeeeññññoooooorrrrr!«

Ach Gott, die meint mich. Ich muss zwei Stunden durchgeschlafen haben, wir haben jedenfalls die paraguayische Grenze schon erreicht. Nur noch die freundliche Señora, ihre Tochter und ich sind im Bus. Das Mädchen, vielleicht elf Jahre alt, schaut mich verängstigt an. Wenn ich Glück hatte, habe ich nur laut geschnarcht. Mein Kinn ist allerdings ein bisschen feucht, das deutet auf sinnloses Gebrabbel im Schlaf hin – mit falscher Spanischgrammatik und schwerem Akzent. Beruhig dich, Kleines. Der alte weiße Mann ist okay.

> Argentinisch-paraguayische Grenze in der Stadt Clorinda

Paraguay 3

Ich bin der Letzte in der Schlange und stehe auch am Schalter wieder länger als alle anderen. Der Grenzbeamte studiert seelenruhig alle Aus- und Einreisestempel; ich habe bolivianische, chilenische, brasilianische, uruguayische, viele argentinische, dazu noch ein paar aus der Ukraine. Señor, ich will nur Asunción angucken. Ja, ich komme heute Abend zurück. Exactamente, ich lebe in Argentinien. , schon ‘ne ganze Weile. (Du hast doch all meine Visa, auch die abgelaufenen, zwei Minuten lang angeglotzt, ¡boludo!2)

Ringsherum sind die Geldwechsler unterwegs, einen Bündel Scheine in der Hand. Amigos, ich habe schon Guaraníes. 207 000! Emilio hat sie mir gestern Nacht geliehen, damit ich nicht bei euch Geiern zum miesen Kurs wechseln muss, sondern erst mal mit dem Taxi ins Zentrum fahren kann. 207 000 Guaraníes sind bei einem Peso-Wechselkurs von 1:380 … nee, das kann ich natürlich zu dieser frühen Stunde nicht … also irgendwas um 500 Peso vielleicht … also 50 Euro. Die Geldwechsler waren vorhin auch schon im Bus, ich habe sie im Halbschlaf gehört. Das war kein Traum, ich erinnere mich genau.

Puh, geschafft. Ich leg mich noch mal hin, lese ein bisschen und warte darauf, dass ich wegdöse.

Der Flug der Königin, erschienen 2002, verwebt die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen einem Chefredakteur und einer jungen Journalistin mit dem politischen Geschehen im korrupten Argentinien der späten neunziger Jahre, kurz vor dem Zusammenbruch. Tomás Eloy Martínez ist ein brillanter Erzähler.

»¡Venga!«

Der Busfahrer ist extra ins Oberdeck gestiegen. Mehr sagt er nicht. Ich soll nur mitkommen. Hoppla, offenbar habe ich zwar Argentinien verlassen, mich aber nicht von den Paraguayern aufnehmen lassen. Kann doch mal passieren, oder?

Na ja, sagt der Blick des Busfahrers.

Neben dem Schalter ist das Büro der paraguayischen Polizei, da muss ich jetzt auch noch schnell Hallo sagen, weil auf der Passagierliste des Busunternehmens hinter einem Namen das Häkchen fehlt. Sitzplatz 24. Ja, der bin ich.

Abfahrt.

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

Mein Freund Pablo schickt mir eine Nachricht. »Pass bloß auf«, schreibt er. »Die Paraguayerinnen sind äußerst warmherzig und die schönsten Frauen nach den Argentinierinnen.«

In Asunción herrscht Frauenüberschuss, wie es typisch ist für südamerikanische Metropolen. Hotels, Cafés und Restaurants, die weibliche Servicekräfte brauchen, sind auf dem Kontinent weitgehend ein Großstadtphänomen; hinzu kommt eine Wohlstandsschicht, die die Arbeit im Haushalt gern outsourct und sich bedienen lässt. Die Stadt gehört, demografisch gesehen, den Jungen: Mehr als die Hälfte aller Bewohner sind noch keine 30 Jahre alt; nur jeder zehnte hat die 60 schon überschritten.

