Posts Tagged ‘Albiceleste’

Besser als Zirkus Messi

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wenn ich jetzt, vier Stunden nach dem Abpfiff, gefragt würde, was mir von dieser Weltmeisterschaft in Erinnerung bliebe, wäre es ein Foto. Ein Foto, das an 1954 denken lässt, als sich die Deutschen in Kneipen und davor versammelten, um gemeinsam das Finale gegen Ungarn zu gucken. So war es gestern Nachmittag auch in Buenos Aires. Schon zwei Stunden vor dem Spiel gab es in den Restaurants, Bars und Cafés keine freien Plätze mehr – und wenn die argentinische Hauptstadt von irgendetwas genug hat, dann sind es Restaurants, Bars und Cafés. Die Leute standen draußen, eine Traube von Menschen, die versuchten, etwas von diesem Finale gegen Alemania zu sehen.

Finale im Café

»Es ist noch nie so leicht gewesen wie dieses Mal, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen«, hatte mir vor zwei Wochen ein Argentinier gesagt. Er hatte wohl recht: Spanien, Italien und Brasilien, drei glorreiche Fußballnationen, drei schlechte Mannschaften. Wahrscheinlich hat es noch nie eine brasilianische Auswahl gegeben wie diese von 2014: technisch unbegabt, ideenlos, nur auf Körperlichkeit setzend. Aus Afrika und Asien kam gar nichts. Selbst Holland, der Halbfinalist, spielte im Grunde biedersten Betonfußball.

Gewiss, auch Argentinien hat selten – wahrscheinlich bis gestern Abend: gar nicht – geglänzt. Aber diese Mannschaft hatte Charakter. Und Würde. Die Leute im Land spürten: Sie kann nicht immer, wie sie will. Argentinien hat keine goldene Fußballgeneration wie Deutschland, ist aber als Team wohl noch nie so stark aufgetreten wie 2014. Es war gerade nicht der Zirkus Messi, der in Brasilien gastierte. Der Kapitän hatte natürlich auch nicht die Form, um den Soloartisten zu geben.

Deutschland war die beste Mannschaft. Die tollen Spiele sind ihr freilich auch nur gegen unterirdische Gegner – erst Portugal, dann Brasilien – gelungen. Argentinien hätte es verdient gehabt, das Finale zu gewinnen. Nicht das Turnier. Aber die 120 Minuten von Río de Janeiro. Es ist schade, dass die Spieler diese vielleicht einmalige Chance nicht genutzt haben.

Der Mann Wese und der monotheistische Fußball

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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— von Dr. S. F. Roit —

(Vorbemerkung der Redaktion: Seit Tagen beobachten wir seltsame Veränderungen an unserem Herausgeber CW. Wir haben einen der vielen Seelenklempner in Buenos Aires gebeten, sich das mal anzuschauen, und gefragt, ob es ansteckend ist. Hier ist sein Bericht.)

Dass sich der Patient ebenso gerne wie wahrheitswidrig als Argentinier bezeichnet, ließe sich immerhin dadurch erklären, dass er die hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieses liebenswerten Pampavolkes wie kein anderer in sich vereint: Er ist bescheiden, zurückhaltend, fleißig und prinzipienfest.

Beunruhigender allerdings erscheint, dass seine Hinwendung zum argentinischen Fußball, die seine Mitarbeiter und Familienmitglieder beklagen, inzwischen verhaltensauffällige Formen angenommen hat. Beispielsweise wird er nicht müde, das Halbfinale #NEDARG zu loben. Natürlich den argentinischen Anteil daran. Zur Erinnerung hier noch einmal die Höhepunkte der Partie:

 

Nein, Ihr Gerät ist nicht kaputt.

Angehörige des Patienten berichten, dass er wiederholt mit schlammigen Schuhen von unterklassigen Fußballspielen nach Hause gekommen sei. Dort habe er sich hinter die hauseigene Parrilla gekauert und seinem Sohn fremd klingende Lieder vorgesungen:

 

Schon aus diesen wenigen Indizien erhellt, dass die empfundene Zurückweisung durch den Schwiegervater (man beachte auch den Titel dieser zweifellos vom Patienten als therapeutisch erachteten Schrift!: „Drei offene Rechnungen“!!!), dieser Schwiegervater also, der, obgleich viel älter, mühelos eine Schwalbe von einem fälligen Strafstoß unterscheiden kann, nicht alleine Grund für die aktuelle Störung ist.

In seiner vielbeachteten Studie »Das Tabu des Totems als Torpfosten« (Manchester 1962) schreibt der sympathische Autor W. Rooney mitfühlend: »Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.«

Wir haben bereits an anderer Stelle nachgewiesen, dass Moses kein Argentinier, sondern Ägypter war. Und so wie Moses sich seines Bruders Aaron bedienen musste, wenn er zu den Argentiniern sprechen wollte, so muss sich der Patient heute seiner Kinder bedienen, wenn er sich mit Argentiniern verständigen möchte.

