Posts Tagged ‘Argentinien’

Die Podcast-Premiere: Zwei Herzensargentinier reden sich um Kopf und Magen

von CHRISTOPH WESEMANN

Wacho Chorro (r.) empfängt sein Honorar.

Montevideo/Uruguay ♦ Leser des Argentinischen Tagebuchs kennen ihn schon, el famoso Wacho Chorro, unseren Mallorca-Korrespondenten und Europa-Kantinenchef, »Kopf und Leber« der Borrachos Bornheim vom FSV Frankfurt. Wir haben ihn aus Buenos Aires einschippern lassen – zu einem tiefgründigen, ungeschnittenen Gespräch über Fußball, Frauen, Fleisch und Folklore, über Argentinier und seine Nachbarn, über den Río de la Plata und seine Wellen. Viel Vergnügen.

Das Ende einer Ära: Hupen und weinen nach der Wahl

von CHRISTOPH WESEMANN

Weniger als drei Punkte haben die beiden Kandidaten am Ende getrennt, wobei man einrechnen muss, dass die kirchneristischen Stimmenzähler in unbeobachteten Augenblicken hier und da nach gutem Brauch nicht jede Stimme für Mauricio Macri gezählt haben werden und die für Daniel Scioli dafür doppelt. Oder dreifach.

Irgendwo in den sozialen Netzwerken schrieb am Montag ein Argentinier: Bei diesem knappen Vorsprung könne man davon ausgehen, dass der Oppositionsmann ohne die vielen eigenen Aufpasser, die sein Bündnis in den vergangenen Wochen mobilisiert habe, die Wahl verloren hätte. »Eine Schande für ein demokratisches Land ist das.« Muss nicht falsch sein, diese Annahme.

Buenos Aires in der Wahlnacht − Fotos (c): Jakob V. Latzko

Der schmale Abstand allerdings verharmlost die emotionale Wucht dieser Stichwahl um die Präsidentschaft. Sonntagnacht auf der Straße konnte man sie spüren, als Wähler und Anhänger Macris die Hupe ihres Autos kaum noch losließen, und wer zu Fuß unterwegs war, der atmete erleichtert auf: Vorbei. Wir sind ihn los, diesen Kirchnerismus, die Hure, die ihn geboren hat1. Endlich. Die Freunde des Kirchnerismus indes weinten; einige hatten noch gestern Nachmittag gerötete Augen und suchten Trost, den es nicht gab. Für sie ist viel Leben zusammengebrochen.

Der Kirchnerismus ist in den vergangenen zwölfeinhalb Jahren eben auch ganz tief in die Gefühlswelt jedes einzelnen Argentinier eingedrungen, negativ wie positiv. Wahrscheinlich kann diesbezüglich allenfalls noch die erste Regierung des Präsidenten Juan Domingo Perón mithalten. Néstor und Cristina Kirchner hatten ja ein Projekt, nac&pop sollte es sein, nacional y popular, für das ganze Land und für alle Schichten. Sie wollten verändern und nicht bloß regieren und sich die Taschen füllen (was sie trotzdem taten). Nach dem Bankrott von 2001/2002 sollte Argentinien wieder aufgebaut und zugleich umgebaut werden – der Plan: ein neues, besseres Land, erschaffen von den Guten, für alle. Para todos. Geklappt hat das nur in Ansätzen.

Und falls es den Kirchners und ihren Helfern doch bloß um die Macht ging, war dieses Schauspiel wenigstens toll inszeniert. All diese Lieder. Trommeln, Trompeten und Papierschnipsel.  Diese Aufmärsche. Gehüpfe wie in der Kurve beim Fußball. Diese Mythen. Néstor ist nicht gestorben, er lebt weiter im Volk, oder er schaut uns mit Perón vom Himmel zu. Eine männliche Evita. Der Kirchnerismus benahm sich nicht selten wie eine Religion.

Die Regierung hat übrigens auch beim politischem Marketing Maßstäbe gesetzt. Der Buchstabe K – die erste große Erfindung – gehört heute praktisch dem kirchnerismo. Los k, das sind die Kirchneristen. Und die Frage Bist du k? versteht jeder in diesem Land auf Anhieb. Marken samt Logos wurden am Fließband produziert: Ahora 12, Encuentro, Tecnópolis, Sube, Pro.Cre.Ar, Educ.ar, Pro.Cre.Auto, Precios Cuidados, Conectar Igualdad und natürlich Fútbol para Todos, die kostenlosen Live-Spiele im Fernsehen. Alles fürs Volk.

Am Sonntag, das war: Ende einer Ära. Wie sollte man es, auf die eine Art oder auf die andere, nicht spüren?

♦♦♦♦♦

Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

  1. La puta que lo parió − ein beliebter argentinischer Fluch []

Die Komödie vom Zombie und der Bayernsau

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, 17 Uhr. Eine deutsche Familie in Argentinien. Ein Vater. Die Mutter auf Dienstreise. Der Große (9) und die Mittlere (6) sind gerade mit dem Schulbus angekommen.

VATER. Gracias. ¡Hasta mañana!

BUSFAHRER. ¡Hasta mañana! (fährt ab)

VATER. Wie war die Schule, Leute?

TOCHTER. Gut.

SOHN. Gut.

VATER. Gut.

SOHN. Morgen ziehe ich ein Fußballtrikot an.

Quilmes

VATER. Das weiße von Quilmes? Das schönste Trikot der Welt? Cool. Wir sind die Mannschaft der Stunde, weißt du ja. Fünf Siege in den letzten fünf Spielen. Fünf! Hat vorher noch kein neuer Trainer von Quilmes geschafft. Facundo Sava ist ein verdammtes Genie, sag ich dir. Die halbe Saison lang verlieren wir fast jedes Spiel, dann kommt er, und plötzlich gewinnen wir. Und pass auf, es sind noch neun Spiele, alles ist möglich. San Lorenzo und Boca holen wir nicht mehr ein, aber  …

SOHN. … Papa …

VATER. … bis zu den Hurensöhnen von River Plate sind es nur neun Punkte. Platz fünf wäre Wahnsinn. Am Sonnabend …

SOHN. … Papa …

VATER. … reißen wir erst mal Temperley den Arsch auf. Und wir sind natürlich dabei. ¡Vamos a la cancha!

quilmes 2

> Choripán-Stand vor dem Stadion des Quilmes Atlético Club

SOHN. Paaaaaaapaaaaaa!

VATER. Was?

SOHN. Ich ziehe mein Bayerntrikot an.

VATER. Du ziehst schön deine Schuluniform an, mein Freund! Wie sich das gehört in Argentinien.