Der Großraum Asunción ist auch einer der 20 großen Ballungsgebiete Südamerikas. Mehr als zwei der 6,7 Millionen Paraguayer leben hier. Täglich, so schätzt man, fahren 2,1 Millionen Menschen und mehr als 300 000 Fahrzeuge hinein in die Hauptstadt. Offiziell heißt sie übrigens: La Muy Noble y Leal Ciudad de Nuestra Señora Santa María de la Asunción, die sehr noble und treue Stadt unserer Heiligen Jungfrau Mariä Himmelfahrt. Asunción ist auch eine der ältesten spanischen Städte des Kontinents, gegründet 1537, eineinhalb Jahre nach Buenos Aires.

Ich kenne überhaupt keine andere paraguayische Stadt.

Der bekannteste Paraguayer?

Für mich: Roque Santa Cruz.

 

Der Polizist vor dem Busbahnhof meint, das Taxi ins Zentrum werde ungefähr 50 000 Guaraníes kosten. Mhhmm, das macht, du hast es gleich, fuffzig durch dreikommaacht, sagen wir: vier, la puta madre,3 ist das ein Wechselkurs de mierda, fuffzig durch vier sind zwölf, und jetzt noch die Nullen hinten dran, la concha de mi hermana,4 so schwer ist das doch … ach komm, gib auf, unmöglich. Versucht hast du‘s ja.

Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

> Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

Palacio de los López, der Präsidentenpalast

> Palacio de los López, der Präsidentenpalast

Das Nationalparlament

> Das Nationalparlament

Paraguay 9

Catedral Metropolitana, Bischofskirche des Erzbistums Asunción

> Catedral Metropolitana, die Bischofskirche des Erzbistums Asunción

Ich beschließe, mich treiben zu lassen. Kein Stadtplan. Mir bleiben ohnehin nur fünf, sechs Stunden, bis der Bus zurückfährt, und ich weiß ja ungefähr, was ich sehen will: das Parlamentsgebäude, die Kathedrale, den Panteón de los Héroes, in dem die Reste der Kriegshelden aufbewahrt werden, den stillgelegten Hauptbahnhof von 1861 und natürlich den Palacio de los López, den Präsidentenpalast. Seit zwei Jahren regiert dort der Konservative Horacio Cartes, ein gelernter Flugzeugmechaniker und Tabakbaron.

Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

> Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

Paraguays Ruf ist ja nicht der beste: Armut, Schulden, Korruption und Ungleichheit – von all dem hat das Land reichlich, mehr als viele andere Länder. Selbst für südamerikanische Verhältnisse soll es bisweilen ziemlich gesetzlos zugehen, und die Vetternwirtschaft hat ohnehin eine lange Tradition. In unguter Erinnerung sind auch die 35 Dienstjahre des Präsidenten Alfredo Stroessner (1954-1989). Der Sohn eines Buchhalters aus Oberfranken und einer Guarani-Indianerin war ein glühender Antikommunist und Tyrann, was erfahrungsgemäß keine angenehme Kombination ist. Stroessner ließ Widersacher foltern und trieb eine Million Landsleute ins Exil. Franz Josef Strauß verlieh ihm 1973 den Bayerischen Verdienstorden.

Ich kaufe doch mal einen Stadtplan. Wegen Pablos Auftrag sehe ich mittlerweile bloß noch Banken und Geldautomaten. Aber ich fühl mich wohl, ich bin vielleicht sogar verliebt, ein kleines bisschen. Eine Großstadt, die nicht unaufhörlich brüllt –  so etwas kennt man nach fast drei Jahren in Argentinien ja gar nicht mehr. Asunción ist jedenfalls zur Mittagszeit leiser als Buenos Aires nachts um drei, und das liegt nicht bloß an der Müllabfuhr, die dann durch unsere Straße rumpelt. (Also, jede Nacht um drei.) Hier ist es, als ob man Ohrenstöpsel trüge, so gedämpft erzählt Asunción von sich.

Der Stadtplan kostet 20 000 Guaraníes. Bestimmt ein Schnäppchen. ¡Vamos!