An dieser Stelle bricht der Bericht ab, der Seelenklempner musste Fanartikel fürs Finale kaufen gehen. Gerade ruft der Hausmeister im Büro an. Keine Heizung bis zum Tag nach dem Finale, schafft er nicht mehr. Ist ja auch nur Juli. Aber Weltmeister werden wollen. Der Herausgeber CW schaut sein argentinisches Lieblingsspiel auf DVD. Seine Augen leuchten wie die Fenster brennender Irrenhäuser. Fußball ist schön.

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Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Warum Argentinien Weltmeister werden soll, werden muss und werden wird (wenn nichts dazwischenkommt)

von CHRISTOPH WESEMANN

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  • Argentinien ist die einzige Mannschaft des Turniers, die bisher alle Spiele gewonnen hat.
  • Die WM 2014 ist argentinisch: Die Trainer von Kolumbien, Chile und Costa Rica kommen aus Argentinien. Das Freistoßspray, das die Welt verblüfft, weil die Mauer schnell steht, hat natürlich auch ein Argentinier erfunden. Es wird bei uns schon seit 2008 benutzt.
  • Argentinien ist sowieso eine große Entdeckernation. Der Kugelschreiber! László József Bíró war zwar Ungar und hat den Stift in Budapest entwickelt, ist aber später vor den Nazis in seiner Heimat nach Argentinien geflohen. Ihm zu Ehren nennen wir den Kugelschreiber nicht »bolígrafo«, wie die Spanier, sondern »birome«. Bírós Geburtstag, der 29. April, ist der »Tag der Erfinder«. Aber bei uns hat jeder Depp und jeder Narrenverein, ja sogar der Hund, einen Ehrentag. Außerdem haben Argentinier der Menschheit ganz viele andere Sachen geschenkt, zum Beispiel Dulce de leche (das außer uns keiner mag), Alfajores (die ein Nicht-Argentinier nach zwei Wochen nicht mehr sehen kann) und … ähm … ganz viele andere Sachen. Meistens entdecken wir Dinosaurier. Aber die waren dann auch die größten der Welt.
  • Ich höre gerade über meine Kopfhörer, dass Costa Ricas Trainer Kolumbianer ist. Das erklärt die Niederlage im Viertelfinale gegen Holland.
  • Argentinien hat den besten zwölften Mann der Welt: Papst Franziskus.
  • Ezequiel Lavezzi, genannt El Pocho, ist der heißeste Spieler des Turniers. Sagen unsere Frauen. Die Facebookseite der sogenannten »Bewegung, damit El Pocho Lavezzi ohne Trikot spielt« hat mehr als 384 000 Fans. Ein Hashtag auf Twitter heißt #quehariasconlavezzi – was würdest du mit Lavezzi anstellen.
  • Noch mal El Pocho: Lavezzi ist auch der frechste Spieler. Er hat beim Spiel gegen Nigeria seinen Trainer Alejando Sabella mit einer Trinkflasche angespritzt. Chuck Norris soll vor dem Fernseher gezittert haben.

 

  • Pelé, die lebende Marionette der Reichen, Schönen und Mächtigen, ärgert sich am meisten über einen argentinischen Weltmeister.
  • Das Halbfinale wird am Nationalfeiertag gespielt, dem Día de la Independencia, Tag der Unabhängigkeit von Spanien (9. Juli 1816).
  • Unser Trainer ist kein Umfaller.

 

 

  • Argentiniens Fans singen die witzigste WM-Hymne. Auf Deutsch, frei übersetzt, heißt der Text: »Brasilien, sag mir, wie’s sich anfühlt, wenn dein schlimmster Feind in deiner Hütte feiert./Und auch wenn’s lange her ist, werden wir’s niemals vergessen, das schwöre ich dir:/Wie du 1990 von Diego schwindelig gespielt wurdest und Caniggia dich abgeschossen hat. Seitdem heulst du nun schon./Und jetzt wirst du erleben, wie uns Messi den Pokal bringt. Maradona ist viel größer als Pelé.«
  • Unser Supertrainer wird  Fifa-Boss Sepp Blatter bei der Siegerehrung demonstrativ den Handschlag verweigern, so wie der legendäre César Luis Menotti 1978 bei der Heim-WM dem Militärdiktator Jorge Rafael Videla. Vielleicht.
  • Wir sind das bescheidenste Volk auf Erden. Keiner ist bescheidener als ein Argentinier. Wir hätten gern unseren Rivalen Brasilien im Endspiel 14:3 zerlegt, begnügen uns nun aber mit einem Triumph über Deutschland.
Public Viewing

Public Viewing am Congreso, dem argentinischen Parlament

Weltpokal im Foyer des Parlaments

 

Van Gaal, der Rasputin von Máxima

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

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Ich habe neulich mit Holländern Fußball gespielt.

Ja!