SOHN. Aber ich darf. Wir reden in der Schule gerade über die Zukunft. Was in 20 Jahren ist. Was wir dann machen. Meine Lehrerin sagt, wir sollen morgen aussehen wie die Person, die wir in 20 Jahren sein wollen.

VATER. Und 2035 bist du …

SOHN. … Fußballprofi.

VATER. Bei Bayern.

SOHN. Ja. Im Sturm.

VATER. (murmelt) Ich habe versagt. In der Erziehung. Komplett versagt.

SOHN. Ich kann auch als Zombie gehen.

VATER. Besser. Viel besser.

SOHN. Dann musst du mir beim Verkleiden und Schminken helfen.

VATER. Ich bin allein mit euch dreien, schon vergessen?

SOHN. Nein.

VATER. Ich werde einen Teufel tun. Du gehst als Bayernsau und basta.

Quilmes 3

> Mit der Quilmes-Legende Rodrigo el Chapu Braña

TOCHTER. (aufgeregt) Papi, ich spiele für Quilmes, wenn ich groß bin. Wirklich. Ich will aber ins Tor.

VATER. (leise) Auch das noch.

TOCHTER. Wie bitte?

VATER. Danke, mein Schatz, du machst mich gerade ganz glücklich.

Der Vater fängt leise an zu weinen.

VORHANG.

Die letzte Zehn der Welt sagt hasta luego: Riquelme-Gastbeitrag bei Cavanis Friseur

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn jemand diesen großen argentinischen Fußballer verabschieden darf, dann ja wohl ich. Juan Román Riquelme und ich sind ja nicht nur ein Jahrgang (1978), sondern auch gleich groß (1,83 m) und – behauptet zumindest das jeweilige Umfeld – zwei ähnliche Diven. Außerdem bin ich immer Riquelme, wenn wir mittwochabends in Buenos Aires unter der Autobahnbrücke fünf gegen fünf kicken. Ich versuche, das Spiel klassisch zu lenken – natürlich auch, weil ich für den sogenannten modernen Fußball zu langsam renne und denke.

Cancha bajo Flores

JR Riquelme

Ich habe eine Schwäche für Menschen, die Erwartungen nicht erfüllen. »Se me escapó la tortuga«, sagt der Argentinier, wenn er eine einmalige Chance vergibt. »Mir ist die Schildkröte entwischt.« Der Spruch stammt, wie so viele andere, die zu Volksweisheiten geworden sind, von Diego Maradona. Auch Riquelme hat die Schildkröte nicht immer festgehalten. Er ist ein Unvollendeter. Er wurde Mitte der Neunziger als neuer Diego empfangen (und reifte dann doch nur zur Weltklasse), er trug schon mit 20 Jahren bei den Boca Juniors die 10 und hat 17 Titel gewonnen, darunter dreimal die Copa Libertadores, sechsmal die argentinische Meisterschaft und am 28. November 2000 den Weltpokal (der in Südamerika einen hohen Stellenwert hat).

Weiterlesen im Fußballblog Cavanis Friseur hier entlang, bitte.

Der Jesuit, die Ana & die Konda, ihr Gott und die Pauschalreise – Erste Lieferung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Ich habe das Werk von M’boi gesehen. M’boi, das ist nicht etwa der hip-hoppende neue Lover von Heidi Klum. M’boi ist Gott. Also, einer von vielen. Zuständigkeitsgebiet: Schlangen. Und Eifersucht. Sagen die Guaraní, die im Dschungel zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay leben.

Guaraní_Wasser_Siedlungsgebiet

M’boi, der alte Schlangengott, kann übel fies werden, wenn es um Frauen geht: Die Guaraní-Prinzessin, auf die er mal scharf war, stand eher auf einen tapferen Krieger. Dummerweise sind die beiden … hach!, »Liebenden«, würde Fontane  auf’s holzige Schreibpapier kratzen … vor dem Gott in einem Kanu auf dem Fluss Iguazú abgehauen.

Da hat M’boi aber zugeschlagen. Mit seinem Mörder-Schlangen-Schwanz. Mitten ins Flussbett. SLAM!CRACK!CRASHBOOMBANG! TUTTIFRUTTI! − und die Wasserfälle von Iguazú waren da.

P1060456

Dafür waren die Prinzessin und ihr Krieger weg: Er in einen Baum verwandelt, der auf ewig zusehen muss, wie das Wasser über den Stein fließt, in den M’boi die Prinzessin transformiert hatte. Cool, oder?: Er: ein Baum. Sie: ein Stein, von schaumbrodelndem Wasser überspült. Baum. Stein. Wasser. Ü!ber!spült! Noch Fragen, Freud? Und jetzt haben sie da diese Wasserfälle, die als Naturweltwunder gelten und jährlich von Millionen Menschen angestarrt werden, die viel Bana-na-na in der Gegend lassen.

Ich bin jetzt einer von denen.

Anderer Männer Gattinnen treffen sich nachmittags mit ihren Freundinnen zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und blicken auf ihr Leben zurück.

Meine Gattin trifft sich nachmittags mit ihrer Freundin M. zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und macht Pläne.

So bin ich in diesen Bus gekommen.

Denn M. hatte meiner Gattin erzählt: Der fährt toootaaal günstig nach Iguazú. Dauert nur 18 Stunden. 1500 Kilometer. Alles organisiert. Pauschalreise. Alle Naturwunder inbegriffen. Unterkunft auch. Ab!so!lu!tes! A!ben!teuer!. Spo!ttend!billig! Sagte M., und nippte an ihrem Tee. Bu!che! ich! Sagte meine Gattin. Und nippte an meiner Kreditkarte.

Im Reisebus. Das zweigeschossige Monster, das wir im Busbahnhof Retiro besteigen, flößt sofort Vertrauen ein: Wie eine überdimensionale, dreiachsige Ameise, gesteuert vom kleinen & kettenrauchenden Carlitos und einem, der aussieht wie Hulk Hogan, aber »Rubén« genannt werden möchte. Mit den Jungs könnten wir in der langen Nacht der argentinischen (Hat eben jemand »Autobahn« gedacht?? Haha! Naivling! Oder Regierungsanhänger?) Landstraße bestehen. Gegen die dahinstürmenden 40-Tonnen-Trucks und die Rinder, die auf der Piste gerne mal ein Päuschen machen, hat ein normales Auto eher keine Chance.

Der Bus mäandert durch Buenos Aires. Wir laden ein:

  • in Tres de Febrero die rüstige Marta, wachshäutig, blond und hochtoupiert, mit einem Konzertabo für’s Colón
  • in Ciudadela zwei junge Frauen im Racing-Trikot, die aussehen, als würden sie zum Frühstück eine frisch gepresste Kuh nehmen
  • in Morón den dicken Miguel, der es am Herz hat, seine Frau und deren Schwester.

