Wer verstehen will, warum Argentinien ist, wie es ist, der wird in der Vergangenheit des Landes fündig. Vor 100 Jahren war Argentinien eine Wirtschaftsmacht in der Welt, ein Traumland der Auswanderer, die sich fragten: Wohin? New York oder Buenos Aires? Dann kam der Absturz, es kamen Wirtschaftskrisen, Staatsstreiche und eine Staatspleite.
»Argentinier können über Argentinien eigentlich nur im Superlativ sprechen«, schreibt der Landeskenner Christian Thiele in seiner »Gebrauchsanweisung für Argentinien« und zählt gleich ein paar auf: die meisten Steaks pro Kopf, der höchste Pro-Kopf-Verbrauch an Seife und Deo, der größte Gletscher, die meisten Psychiater pro Einwohner, die meisten Schlafstörungen, die schönsten Frauen, der größte Staatsbankrott in der Geschichte (2001/2002), das schönste Tor aller Zeiten (Diego Maradona gegen England, WM 1986), der sinnloseste Krieg (Falklands), die längste Straße der Welt (Avenida Rivadavia), die breiteste Straße der Welt (Avenida 9 de Julio), den besten Rennfahrer (Juan Manuel Fangio), die schlimmste aller Militärdiktaturen (1976-1983), die erste U-Bahn Südamerikas (die Subte in Buenos Aires), die südlichste Stadt der Welt (Ushuaia), die meisten Taxis pro Einwohner, der lauteste Lärm im Zentrum der Hauptstadt und, und, und.
Ob das alles stimmt? Egal.
Die Nachbarn finden’s ohnehin eher lächerlich und diagnostizieren einen gewaltigen Minderwertigkeitskomplex. Aber was der Nachbar denkt, interessiert Argentinier ohnehin nicht, man ist schließlich Teil der ersten Welt, also gewissermaßen Europäer im Exil. Noch mal Christian Thiele: »Das Land liegt kollektiv bei sich selbst auf der Couch. Es misstraut sich selbst und analysiert fortwährend seine Schwächen und Fehler. Es ist unglücklich in sich selbst verliebt.«
Wird also Zeit, das Land kennen zu lernen.
Buenos Aires am 11. Juli 2012