Na und??!!

Was gucken Sie denn jetzt so indigniert?

Erstens fehlte bei denen ein Mann, und zweitens sagt meine Frau immer, ich solle mich mehr bewegen, anstatt für umsonst für ein unterklassiges Fußballblog zu schreiben. Außerdem sind die Argentinier, zu denen mich der Hausherr CW manchmal mitnimmt, damit er nicht der schlechteste Spieler auf dem Platz ist, eigentlich zu schnell für einen Mann in meinem Alter.

 

Es war auch nicht teuer, wir hatten so eine cancha gemietet. Das sind kleine Fußballplätze, die man in dieser wunderbaren Stadt an jeder Ecke finden kann, sogar unter Autobahnbrücken und sogar als Ausländer (was zum Beispiel bei Handyverträgen oder städtischen Mietfahrrädern völlig ausgeschlossen ist.)

Und ich hatte ein lustiges Trikot. Was da drauf steht, ist natürlich gar nicht mein Name. Das ist spanisch und heißt: »Ihr werdet verlieren.« Klingt aber holländisch. Gut, oder!!?

Van a perder

Als jemand, der seinerzeit die Aufnahme in die Ajax-Schule nur haarscharf verpasst hat, schätze ich ja den eleganten Angriffsfußball nach ausführlichem Kurzpass-Vorspiel. Die Älteren erinnern sich: 1972, Finale Europacup der Landesmeister: Ajax Amsterdam, 2:0 gegen Inter. Der Sieg des totalen Fußballs. Der Tod des Catenaccio. Seitdem war das 4-3-3-System in Holland heilig.

Dann kam van Gaal. Dieses sympathische Feierbiest. Der sich von seinen Kindern siezen lässt (was ich CW für seinen Nachwuchs auch mal empfehlen sollte!). Der seine Spieler nicht mit Namen, sondern mit Nummern anspricht. Und verlangt, dass sie tun, was er sagt. Der perfekte Pädagoge also. Ein Mann mit Prinzipien. Einer, der irgendwie nicht nach Argentinien passt. Dachten wir.

Doch der alte Aloysius hat es drauf: Da muss er mit einer Truppe zur WM, die es – na ja, sagen wir mal – nicht so richtig gut kann, das Fußballspielen. Und dann kicken die sich locker durch dieses Turnier. Wie das jetzt? Weil van Gaal den Argentinier in sich entdeckt hat! Er wechselt das System, wie es ihm gerade passt: Stundenlang lässt er 5-3-2 spielen. Das braucht nicht nur kein Mensch, das kapiert auch kein Gegner. Aber zehn Minuten vor Schluss: Heißa, die Waldfee, 4-3-3, Robben rennt fünftausend Meter in einer halben Minute, trifft und Holland gewinnt.

Dazu kommt, und auch das ist ja argentinisch gedacht, dass van Gaal schon mit einem 1:0 zufrieden ist. Früher waren argentinische Fußballer da anders: »Fußball ohne Tore ist wie ein Tag ohne Sonne«, hat der sehr große Don Alfredo di Stéfano immer gesagt. Aber der ist dann ja auch Spanier geworden.

Apropos Waldfee und Nationalitätenwechsel: Die Holländer haben sich ja vor ewigen Zeiten eine Argentinierin ins Königshaus geholt. Wahrscheinlich, damit das Protestantenvolk mal ein bisschen lockerer wird. Kein Festhalten an sogenannten »ewigen Wahrheiten«. Und schon gar nicht am 4-3-3. Wenn Holland demnächst Republik wird, ist Máxima schuld!

Wenn Argentinien nicht Weltmeister wird, allerdings auch.

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Weitere Texte von Marc Koch im Argentinischen Tagebuch:

Rumpelfußball reloaded

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

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Die zugegeben attraktive Dienstkleidung der Argentinier war noch kein bisschen beschmutzt, da hatten die Kommentatoren von Canal 7 schon die Erklärung parat: Der Boden im Stadion von São Paulo sei viel zu hart. Keineswegs liege es an den begnadeten argentinischen Fußballern, wenn der Umgang mit dem Spielgerät bisweilen etwas ungewöhnlich wirke. Wenn man zum Beispiel mal wieder nicht wusste, ob der Mann in weiß-himmelblau jetzt stoppen oder einen weiten Pass spielen wollte.

Dazu muss man wissen, dass Canal 7 das hiesige Staatsfernsehen und gleich nach Mate und Fernet-Cola eine der übelsten argentinischen Erfindungen ist. Zwischen Videoclips mit Regierungspropaganda senden sie ein bisschen Fußball und reden den schön, sofern es sich um das eigene Team handelt. Natürlich auch den Grottenkick gegen die Schweiz.