Am Ende sind wir 34. Argentinische clase media, wie man so sagt. Von allen guten Geistern und der Regierung verlassen, von den Finanzbehörden und der Inflation verfolgt. Aber jetzt ist WochenJahresurlaub. Keine Politik!

Nordwärts, gegen Abend. Durch diese unendlich weite Pampa. Links legt sich die Sonne auf eine Wolke, der es unten rot raustropft.

Sunset Pampa

Der Bus ist ein coche cama. Auf Deutsch: Bettauto. Das ist sowas wie Business Class auf Rädern. Ziemlich bequem. Und nachher gibt es Filme. Und Bier habe ich auch reingeschmuggelt! Ha! Die in der Sitzreihe hinter uns heißen Cristina & Hugo. Sie hält mich für einen Nerd, weil ich noch vor der Stadtgrenze den Schalter für ihre Leselampe gefunden habe. Er hält mich für nicht ausgelastet. Wenn der wüßte … N paar hübsche Mädels an Bord, die mit Mutti reisen, aber ohne Papa. Schwiegersohnsuche im Dschungel? Die mit der großen Nase wird es schwer haben: Redet wie ein … nun ja: Wasserfall. Sehr kommunikativ. Ein Radio mit Riesennase, sozusagen.

Wegdösen. Das gleichmäßige Bamm-Ba-Bamm, wenn der Dreiachser durch’s nächste Schlagloch kracht. Dazu das SchrappSchrappSchrapp der ausgerissenen Achsgelenkmanschette vorne rechts . So eine … boahwiemüde … Pauschalreise … sss … ga’nich … unangenehm … schnarch … einschlaf …

ALARMESGEHTLOSINDENSCHÜTZENGRABENDIERUSSEN

KOMMENWAAA,NEIEEEEEN!!!!!!!

»Señoras y Señores, hola! hola! hola! gente«: Hier spricht ihre Reiseleiterin: Aldana (Echt jetzt! Ohne »i«!).

Aldana gibt Anweisungen. In charmantem Argentinisch, übrigens. Kommt nicht oft vor, dass ich sowas sage! Schöne Stimme. Bisschen laut, vielleicht. Inhaltlich wie die Mähdrescher-Kommandantin einer nordkoreanischen Kolchose: »Immer schön zusammenbleiben! Wir sind eine Gruppe! Keine Extratouren! Wenn Gott will, kommen wir an! Mor!gen! früh! Ihr seid hier nicht zum Ausruhen! Wir machen keine Pausen! Wir machen ›paradas tecnicas‹ − technische Stops! Ihr werdet Welt!wun!der! seh!en! Auf dem Bus-Klo: Nur pinkeln! Pipi unten! Popo draußen! Ver!stan!den?« (Sie macht den Eindruck, als würde sie das kontrollieren). Dann verteilt sie das Abendessen: Auch das ist irgendwie nordkoreanisch.

Schickt China etwa keine Kredite mehr nach Argentinien?

 

In der nächsten Folge:

  • wie das Radio mit der Riesennase plötzlich Angst bekommt
  • wie der dicke Miguel der Reiseführerin einen Wasserfall über den Kopf kippt
  • und wie der alte Juan seine Frau beim Bier besiegt

Ein Herzensargentinier im Exil (1): Mein Name sei Gandalf

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Herr T. hat ein Jahr in Argentinien gelebt. Der Leser des Argentinischen Tagebuchs kennt ihn vor allem als nervenstarken Reisebegleiter nach Chile und Bolivien. Heute vor einem Jahr landete er wieder in Deutschland.

Herr T. in Santiago de Chile

Herr T. auf dem Cerro San Cristóbal, dem Hügel über Santiago de Chile (Dezember 2012)

♦♦♦♦♦

Mit diesem Text wird es offiziell: Ich bin ein Exilant. Fernab der emotional neugewählten Heimat, schreibe ich diese Zeilen voller Sehnsucht nach meinem Land. Ganze 333 Tage habe ich dort verbracht, und fort wollte ich schon nach 33 nicht mehr. Man kann zwar von Wein, Fleisch und nächtlichen Ausschweifungen durchaus leben, mitunter sogar ausgezeichnet, muss sie aber auch bezahlen können. So drücke ich nun wieder in Deutschland die Schulbank und verharre in Studierzimmern, um mich eines Tages als Magister zu betiteln. Und zurückzukehren.

Bis dahin versuche ich, mir Argentinier nahe zu halten. Fotos schmücken meine Regale, ein Baby-Lama bewacht mein Kopfkissen, eine weiß-himmelblaue Flagge mit der Sonne weht über meiner Tür, und ein Malbec steht in der hintersten Ecke meines Schreibtisches. Ich habe noch nicht gewagt, ihn zu öffnen.

Selbst nicht eingeweihte Gäste sollten bei der Reizüberflutung sofort erkennen, dass ich in Südamerika war. Zwar ist das Reisen auf andere Kontinente längst ein Statussymbol meiner Generation geworden, mit dem jeder Zweite prahlen kann. Aber ich bemühe mich dennoch gleichzeitig cool und voller Glück zu klingen, wenn ich sage: »Ja, ich habe dort unten ein Jahr gelebt.«

In der Universität falle ich auf. Chronisch zu spät kommend, da ich der Gewohnheit folge, einfach zum Bus zu gehen, wenn ich so weit bin, anstatt dann zu gehen, wenn er fährt. In Argentinien wusste ich nie, ob ich den Bus gerade verpasst hatte, oder ob er in der nächsten Minute kommt. In Deutschland weiß ich das. Und bin natürlich sofort frustriert, wenn er nicht pünktlich ist. In den Seminaren werde ich für meinen Mate angestarrt. Die Verbindung zwischen meinem heißem Tee – aua! Zunge verbrannt – und dem Modegetränk aus den deutschen Clubs und Universitätsmensen können nur wenige herstellen. Es verwundert daher nicht, dass ich recht exotisch wirke, wenn ich konzentriert schauend oder zumindest konzentriert tuend Referaten lausche und dabei schlürfe. »Du bist wie Gandalf!«, heißt es von einer Kommilitonin. Es gelingt einem richtigen Argentinier sehr selten, seine Großartigkeit zu verbergen.

Herr T. im Salar de Uyuni (Bolivien), der größten Salzwüste der Welt (Februar 2013)

Auch im sozialen Leben ecke ich an. Der beste Wein der Welt, den ich anfangs für gemütliche Runden beisteuerte, wurde von den Freunden zwar probiert − abgestürzt sind sie aber dann doch lieber mit Bier. Bei der Weltmeisterschaft störte sich niemand an meiner Unterstützung Argentiniens. Erst als die Niederlande verloren hatten und das Finale feststand, kamen die Fragen.