Polizistenverschnaufpause

> Polizistenverschnaufpause

Argentinier im Allgemeinen halten eher wenig von ihren Nachbarn – und trotzdem viel mehr als die umgekehrt von ihnen. Auf die Bolivianer, Brasilianer, Chilenen, Paraguayer und Uruguayer wirken sie überheblich und laut. Der Argentinier, heißt es, fällt, das Trikot seines Fußballklubs stets am Leib, ins fremde Land ein, flucht unaufhörlich und fordert: Bewundert mich!

Es ist kein Geheimnis: Argentinier bilden sich auf ihre Herkunft viel ein, obwohl es mit dem Land im Grunde seit 80, 90 Jahren − die Spanier sagen: seit dem 9. Juli 1816bergab geht. »Wenn ich abends nach Hause komme, ist die Straße menschenleer. Ich sehe nur Bettler, die sich daherschleppen«, sagt die junge Journalistin im Flug der Königin zu ihrem Geliebten, dem Chefredakteur. »Wir sind uns dessen gar nicht bewußt, Bitte,5 aber Buenos Aires verändert sich. Es ist ein Schmetterling, der ins Larvenstadium zurückschlüpft.«

Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

> Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Asunción: Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Aber die ganz alte Vergangenheit glänzt nach wie vor. Lange war Argentinien ja die größte Nummer auf dem Kontinent. Die erste U-Bahn Lateinamerikas (und der gesamten Südhalbkugel) fuhr 1913 in Buenos Aires, auch das erste Kinderkrankenhaus (1875) stand hier. Es war ein Argentinier, der Chirurg René Favaloro, dem 1961 die erste Bypass-Operation am Herzen gelang. Der erfolgreichste Formel-1-Fahrer, bevor der Kerpener kam? El Balcarceño, Juan Manuel Fangio, fünfmal Weltmeister in den fünfziger Jahren, 24 Siege in 51 Rennen. Das schönste und beste Opernhaus der Welt laut Wilhelm Furtwängler, dem Jahrhundertdirigenten? Das Teatro Colón, eröffnet 1908 und fast gelegen an der breitesten Straße der Welt, der 9 de Julio. Wer kann bei so viel Pracht schon mithalten?

> Verlassener Mate

> Verlassener Mate

> Fotograf im absoluten Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

> Fotograf im Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

Die Nachbarn rächen sich mit schlechten Witzen. Wie begeht ein Argentinier Selbstmord?, fragen sie. – Er springt von seinem hohen Ego. Warum rennt er aus dem Haus, wenn‘s draußen blitzt? – Er denkt, Gott fotografiert ihn.

Ganz schön warm heute in Asunción. Ich kann die Jacke wohl ausziehen. Mein Trikot: das weiße vom Quilmes Atlético Club.

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

> Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Paraguay 17

  1. weil es nur um den fabelhaften Einstieg in diesen Text geht []
  2. Schwachkopf/Depp, sehr beliebte Anrede in Argentinien []
  3. argentinischer Fluch: puta = Hure, madre = Mutter, la = die []
  4. das Geschlechtsorgan meiner Schwester, nur derber []
  5. ihr Spitzname für den Chefredakteur []

Zwischen Schwitzplatz und zu kurzer Rolltreppe: Kreatives Bauen in Buenos Aires und Berlin

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin nur Gast in Argentinien, und weil ich keinen Ärger will, drücke ich mich diplomatisch aus: Der Alltag, der ja größtenteils das Leben ist, hat es hier in sich. Wenn sich ein Argentinier für 11 Uhr ankündigt, kommt er um halb zwölf. Frühestens. Ein Deutscher kommt zehn Minuten vor elf. Spätestens. Natürlich, es gibt Ausnahmen, auf der deutschen Seite bin ich das. Im Flugzeug nach Buenos Aires saß ich ohne Uhr, und die Uhr, die ich mir dann an der Plaza Italia gekauft habe, war nach einem Monat kaputt.

In meinen ersten argentinischen Wochen habe ich mich mitunter abfällig über die Subte geäußert. Ich nannte die erste U-Bahn Lateinamerikas (1913) gern eine »überfüllte Sauna auf Gleisen«. So sollte man über eine Hundertjährige nicht reden. Es tut mir heute leid. Ich war noch zu deutsch. Um in der Ferne anzukommen, muss man sich erst von der Heimat entfremden. Irgendwann erkennt man die argentinische Gelassenheit und nimmt sie ein bisschen an. Dieses Volk hat schon viel durchgemacht und wird noch viel durchmachen. Ein Schwitzplatz in der Subte gehört da zum Inventar des Lebens.