 

Nach diesem Spiel schickte der Hausherr CW, der von Fußball noch mehr versteht als von Marketing, eine SMS: »Noch dreimal so eine Scheiße, und wir haben den Pokal!«

Das klang irgendwie erschöpft. Aber Erschöpfte neigen ja dazu, große Dinge gelassen auszusprechen – unser MC Merte in der Eis-Eis-Tonne kann sozusagen ein Lied davon singen:

 

Und schon sind sie wieder da, die alten Geister.

Mit freundlicher Genehmigung von Härringers Spottschau (c)                              zum Vergrößern aufs Bild klicken

Keine zehn Tage ist es her, dass die Holländer gemeinschaftlich mit den Chilenen die Erfinder des schönen Fußballs getötet haben. Und schon ist er wieder salonfähig: der Rumpelfußball. (Es lohnt sich übrigens, Wikipedia nach »Rumpelfußball« zu fragen. Ich konnte nicht glauben, was ich da gesehen habe. (Grüße an die Kameraden von heftig.co!)

Hauptsache gewonnen ist wieder schick: zur Not auch mit einem »0,5 : 0«, wie Brasiliens Heulboje Neymar Junior gerade erklärt hat. Thomas Müller brandredet für »irgendwie gewinnen«, und das Fachblatt für den langen Ball in die Spitze lobt den »Schrottfußball«. Solange er erfolgreich ist. Die Rehabilitation des Rumpelfußballs feiert fröhliche Urständ.

Nur noch eine Frage der Zeit, wann die Fachpresse eine Wildcard für Griechenlands Finalteilnahme fordert.

Doch während wir dem Spirit von Mexiko, Chile und den USA nachtrauern und uns fit machen, Kolumbien und Belgien in die nächste Runde zu singen, kommt plötzlich Zuspruch von einer Seite, von der wir es nie erwartet hätten: von IHM. Dem, den sie hier für den ALLERGRÖSSTEN halten. ER also spricht zu uns: »Ich aber sage Euch: Wir können nicht immer nur der Sportclub Messi sein!« Und dann liest ER dem Übungsleiter Alejandro Sabella mal so richtig die Leviten.

ER will auch keinen Rumpelfußball. Dass ich das noch erleben darf!

Gracias, Diego!

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Härringers Spottschau hat uns freundlicherweise erlaubt, seinen Cartoon zu benutzen. Vielen Dank!

 

Im Hafen von Alcúdia: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche

von WACHO CHORRO (Gastbeitrag)

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Stammleser Wacho Chorro bloggt bei den Borrachos Bornheim. Sein erster Beitrag im WM-Tagebuch steht hier.

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Das nenne ich Glück: Die Weltmeisterschaft genieße ich auf den Balearen, fernab der unsäglich deutschen TV-Kommentatoren. Die spanischsprachigen Vertreter der Zunft leben das Spiel und vor allem die Tore geringfügig mehr. Geguckt werden die Partien der Albiceleste, unserer weißhimmelblauen Nationalelf, im El Bodegón, einer argentinischen Bar im Hafen von Alcúdia. Da fast alle Argentinier hier in der Tourismusbranche arbeiten, wechselt die Besetzung natürlich von Spiel zu Spiel. Aber die Stimmung ist trotzdem jedes Mal prächtig, wie mein jüngster Lauschangriff beweist:

 

 

Foto

Wir schenken uns diesmal 117 Minuten Erinnerung an das Achtelfinalspiel gegen die Schweiz und beginnen gleich mit dem Tor von Ángel Di María nach schönem Dribbling von Leo Messi. Welch Erlösung!

 

Die Kumpels reißt es so heftig hoch, dass ihre Stühle nebenan beim Souvenir-Laden zwei große Ständer umwerfen. Also gehen wir hinüber und bitten um Entschuldigung – nein, natürlich nicht. Nicht jetzt. Später vielleicht. Wenn wir’s vor Freude über den Einzug ins Viertelfinale nicht vergessen. Die Kumpels sind sowieso schon anderweitig beschäftigt, sie rennen wie die Irren herum, und die Händler gucken da gleich noch finsterer. Es droht eine Eskalation. Ich muss etwas tun. Wacho, zeig dich von deiner besten Seite!

Meine körperliche Erscheinung beruhigt augenblicklich die Lage.

Die Partie kann wohl regulär beendet werden, aber die letzten Minuten haben es in sich. Die Schweiz greift an und trifft nur den Pfosten. Eine alte argentinische Gaucho-Regel besagt übrigens: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche. Hören wir mal, ob sie stimmt:

 

Wir werden danach noch zu einer Freifahrt mit der Touri-Bimmelbahn durch den Ort eingeladen – zum Leidwesen der anderen Passagiere. Aber ein Ende unseres Ausnahmezustands ist ja absehbar: Nur noch drei Siege, und wir sind durch! Welt-meis-ter! ¡Vamos Argentina, carajo!