»Für wen bist du denn?«

»Na, für beide.« Zwei Kammern eines Herzens.

Als Mario Götze das Tor schoss, rief ich »Ja!«, begriff, rief »Nein!«, begriff abermals, erntete Blicke und flüsterte: »Vielleicht.«

Argentinien hatte verloren, doch wenigstens wusste Deutschland wieder, dass es uns gibt. Da sich mein Leben tatsächlich ein Jahr lang um und innerhalb Südamerikas drehte, nervte ich wohl viele meiner Freunde. Wahrscheinlich war ich tatsächlich schwer erträglich mitunter. Wenn auch der siebte Satz mit »Als ich in Argentinien war …« beginnt, stößt Toleranz an Grenzen. Mein Vater gab mir einen Rat: »Du wirst viel zu erzählen haben, aber keiner wird es hören wollen.« Er selbst verbrachte lange Zeit im feindlichen inselstehlenden Königreich. Ganz egal, wo er gewesen ist: Er hat Recht.

Meine Rückkehr war seltsam. Nach dem Lärm und der Größe von Buenos Aires, war mein kleines Dörfchen mit gerade einmal 300 Einwohnern so winzig und so still. Argentinier – per Skype zugeschaltet – konnten mir gar nicht glauben, dass es keine Bars gibt, es auf den Straßen ungefährlich ist und vor allem, dass nach Mitternacht die Laternen ausgehen. Schnell fiel mir die Decke auf den Kopf. Mit einem neuen Studienplatz im Ausblick, packte ich meine Sachen. Doch es reichte nicht. Eine neue Reise kam dazu: London wird es sein. Der Alltag sollte mich noch nicht so schnell wieder haben.

Fortsetzung folgt

Die Nach-WM-Blues-Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

CW. Ich fliege dann mal für ein paar Wochen nach Deutschland, ja? Mit Familie.

MC. Das ist böse! Was soll ich denn jetzt machen? Ohne WM? Und ohne Deine unqualifizierten Kommentare? Noch nicht mal argentinischen Fußball gibt’s. Das wird blöd.

CW. Ich falle ja mit Dir in ein tiefes schwarzes Loch.

MC. Doch eher in ein weiß-himmelblaues! Aber nur, wenn Du Dein Argentinientrikot inzwischen gewaschen hast.

Trikothund

CW. Das Leben ist für die nächsten vier Jahre vollkommen sinnlos. Vier! Jahre! Mindestens. Eher mehr. Denn WM 2018 in Russland wird schlimm. Katar 2022 auch. Also 2026!

MC. Ecuador, Peru und Kolumbien wollen die WM ja angeblich gemeinsam machen. Dann sind wir wieder am Start!

CW. Danü kann schon mal ein Logo fürs WM-Tagebuch entwerfen.

MC. Da dann Opa Klose immer noch der einzige echte deutsche Stürmer sein wird, verlange ich, dass er grafisch besonders gewürdigt wird! Zumal er voraussichtlich sein 25. WM-Tor schießen wird. Und Fifa-Chef Sepp ist dann, lass mich rechnen, Jahrgang 1936, neunzig. Der gehört selbstverständlich in einen Rollstuhl! Mit Brillanten auf den Speichen! Nur der kleine Vizeweltmeister da rechts – der wird durch den kleinen Weltmeister-Kapitän ersetzt!

CW. Wir könnten 2025 vielleicht schon mal eine Komödie raushauen.

MC. Auch Pablo sollte jetzt schon wissen, dass er die Eintrittskarten fürs letzte Testspiel besorgen muss. Nicht, dass das wieder so eine Zitterpartie wird.

CW. Pablo treffen wir sowieso im Loch, glaube ich.

MC. Oh je, mit zwei argentinischen Vizeweltmeistern im Loch, ich weiß ja nicht. Da bluten mir die Ohren, weil jeder dem anderen dauernd erzählt, warum Ihr diesmal verloren habt. Schiri?

CW. Die blauen Trikots!

Besser als Zirkus Messi

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wenn ich jetzt, vier Stunden nach dem Abpfiff, gefragt würde, was mir von dieser Weltmeisterschaft in Erinnerung bliebe, wäre es ein Foto. Ein Foto, das an 1954 denken lässt, als sich die Deutschen in Kneipen und davor versammelten, um gemeinsam das Finale gegen Ungarn zu gucken. So war es gestern Nachmittag auch in Buenos Aires. Schon zwei Stunden vor dem Spiel gab es in den Restaurants, Bars und Cafés keine freien Plätze mehr – und wenn die argentinische Hauptstadt von irgendetwas genug hat, dann sind es Restaurants, Bars und Cafés. Die Leute standen draußen, eine Traube von Menschen, die versuchten, etwas von diesem Finale gegen Alemania zu sehen.

Finale im Café

»Es ist noch nie so leicht gewesen wie dieses Mal, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen«, hatte mir vor zwei Wochen ein Argentinier gesagt. Er hatte wohl recht: Spanien, Italien und Brasilien, drei glorreiche Fußballnationen, drei schlechte Mannschaften. Wahrscheinlich hat es noch nie eine brasilianische Auswahl gegeben wie diese von 2014: technisch unbegabt, ideenlos, nur auf Körperlichkeit setzend. Aus Afrika und Asien kam gar nichts. Selbst Holland, der Halbfinalist, spielte im Grunde biedersten Betonfußball.

Gewiss, auch Argentinien hat selten – wahrscheinlich bis gestern Abend: gar nicht – geglänzt. Aber diese Mannschaft hatte Charakter. Und Würde. Die Leute im Land spürten: Sie kann nicht immer, wie sie will. Argentinien hat keine goldene Fußballgeneration wie Deutschland, ist aber als Team wohl noch nie so stark aufgetreten wie 2014. Es war gerade nicht der Zirkus Messi, der in Brasilien gastierte. Der Kapitän hatte natürlich auch nicht die Form, um den Soloartisten zu geben.

Deutschland war die beste Mannschaft. Die tollen Spiele sind ihr freilich auch nur gegen unterirdische Gegner – erst Portugal, dann Brasilien – gelungen. Argentinien hätte es verdient gehabt, das Finale zu gewinnen. Nicht das Turnier. Aber die 120 Minuten von Río de Janeiro. Es ist schade, dass die Spieler diese vielleicht einmalige Chance nicht genutzt haben.