Lego

Als jemand, der von Vollkommenheit sehr weit entfernt ist, schaue ich mit wachsendem Stolz meinem Sohn beim Legospielen zu. Seit wir in Argentinien zu Hause sind, hat er das kreative Bauen mit den bunten Plastiksteinchen entdeckt. Er lässt die Baupläne, die er in Deutschland immer benutzt hat, in der Schublade und fängt einfach an. Mal entsteht etwas Kleines, mal etwas Großes, mal die Casa Rosada, mal ein Gefängnis. Man kann das kreative Bauen übrigens auch in Buenos Aires besichtigen. Ich denke dann an meinen Sohn und seine Steinchen, gehe weiter und sage leise: »Das wird schon.«

Und der neue Berliner Großflughafen für 60 000 Passagiere pro Tag? Der wird seit Anfang der neunziger Jahre geplant und hätte im Oktober 2011 eröffnen sollen. Dann am 3. Juni 2012. Dann am 17. März 2013. Dann am 27. Oktober 2013. Inzwischen ist der Start auf unbestimmte Zeit verschoben. Natürlich wird der Airport eines Tages fertig werden. Es ist nur nicht sicher, ob die Menschheit dann noch im Flugzeug reist.

Ach, wenn wenigstens sorgfältig gebaut würde. Aber man hat vieles vergessen, nicht das Allerwichtigste, an Start- und Landebahnen hat man gedacht. Aber es gibt zu wenige Brandschutztüren, eine Rolltreppe ist zu kurz und ein Fußboden beschädigt, weil Gabelstapler drüber gefahren sind, obwohl eine Schutzabdeckung fehlte. Und wenn der Wind aus der falschen Richtung weht, läuft Regenwasser ins Lüftungssystem des Terminals.

Ich lese jetzt überall, dass die halbe Welt über uns lacht, über die perfekten Deutschen mit ihrem inzwischen 4,3 Milliarden Euro teuren Pannenflughafen im Rohbau. Manchem Landsmann scheint das regelrecht peinlich zu. Dabei ist das ein unbezahlbarer Imagegewinn. Wann hat das Ausland denn Deutsche jemals witzig gefunden?

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Das Schlangenphänomen

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Argentinier liebt das Schlangestehen. Je länger die Schlange ist, um so eher gesellt er sich dazu. »Wenn wir auf der Straße eine Schlange sehen, nähern wir uns mit dem unbewussten Wunsch, uns einzureihen«, schrieb neulich ein Ex-Wirtschaftsminister in der Zeitung. Vielleicht erklärt das auch, warum Buenos Aires weltweit die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychologen und Psychiatern ist. Jeder Fünfte geht regelmäßig zum Seelendoktor.

Die häufigste Schlangenart ist die im Supermarkt. Es empfiehlt sich, Verpflegung und Wechselwäsche einzupacken. Der Kunde zahlt selten bar und zeigt deshalb allerhand Karten vor, Personalausweis inklusive. Da das Laufband kaum länger ist als eine deutsche Kreuzotter, wird aufgetürmt, während die Kassiererin gemütlich scannt und einpackt. Ich sehe die Gefahr, dass ich meine Einkäufe bald stehle – und die Kinder würden mich nicht mal vermissen: Papa wäre aus dem Gefängnis schneller zurück als aus dem Supermarkt.

Leben in Buenos Aires bedeutet: warten. Warten auf einen der 150 000 Busse, die durch die 13-Millionen-Metropole fahren. Warten auf die Subte, die erste U-Bahn Südamerikas (1913), eine stets überfüllte Sauna auf Gleisen. Einmal fuhr sie wegen eines Streiks zehn Tage gar nicht. Die Porteños, die Bürger der Hauptstadt, warteten auf den Bus, der sich anschlich, aber nicht anhielt, weil er längst vollgestopft war. Danach warteten sie auf ein Taxi. Irgendwann stiegen sie auf ein Transportmittel um, das ihnen niemand streitig machen konnte: Sie gingen auf eigenen Beinen heim.