Bimmelbahn

Der argentinische WM-Hit: Warum Brasilianer seit 24 Jahren heulen

von CHRISTOPH WESEMANN

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Wir sind alle noch ein bisschen erschöpft von unserem epischen 1:0 im Achtelfinale gegen die Schweiz gestern. Deshalb lassen wir heute die Seele baumeln und hören ein paar Versionen des argentinischen WM-Hits »Brasil, decime que se siente«. Fußball und Musik gehören in Argentinien naturgmäß zusammen, und die Musik wiederum soll bitteschön tanzbar sein. Argentinier tanzen wirklich gern, und nicht nur, wenn sie betrunken sind. (Dann natürlich auch.) Irgendeine Feier beginnt, die Musik wird aufgedreht – und die Tanzfläche ist sofort voll. Die ganz Jungen tanzen, die ganz Alten tanzen und die ganz Dazwischenen auch. So bleibt es, bis die Musik abgedreht wird. Kein Stimmungsmacher muss bitten und betteln, dass ein paar Leute aufstehen und mitmachen.

Beim Fußball wird leidenschaftlich gesungen, und mitunter kommt Großes dabei heraus: etwa die Nationalhymne, vorgetragen in der U-Bahn von Río de Janeiro vor dem Gruppenspiel gegen Bosnien-Herzegowina.

 

Genau so halte ich mich übrigens über Wasser, wenn bei Schul- oder Kindergartenfesten mal wieder die Hymne gefordert ist. Diesen elendig langen Text kann sich ja der größte Patriot nicht merken.

Nun aber zu »Brasil, decime que se siente« – so klingt das:

 

Das Lied spielt mit der großen südamerikanischen Fußballfeindschaft zwischen Brasilien und Argentinien. Das eine Land hat fünf WM-Titel, das andere demnächst drei; dem einen verdankt die Welt Pelé, dem anderen Diego Maradona (der wiederum das Tor das Jahrhunderts geschossen hat und überhaupt viel toller war). Das vorerst letzte Duell bei einer Weltmeisterschaft gewann vor 24 Jahren übrigens Argentinien. Das Siegtor in der 82. Minute schoss Claudio Caniggia (Spitzname: Cani) nach einem wunderbaren Solo von Diego.

 

Der schlechte Verlierer klagte hernach über Betrug – und das nur, weil unser Masseur dem Brasilianer Branco eine Trinkflasche gereicht hatte, die Schlaf- oder Brechmittel (vielleicht auch beides) mit ordentlich Alkohol enthielt. Argentiniens Nationaltrainer Carlos Bilardo sagte Jahre später: »Ich sage nicht, dass dies nicht passiert ist.«

Zurück zum WM-Gasserhauer. Die Melodie von »Bad Moon Rising« der amerikanischen Rockgruppe Creedence Clearwater Revival wird in Argentinien gern für Stadiongesänge benutzt – und kommt auch hier wieder zum Einsatz.

 

Gesungen wird also:

Brasil, decime qué se siente tener en casa a tu papá.

Te juro que aunque pasen los años, nunca nos vamos a olvidar…

Que el Diego te gambeteó, que Cani te vacunó, que estás llorando desde Italia hasta hoy.

A Messi lo vas a ver, la Copa nos va a traer, Maradona es más grande que Pelé.

Ich versuche mich mal an einer Übersetzung:

Brasilien, sag mir, wie es sich anfühlt, wenn dein schlimmster Feind wild in deiner Hütte feiert.

Und auch wenn’s lange her ist, werden wir es niemals vergessen, das schwöre ich dir:

Wie du 1990 von Diego schwindelig gespielt wurdest und Caniggia dich abgeschossen hat. Seitdem heulst du nun schon.

Und jetzt wirst du erleben, wie uns Messi den Pokal bringt. Maradona ist viel größer als Pelé.

Auch den Nationalspielern scheint das Lied zu gefallen, wie man im nächsten Video sehen wird. Mal ehrlich: Ist es vorstellbar, dass irgendetwas die deutschen Kicker so ausflippen lässt? Doch nicht mal der WM-Titel, oder?

 

 

 

Funkhaus Europa hat mit unseren Freuden vom Blog Argifutbol einen Hörbeitrag über argentinische Fangesänge veröffentlicht.

 

Die Pseudoexpertenkomödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

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Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten und plaudern über Fußball und den Rest. 

ERSTER AKT

MC. Traumfinale Costa Rica gegen Algerien ist immer noch möglich!

CW. Was wäre dagegen schon Argentinien gegen Brasilien?

MC. Jeder Klassiker wird irgendwann geboren.

CW. Seltsam.

MC. Was?

CW. Irgendwie ist heute kein Unterricht an der Uni.

MC. Nuscheln wieder alle?

CW. Nein. Ich bin allein im Raum 5.5. Und er ist dunkel. Ich gehe mal fragen.

MC. Gute Idee.

MC. Und?

CW. Ich wollte fragen, war aber gleich überfordert von der Frage, ob ich auf Karriere studiere oder ejecutivo … programa … grado … irgendwas anderes halt. Also, Karriere auf keinen Fall. Das andere dann.