Der Ticker zum WM-Finale: Dem Diego Maradona su Wetter

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonnabend, 12. Juli, 10.30 Uhr

CW Buenas! Cómo andan, gente? Wir melden uns aus Buenos Aires und haben Großes vor, vielleicht auch nur Kleines, aber das würden wir niemals zugeben. Marc Koch und ich versprechen beim Heiligen aller Zauberkünstler, Diego Maradona, die Zeit bis zum Finale der Weltmeisterschaft halbwegs sinnvoll zu verplempern. Vor allem wollen wir uns selbst ablenken – von Langeweile und innerer Unruhe. Hätten wir einen Redaktionsbus, stünde draußen drauf die Parole: »13. Juli 2014 – Maracanã – Bereit wie nie. – Kann man das Finale einen Tag vorziehen?«

Es lohnt sich, heute und morgen immer mal wieder hier vorbeizuschauen. Wir werden tickern, was wir hören, sehen, lesen und erleben. Applaus, Lob und Blumen, Werbeverträge, Kuscheltiere, Telefonnummern und Heiratsanträge sind erwünscht. Fragen, Kritik und Kommentare natürlich auch. Nicht alles wird uns gelingen. Aber mehr über Argentinien vor dem Finale als hier erfahren Sie bei ARD und ZDF ja auch nicht. Jedenfalls habe ich aufgeschnappt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen doch sehr auf die deutsche Elf konzentrieren.

 

 

Blick auf die Uhr, das rechnen wir jetzt schnell im Kopf aus, ¡vamos!, ähm, tja, nein, wir nehmen doch besser die Finger zu Hilfe: noch 24 plus eins, zwei, drei, vier, fünf, fünfeinhalb Stunden. Also 29einhalb Stunden bis zum Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien.

11.15

CW. Ich schnuppere gerade an meinem Argentinientrikot. Gegen Bosnien am 15. Juno hatte ich es zum ersten Mal an, danach bei jedem anderen Spiel meiner Lieblinge. Sechsmal. Gewaschen wurde es in den vergangenen vier Wochen natürlich nicht, wir Argentinier sind ja abergläubisch. Sollte ich mir morgen vielleicht ein Duftbäumchen (Vanille oder Flieder) umhängen? Ja, sagt die Nase, unbedingt.

11.46

CW. Meine Familie ist übrigens gespalten. Die Frau hält zu Deutschland, der Achtjährige wohl auch, Argentinien ist nur seine zweitliebste Mannschaft. Vielleicht schaffe ich es aber noch, ihn umzudrehen, er wackelt, und ich kann gut verunsichern. Noch am Mittwoch nach dem Halbfinale gegen Holland hatte er auf dem Heimweg verkündet, im Endspiel beiden Teams die Daumen zu drücken. Kinder, pffffff, also wirklich. Am nächsten Tag war er dann wieder bei Deutschland; der aktuelle Stand ist: Er kann auch mit dem Weltmeister Argentinien einigermaßen leben.

Wo steckt eigentlich mein Kollege? Er sollte mich ja irgendwann ablösen, weil ich jetzt ein paar Stunden mit den Kindern unterwegs bin. Wir arbeiten im Schichtbetrieb. Das hat zum einen zeitökonomische Gründe. Zum anderen haben wir nach vier Wochen WM Lagerkoller. Der eine will dem anderen nur begegnen, wenn es unbedingt sein muss. Ich bin letzte Nacht über den Zaun geklettert und habe in der Stadt einen draufgemacht.

Unser Deutscher hat sich wahrscheinlich in der Toilette eingeschlossen. Seine Angst vor Argentinien ist gewaltig, aber psssssssst.

12.40

MC. Haha! Der Chefreporter hier! Kürzel: MC! Lustig, der Herausgeber, oder!? Geht Angstshoppen! Steht also in diesem Hypermarkt in unserem Viertel. Sein kleiner Sohn muss den Einkaufskarren mit Tiefkühlpizza und Quilmes beladen. Währenddessen steht CW vor der Sonderfläche mit weiß-himmelblauen Fanartikeln und überlegt sich, wie er seiner Frau beibringen soll, dass er schon wieder einen Haufen Pesos für den Plunder ausgegeben hat, der am Montag von bolivianischen Altplastikhändlern eingesammelt wird.

13.09

MC. Typisch wieder: Seit Monaten erzählt CW, dass »wir«(also: »er«. Also die Argentinier) Weltmeister werden. Und jetzt, keine 36 Stunden vor dem Finale, geht er EINKAUFEN! Macht sich aus dem Staub. Und ich wieder Sonderschicht. Ohne Bezahlung. Das Honorar geht wahrscheinlich wieder an die im Liegen bloggenden Edelfedern. Dabei zeigt ihm das argentinische Mittelfeldchefchen Mascherano doch, wie man seinen Mann steht: Dem gibt man ne Knarre, und er holt die Malwinen Falklands alleine zurück!

13.15

MC. Immerhin steht CW zu seiner Albiceleste in guten und in schlechten Zeiten. Kann man nicht von allen behaupten: Die hiesige Regierung schickt keinen Repräsentanten zum Finale. Sie wollen ihnen kein Pech bringen. Und so richtig mit Tschingderassabum und Trommeln wird das Team am Montag nur empfangen, wenn es Weltmeister ist. Also nicht.

14.15

MC. Die Wetteraussichten für den Finalsonntag in Buenos Aires. Rudelgucker, aufgepasst: Sieht nicht gut aus. Fritz-Walter-Wetter!

14.32

MC. Vor dem Finale der Männer: Das Frauenfinale. Merkel vs. Cristina. Smokey Eyes gegen Naturlook. Uckermark gegen La Plata. Weltmeisterin gegen Vizeweltmeisterin. So oder so.

14.51

MC. Das Spiel um Platz 3. #NEDBRA. Wird zwei, drei Stunden später angepfiffen: Die Brasilianer müssen noch ihr Tor aufräumen.