Wo der Porteño nicht aufgehalten wird, hält er sich selbst auf. Er befragt Fremde, bis die zugeben, in der tollsten Stadt der Welt zu leben, er geht sowieso keinem Geplauder aus dem Weg. Aber eigentlich hat er keine Zeit. Erstaunlich, dass die Seelendoktoren in dieser Stadt nur jeden Fünften kriegen.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Manuel und der Detektiv

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich kenne mich, und ein Mensch, der mir sehr nahesteht, behauptet sogar, das täte ich überaus gern. Ich kann ausschließen, dass ich eines Tages im Bad mein Spiegelbild anschreien werde. Ja, vielleicht schreie ich dann auf der Straße Wildfremde an, einfach so, das wiederum schließe ich nicht aus. Um ehrlich zu sein: Ich gehe davon aus, dass das hin und wieder passiert, so ein-, zweimal pro Woche. Seit heute Morgen weiß ich, dass ich ein bisschen auf mich achtgeben muss.

Gestern war noch alles in Ordnung.

Ich hatte im Supermarkt neben dem Kindergarten ein Baguette gekauft, so ein Ding, das sich der Nichtfranzose in die Achselhöhle des Franzosen denkt. Dann ließ ich mir von Fernanda, der Erzieherin, die Kinder aushändigen, zählte auf der Straße nach, kam auf drei und war zufrieden. Das Baguette klemmte ich am Dach des Kinderwagens fest. Der hatte nun ein bisschen Überbreite, aber mit drei Kindern hat die ja jeder Spaziergang.

Ich wollte nach Hause gehen. Die Kinder wollten das auch, im Prinzip, also nicht gleich, lieber in zwei Stunden und unbedingt erst nach einem Ausflug auf den Spielplatz. Vielleicht bin ich auf der ganzen Welt der einzige Vater, der nicht gern Spielplätze besucht. Vielleicht liegt es daran, dass meiner Tochter immer eine halbe Sahara in den Nacken gekippt wird und ich meinen Sohn überreden muss, sich dafür zu entschuldigen. Und eine große Gemeinheit, zu der Kinder fähig sind, ist die, dass sie zwar überall allein hinaufkommen, aber nicht wieder hinunter, weshalb mir ständig irgendein rostiges Klettergerüst beweist, dass ich alt und ängstlich und schwach geworden bin. Wir verhandelten mehrere Minuten und einigten uns auf: erst ein Eis, dann eine Limonade und dann nur eineinhalb Stunden Spielplatz. Ich habe schon schlechter verhandelt.

Ein Weilchen später, nachdem ich ein paar Mal bemerkt hatte, wie alt und ängstlich und schwach ich geworden bin, entdeckte ich, dass der Kinderwagen keine Überbreite mehr hatte. Das Baguette war angebissen.

Meine Kinder behaupteten gleich, nichts gegessen zu haben. Ich ließ sie nebeneinander antreten und durchsuchte ihre Münder nach Brotresten. Bestimmt gibt es elegantere Methoden, ein Verhör vielleicht, aber bei meinen Kindern klappt das nicht. Die beschuldigen sich entweder gegenseitig oder geben einander ein Alibi. Und ich bin nun einmal nicht halb so schlau wie Inspektor Columbo.

Nichts. Keine Brotreste.

Mein Sohn hatte gleich einen Verdächtigen gefunden: den Jungen im Trikot von River Plate.

Es ist in Buenos Aires sehr verrückt mit dem Fußball. In keiner anderen Metropole, vielleicht mit Ausnahme Londons, gibt es so viele Erstliga-Fußballklubs. Die beiden wichtigsten Vereine der Stadt und damit auch des Landes sind die Boca Juniors und River Plate. 40 Prozent der argentinischen Fußballfans, vor allem viele Arbeiter, fiebern angeblich mit Boca, 32 Prozent, vor allem die Mittelschicht und die Wohlhabenden, halten zu River. Der Rest ist für Quilmes oder San Lorenzo oder Rosario, weiß der Teufel, warum. Und wenn die beiden Großen gegeneinander spielen, ist das natürlich kein »Clásico«, sondern ein »Superclásico«, der das Land tagelang lahmlegt.