MC. Das ist doch die richtige Antwort!

CW. Natürlich. Aber der Typ von der Information war nicht sonderlich hilfsbereit. Ich wusste ja auch nicht mal den Titel des Kurses.

MC. Marketing. Bei Sergio. Raum 5.5.

CW. Habe ich auch gesagt. Nix.

MC. Dann war’s kein Argentinier. Ein Argentinier antwortet immer. Ehe Dir ein Argentinier keine Antwort gibt, gibt er Dir lieber eine falsche. Aber ganz tolle Menschen. Immer sooooooooooooo hilfsbereit. Übrigens: Wie heißt die Hauptstadt von Costa Rica, ich komme gerade nicht drauf?

CW. Ähm. Managua.

MC. Danke, Du hast den Test bestanden.

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ZWEITER AKT

CW. Ich muss Dir was gestehen.

MC. Ich höre.

CW. Bei der WM 1990 war ich gegen Argentinien.

MC. Gibt Schlimmeres.

CW. Ich war für Italien.

MC. Bitte? Waaaaaaaaaas?

CW. Wegen Toto Schillaci.

 

MC. MAN IST NIEMALS FÜR ITALIEN!

CW. Ich war zwölf. Und Ossi. Ein zwölfjähriger Ossi aus einer Kleinstadt.

MC. MAN IST VIELLEICHT MANCHMAL NICHT GEGEN ITALIEN. VIELLEICHT! MANCHMAL!

CW. Ich kann übrigens die deutsche Mannschaft nicht mehr angucken.

MC. Jetzt übertreibst Du es aber mit Deiner Argentinisierung.

CW. Ist mir zu akademisch, das deutsche Spiel.

MC. Dir fließt natürlich nicht genug Blut.

CW. Fußball ist: unsaubere Grätsche, schmutziges Trikot, große Eier.

MC. Müller. Müller hat Eier.

CW. Aber im Sturm fehlt eindeutig der Typ Hrubesch.

MC. In welchem Sturm?

CW. Du musst das ganzheitlicher betrachten. Im modernen Fußball gibt es keine festen Positionen mehr. Manuel Neuer ist sozusagen die hängendste Spitze. Verstehst Du?

MC. Das sagt die Fleisch gewordene Blutgrätsche, die den mitspielenden Torwart für eine Erfindung von Mario Basler hält? Damit er weniger laufen musste?

CW. An Mats Hummels wird der Streit zwischen seiner Freundin Cathy Fischer und der Ex von Ballack auch nicht spurlos vorbeigehen. Wahrscheinlich hat der Teampsychologe nicht mal mehr Termine frei für die anderen. Armer Poldi.

MC. Die Albträume fürchten Poldi. Poldi therapiert sich selbst. Bei Poldi liegt der Psychologe auf der Couch.

CW. Prognose für Deutschland?

MC. Es reicht für die schwächeren Teams, also USA, Argentinien oder Brasilien. Aber für Frankreich, Kolumbien oder Holland? Ich weiß ja nicht.

CW. Hast Du gerade Argentinien zu den schwächeren Teams gezählt? Meine Argentinier haben bisher geblufft.

MC. Das machen sie ja am liebsten. Und das haben sie mit unserem Beruf gemeinsam. Deswegen mögen wir sie ja auch so.

*****

DRITTER AKT

CW. Schön, dass Brasilien weiter ist.

MC. Seit zwei Wochen erzählst Du mir, dass Du die Mannschaft, nein: das ganze Land nicht leiden kannst – mit Ausnahme der Brasilianerinnen.

CW. Weil ich ein guter Argentinier bin. Und weil Diego nun mal viel größer ist als Pelé.

MC. Du wirst doch nicht den dicken Lügner mit Pelé-Fußballgott vergleichen wollen!? Und warum bist Du jetzt für Brasilien?

 

CW. Ich habe nachgedacht: Brasilien erreicht das Finale, natürlich total unverdient. Sie spielen mies, richtig mies, kommen aber jedes Mal weiter. Tore nach Ecken. Tore nach Elfmetern. Tore nach Neymar. Aber dann werden sie im Endspiel von Argentinien – endlich! – kaltgemacht. Die ganze Welt wird uns lieben, verehren, bewundern. Wie wir es verdient haben.

MC. Mieser Taktiker! Opportunist!

CW. In Deutschland werden Neugeborene nach mir benannt.

MC. Hebamme: »Na, wie heißt er denn, unser kleiner Fratz?« – Mutter, noch keuchend: »CW.« – Hebamme (zu sich selbst): »Schon der Vierte heute, und nebenan in der Wanne wird auch noch gehechelt.«

CW. Straßen auch.