Das brasilianische Tor

15.20

MC. Alter, CW hat sie nicht mehr alle! Weil sie auf der Sonderverkaufsfläche im Hypermarkt seines Vertrauens kein Mascherano-Trikot in XXL hatten (seit er mehr Fußball guckt als spielt, hat er zugenommen!), ist er jetzt extra nach Caballito gerammelt. Das ist ein Stadtteil. Und dort, im Parque Rivadavia, gibt es noch Fanartikel. Sicher hat er wieder in die Haushaltskasse gegriffen, während seine Gattin ihre wohlverdiente Siesta gehalten hat.

parque rivadavia 2

MC. Dabei gibt es in diesem Park ausnehmend schöne Statuen zu sehen. Aber für sowas hat ein argentinischer Fußballfan ja kein Auge…

Parque Rivadavia

15.58

MC. In Buenos Aires schüttet es in Strömen, gleich wird dann doch #NEDBRA angepfiffen, verhaltensauffällige junge Argentinier hupen und tröten auf der Straße rum. Da muss ich, vor meinem brabbelnden Kamin, doch gleich an den großen Eric Meiijer denken und den jungen Leuten da unten (und CW natürlich auch!) zurufen: »Nichts ist scheißer als Platz 2!«

16.06

MC. Doch. Arjen Robben fällt ein, dass es doch noch was Scheißeres als Platz 2 gibt. Gleich mehr dazu aus Brasilia…

16.21

CW. Mann, Mann, Mann, sieht das hier aus. Da gibt man dem Chefreporter die Schlüssel und muss hinterher erst mal aufräumen. Hässliche Anführungsstriche. Kleine Bilder. Falsch positionierte Kürzel. Ans Telefon geht er natürlich nicht. Bin gleich wieder da.

16.27

CW. Nichts als Ausreden. Schlimmer als jeder Argentinier. Na ja, Journalist.

Auch interessant: was man erfährt, wenn man mit dem Sohn im Auto unterwegs ist. Die Familie hat doch heute Morgen unsere zwei Meerschweinchen zu Freunden gebracht, weil wir ja am Montag für ein paar Wochen nach Deutschland fliegen. Ja, gleich am Montag, zu diesem Thema kommen wir später. Jedenfalls berichtete der Achtjährige, wie sich seine Mama und die Mama seines Schulfreundes gemeinsam über die Väter ihrer Söhne aufgeregt hätten. Weil die – also wir, Jorge und ich – seit Wochen nix anderes als Fußball im Kopf haben.

»Mama ist froh, wenn die WM morgen vorbei ist. Und die Mama von Facu auch.«

»Deine Mama weiß aber nicht, dass ich eine Woche sehr traurig sein werde, falls Argentinien verliert. Und wenn Argentinien gewinnt: das restliche Leben sehr glücklich. Dann werde ich mir ab und zu frei nehmen, um übers Wasser zu laufen.«

»Übers Wasser kann man nicht laufen, Papa.«

»Ein Argentinier dann schon.«

 16.45

CW.  Apropos Mascherano: Der dementiert heute in Olé, Argentiniens großer Sportzeitung. »Ich bin nicht Rambo«, sagt er im InterviewSan Martín will er auch nicht sein. Hübsche Analogie. Nordamerikanischer Befreiungskämpfer mit fünf Buchstaben? Rambo.

Rambo MasChe

17.20

CW. Mascherano ist laut Olé übrigens nicht der beste Spieler des Turniers. Sein Olé-Notendurchschnitt: 7,5 (von 10). Hier die Noten der anderen Spieler, die die Fifa nominiert hat:

  • Robben: 8,2
  • James Rodriguez: 7,9
  • Thomas Müller: 7,4
  • Mats Hummels: 7,1
  • Toni Kroos und Philipp Lahm: 7,0
  • Neymar: 6,7.
  • Messi ist nominiert, aber seine Note finde ich nicht in der Zeitung. Wahrscheinlich: 12,9.

17.31

CW. Der Chefreporter guckt das Spiel um Platz 3 und fragt per Mail: »Ist Heulen eigentlich eine brasilianische Kulturtechnik?«

17.43

CW. Wenn uns jemand von einem Boten zweimal 120 000 Peso (in großen Scheinen!) vorbeibringen ließe, könnten wir noch schnell nach Río de Janeiro düsen. So viel, umgerechnet 11 000 Euro, soll ein Finalticket auf dem Schwarzmarkt maximal kosten. Wir würden natürlich hart verhandeln und uns auch mit Kurve begnügen. Unsere Spesenabrechnung reichen wir nächste Woche nach.

17.45

CW. Wir warten.

17.55 CW. Und wer mir eine echte Freude machen will, der kaufe bitte diesen hübschen Sessel zum Schnäppchenpreis von 2300 Peso:

Sessel

Hoppla, soeben fällt mir ein, dass ich ja versprochen habe, mich tätowieren zu lassen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Glatze obendrein, behauptet mein Sohn. ¡Vamos Alemania, carajo!

18.03

CW.  Die Deutschen greifen aber auch zu allen Mitteln. Gerade habe ich die Frau dabei ertappt, wie sie Sohnemanns weiß-himmelblauen Trainingsanzug in die Waschmaschine stecken wollte. Der hat uns doch so viel Glück gebracht am Mittwoch im Elfmeterschießen. Ich frage mich, wie es die Frau geschafft hat, dass er das Ding auszieht. Er war damit zwei Tage in der Schule, er schläft darin, ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zwei zusammen baden.

1.03

CW. Rätselhafter Satz in der Süddeutschen Zeitung: »Der Mann mit der Alfredo-Di-Stéfano-Gedächtnisfrisur ist der heimliche Chef in der argentinischen Kabine, was auch daran liegen könnte, dass er vergleichsweise unfallfrei spricht.«

Ich frage mal den Chefreporter, was das heißen soll.

»Meinen sie Dich? Oder den Trainer?«

Nein, Pablo Zabaleta. Die Unverzichtbarkeit des Rechtsverteidigers hat sich mir in sechs Partien nicht erschlossen. Ein paar Mal habe ich sogar schon nach zehn Minuten seine Auswechslung gefordert.

Ich mache für heute mal das Licht aus.

*****

Sonntag, 13. Juli 2014

7.51 Uhr

CW. Buenas! Todo tranquilo? Seit gestern regnet es in Buenos Aires, aber der Morgenkaffee hat weniger bitter geschmeckt als sonst. Ein guter Tag wird das! ¡Vamos Argentina, carajo!

»Todo depende de Messi«, hatte es vor dem Turnier in Argentinien geheißen, von Messi hängt alles ab. Und weil wir aus tiefer Bewunderung Argentiniern alles nachplappern, stand der Satz auch bei uns. Und es stimmte doch: In der Vorrunde schoss der Kapitän Tore und führte seine Mannschaft zum Gruppensieg. Mittlerweile aber überzeugt das Kollektiv. Der Schriftsteller und Fußballpoet Eduardo Sacheri (den wir selbstverständlich bewundern und lesen und dann wieder bewundern usw. usf.), Sacheri sagt heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Argentiniern sei »das Teamdenken schon immer schwergefallen: Als Gesellschaft sind wir individualistisch, chaotisch und ziemlich undiszipliniert. Und so spielen wir auch Fußball«. Im Verlaufe des Turnier allerdings habe sich die Albiceleste jedoch erstaunlich entwickelt. »Unser neuer Stil ist solidarisch, geordnet, geduldig.«

Sacheri tippt übrigens – ich sage doch: guter Mann – auf Sieg ohne Elfmeterschießen. Plappern wir gleich nach.