Es gibt angeblich sogar Fans, die testamentarisch verfügen, dass sie im Trikot des Feindes beerdigt werden – damit wenigstens einer von denen geht. Verglichen mit diesem Duell, bestreiten Schalke und Dortmund zweimal im Jahr ein Kaffeekränzchen.

Mein Sohn steht auf Boca, obwohl sein Vater kein Arbeiter ist, und er hat seine Gründe. Der eine ist: Diego Maradona. Argentiniens »Goldjunge« hat zweimal für Boca gespielt, von 1981 bis 1982 und von 1995 bis 1997. Der andere Grund ist: Rivers Trikot hat einen roten Diagonalstreifen.
»Vorsicht, mit falschen Beschuldigungen, mein Sohn«, sagte ich.
»Nein, Papa, die von River sind wirklich böse.«

Nun weiß man von Fjodor Dostojewskis Rodion Romanowitsch Raskolnikow, dass der Täter ein Gewissen hat und sich selbst überführen kann. Ich stellte dem Brot-Dieb also eine Falle. Ich zog das verbliebene Baguette ein Stück aus der Tüte und legte es zurück auf den Kinderwagen, entfernte mich und schaukelte wie ein Irrer. Mein Brot ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Schon bald sah ich, wie sich ein Junge meinem Baguette näherte. Ehe er zugreifen konnte, stellte ich ihn.

Über die Verschlagenheit der Porteños braucht mir keiner mehr etwas zu erzählen. Die haben’s wirklich drauf, und ich bin von ihren Künsten jeden Tag aufs Neue überfordert. Ich kaufe in der U-Bahn oder an der Straßenecke immerfort Dinge, die ich schon besitze, nicht brauche oder nicht brauche und trotzdem besitze: Ich habe für umgerechnet acht Euro eine Armbanduhr gekauft, die nach drei Wochen eine Ex-Armbanduhr ist und ihren vorzeitigen Ruhestand in einer Schublade verbringt. Eine Ex-Umhängetasche habe ich auch. Ohne Schultergurt hängt sie jetzt irgendwo ab. Und wenn ich nachschaue, welches unfähige Volk auf Erden etwas herstellt, das sich selbst zerstört, steht irgendwo stolz und groß: »Industria Argentina«.

Ich lese gerade die neue Ausgabe der Straßenzeitung »Hecho«, die der Verkäufer als argentinisches »Hinz&Kunzt« bewarb, nachdem er erfahren hatte, dass ich aus Deutschland komme. Erst vorgestern habe ich einem übel zugerichteten Mann so viele Pflaster abgekauft, dass ich jede Nacht auf einem Kaktus schlafen könnte und trotzdem noch genug hätte für die ersten Schnittwunden im Jenseits. Andererseits, vielleicht kleben die Pflaster auch gar nicht.

Wenn ich in der U-Bahn ausnahmsweise einmal nichts kaufe, liegt das daran, dass der Waggon so voll ist und ich nicht an mein Geld komme, weil ich affenähnlich an der Stange hänge, um jemandem Platz zum Aussteigen zu machen. Die »Subte« ist eigentlich immer voll, also jedenfalls morgens, mittags, nachmittags und abends. Ich bin mittlerweile fünfzigmal gefahren und hab einmal gesessen: an einem Sonntagmorgen um halb zehn. Aber da benimmt sich die Hauptstadt auch, als hätte sie einen Kater. Zu allen anderen Zeiten sind die Züge so voll, dass immer Hände am Gesäß sind – entweder die eigenen an einem anderen oder die anderen am eigenen. Ich habe auch den zweiten Fall zu schätzen gelernt.

Im Augenblick ist die »Subte« leer. Sie fährt nämlich gar nicht, weil die Angestellten seit Freitag für höhere Löhne streiken. Die Stadt liegt lahm, als würden fünf »Superclásicos« am Stück gespielt; an den Haltestellen stehen 200 Menschen und warten auf den Bus; der kommt und fährt weiter, weil er schon voll ist. Ein Taxi zu finden ist fast unmöglich. Und auf den breitesten Straßen der Welt stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Es gibt im Fernsehen Sondersendungen, aber die Leute bleiben fröhlich. Niemand rempelt. Niemand flippt aus. Geflucht wird, als führe die »Subte«. Also pausenlos.