MC. Straßen natürlich auch. In Niederndodeleben.Und in La Boca: »Calle de la madre que le parió a CW«.1 Hat ja schon mal nicht geklappt! Aber erst, wenn Dein Sohn seinen Erbteil auf Kokspartys in Rosario durchgebracht hat, während Du in Hamburg-Lokstedt aufm Armenfriedhof liegst. Und genau dann werde ich mit Deiner Biografie – trimedial! – Bestsellerautor.

CW. Titel?

MC. Wesemann: Autor. Vater. Fußballer. Als E-book, DVD und Buch. Auch im Geschenkschuber.

CW. Nicht weniger als 800 Seiten! Besser 1000. Wirkt sonst zu komprimiert, mein Leben.

MC. Du musst mir natürlich die Manuskripte und Briefwechsel überlassen.

CW. Ich gucke jetzt mal Holland gegen Mexiko und studiere Argentiniens überübernächsten Gegner.

MC. Das wäre ein geiles Halbfinale!

CW. Aber kein leichtes.

MC. Sicher.

CW. Unangenehm zu spielen.

MC. Oh ja!

CW. Sind gut drauf.

MC. Das kannst Du laut sagen.

CW. Verrückter Trainer.

MC. Sehr verrückt.

CW. Sehr guter Torhüter.

MC. Ja, auch.

CW. Die dicken Männer mit den Riesenhüten nerven natürlich.

MC. Wie bitte?

CW. Und die Schnurrbärte – auch die Frauen.

MC. Häh?

CW. Tequila könnte ich auch mal wieder trinken.

MC. Zum Teufel: Wovon redest Du?

CW. Mexiko!

  1. »Straße zu Ehren der Mutter, die CW gebar« []

WM-Gezwitscher (5)

von CHRISTOPH WESEMANN

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(Wenn Argentinien heute nicht brillant spielt, ist das meine Schuld. Ich muss den Ort wechseln, an dem ich die Partie gucke. #Aberglaube)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leo Messi und die argentinische Volkskrankheit

von CHRISTOPH WESEMANN

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Es ist ein Sieg, der Philosophen glücklich macht. Sekunden nach dem Abpfiff hat der argentinische Freund, der gern in Europa leben würde, eine SMS geschickt: »Wir Argentinier warten immer auf den Heiland. Es gibt keine Mannschaft.«

Nur Leo Messi mit seinem Traumtor hat die weißhimmelblaue Nationalelf am Sonnabend vor einem peinlichen Unentschieden gegen Iran bewahrt. Irgendjemand hat mal gesagt: Wenn Diego Maradona Neuseeländer wäre, hätte Neuseeland 1986 in Mexiko den Titel geholt. Die Weltmeisterschaft gewann Argentiniens ewiger Goldjunge mit einer eher durchschnittlichen Mannschaft um sich herum.

 

 

Argentinier folgen gern, und wenn der, dem sie lange gefolgt sind, sie enttäuscht, folgen sie dem Nächsten, obwohl, nein: weil der das Gegenteil verspricht. Er stilisiert sich selbst dann zum Antipoden, wenn er lange dem Enttäuschenden nachgelaufen ist.  Wer ist im Augenblick Argentiniens Oppositionsführer, der Gegenspieler der Präsidentin Cristina Kirchner und einer der aussichtsreichen Kandidaten auf ihre Nachfolge, wenn im Oktober 2015 gewählt wird? Sergio Massa. Wer war Massa? Vor ein paar Jahren arbeitete er als Kabinettschef der Präsidentin, war also Kirchners – zumindest dem Organigramm nach – wichtigster Mann. Er koordinierte ihr die Regierungsgeschäfte. Heute ist er Antikirchnerist und versammelt um sich auch enttäuschte Kirchneristen.

Erscheinungen wie diese – Heiland Messi, Hoffnungsträger Massa – sind auch ein Erbe des dreimaligen Präsidenten Juan Domingo Perón. Mitte der vierziger Jahre beginnt sein Aufstieg, er gibt den Anpacker und Erlöser. Er erkennt, dass er Wahlen gewinnen kann, indem er Massen begeistert: Argentiniens Arbeiter und Argentiniens Arme. Schon vorher als Arbeitsminister hat Perón einen gewaltigen Ruf: Er ist der »Repräsentant eines hemdsärmeligen, informellen politischen Stils«1, der auf demokratische Spielregeln pfeift. Und er hat Evita. Peróns zweite Frau reist durch dieses riesige Land, verteilt Fahrräder, Puppen, Betten, Schuhe und Gebisse, eröffnet Krankenhäuser und Schulen, sie wirft Geldscheine aus dem Zug und ist Trauzeugin Tausender Paare. Wer Evita begegnet, der fühlt sich »vom Zauberstab einer Heiligen berührt«, wie die Journalistin und Buchautorin Silvia Mercado sagt. Ende der vierziger Jahre erhält die Arbeiterklasse zum ersten Mal Rechte: den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, den bezahlten Urlaub. »Perón cumple, Evita dignifica«, heißt die berühmte Parole dieser Zeit. »Perón schafft es, Evita verleiht Würde.«

Peronistische Garde

Vier peronistische Präsidenten und die Erste Dame: Héctor Campora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner (v.l.)