Und Ihr? Geht’s rein und lest’s Sacheri. Seinen Roman »Papeles en el viento« gibt es – wir sind schlauer als Wikipedia – seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch. Titel: »Vier Jungs auf einem Foto«. Eine herrlich absurde Geschichte.

8.07

CW. Vielleicht verdeutlicht das ein bisschen den Stellenwert, den der Fußball in Argentinien hat: Supermärkte sind hierzulande das ganze Jahr über geöffnet, auch an den beiden Nationalfeiertagen (25. Mai und 9. Juli), auch an Weihnachten und Ostern. Heute schließen sie um 13 Uhr unserer Zeit, drei Stunden vor dem Anpfiff des Endspiels. Dann werden auch wir hier einpacken und aufbrechen in Richtung Obelisk. Dort irgendwo versuchen wir dann, einen Tisch zu blockieren. Im Café habe ich neulich mit meinem Sohn das Elfmeterschießen gegen Holland gewonnen, davon können wir jetzt nicht mehr abweichen. Man muss nur früh genug da sein; denn das Café ist einer der Orte, an denen sich der Argentinier besonders wohl fühlt.

Halbfinale 7

Um sieben, halb acht – kein Elfmeterschießen, nein – strömen wir hinaus auf die Avenida 9 de Julio, die breiteste der Welt, und feiern mit Hunderttausenden, nein, wahrscheinlich zwei bis drei Millionen, den dritten Weltmeistertitel.

Ein guter Plan.

8.19

CW. Falls Sie den Chefreporter vermissen: Der hat sich im Abschlusstraining den Zeigefinger gezerrt und will sich nicht fitspritzen lassen. Der ist heute rund um die Uhr für die Deutsche Welle im Einsatz. Ich soll ganz lieb grüßen.

8.40

La Nación, die zweitgrößte Zeitung des Landes, hat den Argentiniern einige der unheimlich witzigen Fantasie-Schlagzeilen von Deutschlands größtem Hetz- und Dreckblatt übersetzt. »Franziskus tritt aus Scham zurück« – »El papa Francisco abdica de la vergüenza«.  Unter dem Text kommentiert einer: »Die Deutschen machen sichere Pläne – und Gott lacht hinter ihrem Rücken. Sie wissen, wie viele Äpfel am Baum hängen. Aber nur Gott weiß, wie viele Äpfel ein Saatkorn gibt.«

9.20

CW. Wenn wir Weltmeister werden, wird es sehrsehrsehr bitter: Am Montag landet die Mannschaft in Buenos Aires, und ich hebe nach Europa ab. Der jährliche Sommerurlaub. Ich hatte schon vor einem Jahr am Esstisch verkündet: »Ich will die WM in Argentinien erleben! Wir fliegen nach dem Endspiel! Argentinien wird Weltmeister!«

So wurde Montag, der Tag nach der WM, gebucht. Vielleicht hätte ich dazusagen sollen: Ein Land feiert so einen Titel und empfängt seine Helden.

Wie es feiern wird! Am Obelisken und überall! Und ich sitze im Flugzeug nach Amsterdam.

9.27

CW. Genial.

 

9.40

CW. Frage an die Experten: Was machen diese Leute hier in Buenos Aires?

Panini-Tausch

Antwort: Sie tauschen Paninibilder.

Zehn Schritte weiter habe ich mich gestern noch abergläubisch verstärkt und für umgerechnet drei Euro bei einem Straßenhändler diesen schönen Rosenkranz mit Papstanhänger gekauft. »Rosenkranz« heißt auf Spanisch übrigens »rosario«, ja, genau wie die drittgrößte Stadt Argentiniens, in der unter anderem Che Guevara, Leo Messi und die drei berühmten Trainer César Luis Menotti, Marcelo Bielsa und Gerardo Martino geboren … ach ja, hatten wir schon.

Rosario mit papa

9.55

CW.  Eine Mail von vorgestern aus Alemania:

Lieber Christoph!

Soeben habe ich aus der Zeitung erfahren, dass in Brasilien eine Großveranstaltung läuft, deren Sinn darin besteht, eineinhalb Stunden lang Lederkugeln in auf Holzrahmen gespannte Fischernetze zu schießen. Als ich weiter las, erfuhr ich, dass die besten zweiundzwanzig Männer aus Argentinien und Deutschland kommen, und dass in den nächsten Tagen die allerbesten elf Männer durch weitere Schüsse in die Fischernetze ermittelt werden.

Beim Lesen dachte ich sofort an Dich. Denn ich meine mich erinnern zu können, dass Du mit großer Begeisterung solche Lederkugelinsfischernetzwettkämpfe verfolgst.

Und da Du ja nun seit einiger Zeit in Argentinien bist, dachte ich, dass Du nun wohl hin und her gerissen sein musst, welcher Gruppe der Lederkugelspieler Du die meisten Schüsse in die Fischernetze wünschen sollst. So wünsche ich Dir trotz dieses Zwiespaltes einen spannenden Endkampf.

Die WM bekommt nicht nur mir nicht.

Noch sechs Stunden. ¡Vamos Argentina, carajo!

Übrigens: kein Regen mehr. Sonnenschein. Dem Diego Maradona su Wetter.

10.23

CW. Relativiert das holländische Dreinull gegen Brasiliens Zehnkampfnationalmannschaft von gestern Abend eigentlich das 7:1 der Deutschen im Halbfinale? Die Frau kam ja von diesem Spiel ganz begeistert nach Hause und fragte, ob ich schon mal dieses tolle Lied gehört hätte. Dann sang sie: »Oh, wie ist das schön.« Natürlich, das Lied wurde schon gesungen, als Uwe Seeler noch spielte. Aber wie sollte ich ihr das sagen? Den kennt sie doch gar nicht.

Wir haben auch die geileren Lieder.

 

Kurze Pause. Muss Olé kaufen.

11.25

CW. Der Oléverkäufer hier im Viertel hat mir gerade die Ohren lang gezogen, weil ich für Argentinien bin. »Patriotismus ist kein Geschäft. Man leugnet nicht sein Vaterland.« Als er nach 15 Minuten beim Wählen als demokratische Pflicht landete, musste ich wirklich los.

11.29

CW. Mein Freund Vicente, der klügste Argentinier unter 30, schickt eine SMS:

Buen día!!! Me levanté de muy buen humor. Ganamos 2:0. – Guten Tag!!! Ich bin mit sehr guter Laune aufgestanden. Wir gewinnen 2:0.