Ich fahre auch Auto in Buenos Aires. Ich hatte ein bisschen Angst vor der ersten Tour, auch vor der zweiten und dritten, das hört wohl nie ganz auf. Mag sein, dass es anderen egal ist, wenn sie etwas falsch machen und deshalb von vorne, von der Seite und von hinten beleidigt werden. Ich werde nie ganz loswerden, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Ich denke noch immer, das spricht sich rum unter den drei Millionen Argentiniern in Buenos Aires, ungefähr so: »Da ist ein Deutscher in der Stadt, hombre, wie der fährt, das glaubst du nicht. Eine Navi im Cockpit, die mehr wert ist als mein Auto, aber null Orientierung. Ohne Bordsteinkante stünde der mit seiner Kutsche schon in deinem Schlafzimmer.«

Aber Pablo hat mich beruhigt. Er wohnt über mir. Ich weiß nicht, was er beruflich macht, ich würde es wahrscheinlich ohnehin nicht verstehen. Er hingegen weiß schon allerhand über mich, ich habe mich als neuer Nachbar jedenfalls gleich ordentlich vorgestellt.
»Ich nenne dich Cristóbal oder jefe, vielleicht auch Deutscher oder Brille oder Nase, so machen wir das hier nämlich«, sagte er. »Und damit das klar ist: Deinen grässlichen Nachnamen merke ich mir gar nicht erst.« Ich sieze Pablo, aber auch nur, weil ich das »voseo«, die südamerikanische Form des Duzens, noch nicht richtig beherrsche.
»Eines solltest du wissen«, sagte Pablo. »Porteños sind schlechte Autofahrer. Porteños behaupten immer, alles zu können, ich weiß das, weil ich selbst einer bin.«
»Und was bedeutet das für mich?«
Pablo überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Weiß nicht.«
»Muss ich anders fahren?«
»Ich denk drüber nach«, sagte er und verabschiedete sich. »Ich kann übrigens sehr gut Auto fahren.«

Am nächsten Tag klebte an meiner Tür ein Zettel von Pablo. Darauf stand: »Habe noch mal nachgedacht, Schumi. An vielen Ecken stehen Jugendliche und bieten Dir etwas an, wollen die Autoscheibe putzen oder machen Kunststücke, wenn die Ampel rot ist. Sei höflich und zeig ihnen mit Deinen Händen ein no! Und für nichts auf der Welt öffnest Du das Fenster, für nichts auf der Welt, selbst wenn jemand auf dem Asphalt einen Kopfstand macht, der olympiareif ist, für nichts auf der Welt. Ist das klar?«

Mir ist gleich aufgefallen, dass Argentinier anders fahren. In Deutschland benutzt man gern die Lichthupe, hier lässt man das Licht weg. Zebrastreifen sind nur Zierde und darüber hinaus ohne jede Bedeutung. Ich habe noch keine Ahnung, wie das an einer Kreuzung ohne Ampel ist. Es ist alles sehr industria Argentina. Manchmal kommt es mir vor, als würde rechts vor links praktiziert. Aber diese Regel scheint nicht immer und nicht überall zu gelten. Manchmal fährt auch links vor rechts. Ich schließe nicht aus, dass es auf die Schönheit ankommt – nur: auf die Schönheit des Autos (gut für mich) oder die des Fahrers (gut für die anderen)?

Der argentinische Rodion Raskolnikow hat sich mir übrigens als Manuel vorgestellt, doch wahrscheinlich ist das nicht sein echter Name. In einem hundsgemeinen Dialekt, den ich kaum verstand, bestritt er alles. Ich ließ ihn erst mal ausreden und fragte dann nach seiner Mutter. Manuel sagte, er sei mit seinem Vater auf den Spielplatz gekommen, und zeigte auf einen in der Sonne dösenden Riesen.