Perón, ein Revolutionär und Populist, hat den Staat vermeintlich allmächtig gemacht. Seine Anhänger singen bis heute, oft unter Tränen: »Perón, Perón, wie großartig du bist!/Mein General, wie wertvoll du bist!/ Perón, Perón, großer Führer,/Du bist der erste Arbeiter!« Doch Argentinien trägt schwer an diesem Glauben. Dass man bis hinauf in die Oberschicht vom Staat viel erwartet (und zugleich von seinen Repräsentanten wenig hält), scheint fast zur unheilbaren, ansteckenden Volkskrankheit geworden zu sein.

Vieles ist geregelt in Argentinien, und was noch nicht geregelt ist, wird es vielleicht bald sein. Ein Gesetz verbietet, dass in der Provinz Buenos Aires – so groß wie Deutschland – im Restaurant Salz auf dem Tisch stehen darf. Argentinier essen nämlich mehr davon als andere und mehr als ihrer Gesundheit gut tut. Also versteckt die Politik den Streuer – in vielen anderen Ländern werden selbst Kinder erwachsener behandelt. (Das Salz ist trotzdem oft auf dem Tisch, aber das ist eine andere argentinische Geschichte.)

Hiesige Politiker haben ein besonders negatives Bild von ihren Untertanen. Präsidenten, Gouverneure (die die Provinzen regieren) und Bürgermeister treten gern wie Familienoberhäupter auf und versprechen, sich um das Wesentliche zu kümmern. Man beruft sich zwar fortwährend aufs Volk, auf dessen Willen, tatsächlich aber geschieht dies ohne die Absicht, echte Mitbestimmung zuzulassen. Politik wird in Argentinien mehr als in Deutschland auf der Straße oder im Viertel gemacht − und zugleich im hintersten Hinterzimmer. Wer Macht hat oder haben will, muss Massen mobilisieren. Wenn die eigenen Anhänger Fußballstadien oder große Plätze füllen (und teilweise angekarrt oder sogar gekauft werden), dann ist das eine Art Plebiszit, eine Volksabstimmung, über die der Anführer seinen Kurs legitimiert, ohne tatsächlich darüber abstimmen zu lassen. Die Parteien und Bündnisse lassen es sich gefallen, solange der Chef Wahlerfolge verspricht.

Vor Jahren schrieb Josef Oehrlein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigenen Taschen bedienen.

Der Glaube an die Schaffenskraft des Patriarchen wurzelt tief. Schon die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wurden angeführt von Mitgliedern der Oberschicht. Die Befreiung von den Kolonialherren war gerade kein Volksaufstand, kein Umsturz von unten, keine echte Revolution. All die Männer, die bis heute als Befreier fast religiös verehrt werden, ob José de San Martín oder Simón Bolívar, waren fast ausnahmslos Söhne aus dem Großbürgertum. Nicht einmal Che Guevara, der Posterboy der Antifaschisten und Antiimperialisten, kam aus der Arbeiterklasse.

»Alles hängt von Messi ab«, sagen viele in Argentinien. Aber Messi ist − anders als Maradona 1986 − nicht in der Form seines Lebens, und selbst wenn er’s wäre: Neuseeland würde mit ihm heute niemals Weltmeister werden. Der Fußball des 21. Jahrhunderts ist komplex, taktisch viel durchtriebener; die Superstars, ob Cristiano Ronaldo, Neymar oder Messi, werden notfalls 90 Minuten lang von drei Gegenspielern gestört. Dann eröffnen sich zwar Räume für die Kameraden ringsum, aber diese Freiheit muss erkannt und ohne Angst genutzt werden. Erinnert man sich nach 180 argentinischen WM-Minuten an irgendeine besondere Szene von Kun Agüero oder Gonzalo Higuaín, Ángel Dí María oder Javier Mascherano, allesamt zentrale Spieler großer europäischer Klubs? Nein, sie haben Messi nicht entlastet.

Dem Anführer ist außer den zwei Wahnsinnstoren bislang wenig gelungen. Man kann sich vorstellen, wie es ohne Treffer um Leo Messi augenblicklich stünde in Argentinien.

BuchIch habe im vergangenen Jahr den Aufsatz »Evita Perón – Die Heilige, die nicht sterben darf« geschrieben. Erschienen ist er im Buch »Oh Du geliebter Führer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert« (Ch. Links Verlag). Das Zitat der argentinischen Journalistin Silvia Mercado entstammt dem Interview, das ich mit ihr geführt habe.

  1. Birle, Peter: Parteien und Parteiensystem in der Ära Menem – Krisensymptome und Anpassungsprozesse, in Peter Birle/Sandra Carreras (Hrsg.). Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2010, S. 215-216 []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)