11.50

CW. Ich habe Vicente mal gefragt, welches Bild die Argentinier von Deutschen und Deutschland haben. Hier seine Antwort, die ich übersetzt habe:

Argentinische Oberschicht: hält die Deutschen für sehr gut gebildet und geschäftstüchtig; denkt bei Deutschland an die großen Denker und die bedeutende Kultur; Deutschland ist für diese Argentinier ein Vorbild, das Ideal eines Landes.

Argentinische Mittelschicht/Arbeitklasse: hält die Deutschen für pedantisch, gewissenhaft und extremst pünktlich; kennt bestimmte Marken wie Mercedes und BWM, ohne genau zu wissen, wo die hergestellt werden; verbindet mit Deutschland Strudel oder etwas anderes typisch Deutsches.

Argentinische Unterschicht: hält alle Deutschen für blond, groß und dünn; denkt bei Deutschland an Bier und neuerdings auch an Fußball.

(Hinweis von mir: In Argentinien geht man unbefangener mit dem Schichten-Begriff um.)

12.10

CW. Angestachelt von ihrer Mutter, provozieren die Kinder.

Vizeweltmeisterfahne

12.15

CW. Wie gut hat es unser Chefreporter: Der dreht schon den ganzen Tag unter Argentiniern. Ist bestimmt lustig, oder?

MC. Ja. Lustig. Die haben das Gleiche genommen wie Du. Sie glauben, sie seien Weltmeister.

12.40

CW. Wir kommen allmählich zum Schluss, ich muss los. Ich treffe mich um 14 Uhr unserer Zeit, zwei Stunden vor dem Anpfiff, mit Cristian am Obelisken. Cristian und ich sind im vergangenen Oktober mit zwei Millionen anderen Irren 70 Kilometer von Buenos Aires nach Luján gepilgert, zur Heiligen Jungfrau. Start morgens um halb elf, Ankunft kurz vor halb drei nachts. Ich wollte die Geschichte immer mal erzählen, hatte sie schon fast fertig, dann fiel ein Buch auf den Laptop und zerstörte die Festplatte. Kein Backup, natürlich nicht.

Wallfahrt 3

Wallfahrt 2  Wallfahrt

Wallfahrt 4

Mit Cristian

12.47

CW. Helge, unser Freund vom Blog Me llaman Jorge, hat an uns gedacht und einen wunderbaren Text geschickt, der auf Facebook unterwegs ist. Man kann ihn leider nicht ins Deutsche übersetzen. Es ist eine Erzählung, in der die Namen der argentinischen Nationalspieler ähnliche Wörter ersetzen. Man versteht es erstaunlicherweise trotzdem.

Hoy me desperté Mascherano q nunca, Higuaín q todos los dias, me Lavezzi la cara, me puse las Zabaleta, me preparé el mate con unas hojitas de Romero. Elegí al azar una página de la Biglia q hablaba Dimaria y del Messias, Basanta palabra!!! Me puse mi gran saco Rojo, para salir y me pareció q tenía un Agüero en la manga, Garay q susto!!! No era nada.. En la esquina estaba un Campagnaro querido q Andujar siempre en un Orion, nos desencontramos! Por telefono le dije: te pedi q mes Perez alli!!! Por suerte Rodriguez el del Maxikiosco, le hizo una seña y nos encontramos finalmente frente al Palacio. Mas tarde, café de por medio, le dije entre otras cosas: – mira; no me Gago ante los alemanes… el domingo ganamos, SABELLAAA!!!!

¡Vamos Argentina, carajo!

¡Hasta luego. ¡Nos vemos! Beso grande.

Der Mann Wese und der monotheistische Fußball

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

*****

— von Dr. S. F. Roit —

(Vorbemerkung der Redaktion: Seit Tagen beobachten wir seltsame Veränderungen an unserem Herausgeber CW. Wir haben einen der vielen Seelenklempner in Buenos Aires gebeten, sich das mal anzuschauen, und gefragt, ob es ansteckend ist. Hier ist sein Bericht.)

Dass sich der Patient ebenso gerne wie wahrheitswidrig als Argentinier bezeichnet, ließe sich immerhin dadurch erklären, dass er die hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieses liebenswerten Pampavolkes wie kein anderer in sich vereint: Er ist bescheiden, zurückhaltend, fleißig und prinzipienfest.

Beunruhigender allerdings erscheint, dass seine Hinwendung zum argentinischen Fußball, die seine Mitarbeiter und Familienmitglieder beklagen, inzwischen verhaltensauffällige Formen angenommen hat. Beispielsweise wird er nicht müde, das Halbfinale #NEDARG zu loben. Natürlich den argentinischen Anteil daran. Zur Erinnerung hier noch einmal die Höhepunkte der Partie:

 

Nein, Ihr Gerät ist nicht kaputt.

Angehörige des Patienten berichten, dass er wiederholt mit schlammigen Schuhen von unterklassigen Fußballspielen nach Hause gekommen sei. Dort habe er sich hinter die hauseigene Parrilla gekauert und seinem Sohn fremd klingende Lieder vorgesungen:

 

Schon aus diesen wenigen Indizien erhellt, dass die empfundene Zurückweisung durch den Schwiegervater (man beachte auch den Titel dieser zweifellos vom Patienten als therapeutisch erachteten Schrift!: „Drei offene Rechnungen“!!!), dieser Schwiegervater also, der, obgleich viel älter, mühelos eine Schwalbe von einem fälligen Strafstoß unterscheiden kann, nicht alleine Grund für die aktuelle Störung ist.

In seiner vielbeachteten Studie »Das Tabu des Totems als Torpfosten« (Manchester 1962) schreibt der sympathische Autor W. Rooney mitfühlend: »Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.«

Wir haben bereits an anderer Stelle nachgewiesen, dass Moses kein Argentinier, sondern Ägypter war. Und so wie Moses sich seines Bruders Aaron bedienen musste, wenn er zu den Argentiniern sprechen wollte, so muss sich der Patient heute seiner Kinder bedienen, wenn er sich mit Argentiniern verständigen möchte.

An dieser Stelle bricht der Bericht ab, der Seelenklempner musste Fanartikel fürs Finale kaufen gehen. Gerade ruft der Hausmeister im Büro an. Keine Heizung bis zum Tag nach dem Finale, schafft er nicht mehr. Ist ja auch nur Juli. Aber Weltmeister werden wollen. Der Herausgeber CW schaut sein argentinisches Lieblingsspiel auf DVD. Seine Augen leuchten wie die Fenster brennender Irrenhäuser. Fußball ist schön.

*****

Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)