»Na ja, wir können das ja auch alleine klären«, sagte ich. Mit einem hundsgemeinen Akzent, den er kaum verstand, redete ich auf ihn ein. Ich machte ihm erst ein schlechtes Gewissen und gab dann der Welt, dem lieben Gott und der Präsidentin eine Teilschuld. Irgendwo, zwischen zwei eher wirren Gedanken, verlor ich auch meine Grammatik. Um Manuel zu zeigen, dass er nicht stehlen müsse, sondern auf die Gutherzigkeit von lieben Menschen vertrauen solle, schenkte ich ihm zum Abschied noch ein Stück vom Baguette und bestand darauf, dass er es vor meinen Augen isst. Noch mit vollem Mund behauptete er, Weißbrot gar nicht zu mögen.

Ich fühlte mich gut. Ich hatte einem Kleinkriminellen den Weg aus dem Milieu gewiesen. Von meinen Kindern ließ ich mich feiern.

Das fehlende Baguettestück habe ich am nächsten Morgen auf dem Weg zum Kindergarten gefunden, an einer Stelle des Bürgersteigs, die für Kinderwagen mit Überbreite sehr eng ist.

Ich nehme die Beschuldigungen hiermit zurück. Tut mir Leid, Manuel.

In der Klapsmühle

von CHRISTOPH WESEMANN

Vielleicht bin ich ein bisschen früh, ich lebe erst drei Tage hier, und von diesen drei Tagen wiederum habe ich viel Zeit verschlafen, erschöpft von der Wucht, mit der diese Stadt Neuankömmlinge empfängt. Aber steile Thesen sind ja durchaus reizvoll, also bitte: Buenos Aires, das ist nicht nur die Hauptstadt Argentiniens, sondern auch die tollste Klapsmühle der Welt.

»Dreihundert Millionen Widersprüche« hat der spanische Philosoph José Ortega y Gasset einst hier gezählt und gleich den Satz hinterher geschoben: »Buenos Aires ist eine absurde Stadt, die ich von Tag zu Tag mehr liebe.« Sie soll weltweit die höchste Dichte an Psychiatern und Psychologen haben, lässt also sogar das ach so notorisch neurotische New York gesund im Oberstübchen erscheinen.

Vielleicht kann nur in einer Stadt wie Buenos Aires die U-Bahn mit einem großen Schwindel für sich werben: »más fácil, más rápido«. Einfacher und schneller – das ist die Subte ganz sicher nicht. Sie ist: voll. Schon gut, ich weiß, auch in Berlin ist die U-Bahn manchmal voll. In Buenos Aires ist sie: manchmal nicht voll. So wie hier auch manchmal nicht gehupt wird und es manchmal nicht laut ist. Ja, und es gibt wohl Hunde, die nicht direkt auf den Bürgersteig wursten, und wohl auch Hundehalter, die den Kot aufsammeln. Meine Schuhsohlen bestreiten das aber.

Vielerorts erinnert mich Buenos Aires an Odessa: das Improvisierte mit seinen kleinen Ständchen voller Krimskrams am Straßenrand, das Löchrige und Holprige auf allen Lebenswegen, der morbide Charme, das Abgeranzte, das Geflickte. Und immer wieder: Fassadenmelancholie, ein Hauch von alter Herrlichkeit. Atemberaubend schön ist all das gewesen, damals, vor 100 Jahren, als Argentinien eine Wirtschaftsmacht war und Auswanderer aus Europa anzog.

Der Unterschied zwischen Odessa und Buenos Aires, zwischen Odessiten und Porteños ist: Hier weist der Kioskmann geduldig den Weg, der Kellner bindet mit einer Tischdecke das Zappelbaby am zu großen Kinderstuhl fest, die Wildfremde auf der Straße sieht die drei Kinder und ruft: »Ich würde sie sofort betreuen.« Es wird überhaupt mehr gelächelt als dort.

Eine absurde Stadt, gewiss. Liebe nicht ausgeschlossen. Ein Traum schon jetzt.

 

Ganz schön was los

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich danke bloß rasch Argentinien, das meine Ankunft Anfang Juli offenbar heiß erwartet und mir deshalb die Eingewöhnung unbedingt erleichtern will – indem es mit Verhältnissen lockt, die mir aus Odessa nicht ganz unbekannt sind.

¡Argentina es un país fantástico!

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)