Posts Tagged ‘Leo Messi’

Wir sind unzähmbare Argentinier: das Lied „Somos de acá“

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Freund Pablo sagt, ich soll dieses Lied, das fünf Gänsehäute übereinander schichtet, so erklären: »Uns Argentiniern ist alles komplett egal. Außer Fußball und Religion. Aber die Religion auch erst, seit Jorge Bergoglio Papst ist.«

Somos de acá 2

Somos de acá 3

Somos de acá 4

Somos de acá 5

Es ist eine viereinhalbminütige Reise durch Argentinien, auf die uns die Rockgruppe Yeims Bondi mitnimmt. Wir hören eine grandiose Liebeserklärung an Land und Leute, großkotzig bis narzisstisch, zugleich aber schwer selbstironisch, weil Argentinien und Argentiniern ja auch allerlei misslungen ist über die Zeit und allerlei weiter misslingen wird. Große Ereignisse, hübsche Menschen, viele Idole, nicht weniger boludos1 und ein paar richtige Verbrecher werden uns im offiziellen Video begegnen. Genau hingucken, bitte!

Anschnallen, señoras y señores: »Somos de acá« (Wir sind von hier) von Yeims Bondi:

Am Ende klingt dann noch all die Widersprüchlichkeit an, die manches zur Faszination Argentiniens beiträgt. Man ist einerseits sehr patriotisch, kann sich aber auch entsetzlich aufregen über sein Land. Schuld sind natürlich immer die anderen. Diebe und Gauner aller Art, die keine Grenzen kennen, haben dieses wunderbare Land heruntergewirtschaftet, ganz klar. Man selbst schmeißt seinen Müll natürlich auf die Straße und geht bei Rot über die Ampel, hält sich auch sonst an kein Gebot und wählt grundsätzlich den, der das Meiste verspricht.

Argentinien, heißt es im Lied, ist die Titanic, die so oft untergegangen ist und auf einmal wieder auftaucht, außerdem ein Witz, den man nicht ganz versteht, über den man aber trotzdem lacht. Weil man sonst weinen würde.

Ich habe den Text des Liedes übersetzt. Kritik, Hinweise und Vorschläge − her damit!

 
Somos de acá Wir sind von hier
Somos una charla
en el café de cada esquina.
Somos ese mate
compartido en la cocina.
Somos cantautores
en la ducha, en la cancha
y en el bar.
Somos de acá.
Wir sind ein Gespräch
im Café an jeder Straßenecke
Wir sind dieser Mate,
der in der Küche geteilt wird.
Wir sind Liedermacher
unter der Dusche, im Stadion
und in der Bar.
Wir sind von hier.
Somos el país
de las 13 maravillas.

Somos ese country
justo al lado de la villa.

Somos una infancia
de pelota y figuritas
y algo más.

Somos de acá.
Wir sind das Land
der 13 Wunderwerke.

Wir sind die Luxussiedlung
genau neben dem Elendsviertel.

Wir sind eine Fußball-und-
Sammelbilder-Kindheit
und noch mehr.

Wir sind von hier.
Si nos visitas
te enamorarás
de nuestro chamuyo
industria nacional.

Y si sos varón,
andá con precaución:
las minas de acá
explotan de verdad.
Wenn du uns besuchst,
wirst du dich verlieben
in unser Gelaber
made in Argentina.

Und wenn du ein Junge bist,
sei immer schön vorsichtig:
Unsere Bomben2
explodieren wirklich.
Si naciste acá
y cruzaste el mar
como en aquel tango
siempre volverás.
Y yo que en mi piel
llevo tu piel porque aprendía crecer acá
ya no me voy más.

Yo soy de acá.
Wenn du hier geboren
und dann ausgewandert bist,
wirst du wie in diesem Tango
immer zurückkommen.
Und ich, der auf meiner Haut
deine Haut trägt, weil ich weiß,
hier klarzukommen,
Ich werde nicht wieder abhauen.

Ich bin von hier.
Somos un buen polvo
y el asado con amigos.

Si la vida miente
le cantamos falta envido.

Y si el río se llevó la plata,
nos vamos a cartonear

A orillas del mar.
Wir sind ein guter Fick
und das Grillen mit Freunden.

Wenn das Leben lügt,
singen wir ihm falta envido.

Und wenn der Fluss das Geld weggespült hat,
ziehen wir los zum Müllsammeln an den Stränden des Meeres.
Somos de acá,
somos de acá.

Somos argentinos
sin domesticar.

Somos la soberbia,
y la chispa genial,

la bandera desteñida
de los locos sin atar.
Wir sind von hier.
Wir sind von hier.

Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen.

Wir sind der Hochmut
und der geniale Mutterwitz,

die ausgeblichene Fahne
der absolut Bekloppten.

 

 

 

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

> Argentinisch: das Elendsviertel (hier Villa 31) in bester Lage

Eine Leidenschaft argentinischer Kinder: figuritas, die Sammelbilder.

>Eine Leidenschaft der Kinder: las figuritas, die Sammelbilder

Y le damos palos
a la argentinidad,
pero la regamos
del campo a la ciudad.
Todas las gargantas con
arena de este mar
se encontrarán
en la popular.
Und wir regen uns furchtbar
auf übers Argentinische,

düngen es es aber
überall und jederzeit.

Alle Stimmen, die zu
Argentinien gehören,
versammeln sich
auf den Stehplätzen.
Somos argentinos,
luchando contra molinos,

sangrando por un siglo,
malvendido,
mal parido,
por espejos de colores,
por payasos y traidores
que se toman todo el vino
pero nunca vacaciones
Wir sind Argentinier,
gegen Windmühlen kämpfend,

Blutend wegen eines verschleuderten,
weggeworfenen Jahrhunderts,
wegen der Illusionen,
der Clowns und Betrüger,
die sich all den Wein nehmen,
aber niemals Urlaub.
Somos todo lo que fuimos,
Lo que no pudimos ser:
El Titanic que se hundió tantas veces
y que de repente

vuelve a aparecer.
Como un chiste de argentinos,
que no lo entendí muy bien,
por si acaso igual yo me río,
para no llorar, también.
Wir sind alles, was wir waren,
das, was wir nicht sein konnten:
Die Titanic, die so oft unterging
und plötzlich dann wieder auftaucht;

wie ein Witz von Argentiniern,
den ich nicht recht verstand,
Über den ich vorsichtshalber
trotzdem gelacht hab,
um nicht zu weinen.
¿Sabés porqué?
Por la furia,
la emoción, el orgullo
y el dolor
de ser un argentino,
uno más, igual que vos
Weißt Du warum?
Wegen des Zorn,
des Gefühls, des Stolzes
und des Schmerzes,
ein Argentinier zu sein,
noch einer, genauso wie Du.
Somos de acá,
somos de acá.

Somos argentinos
sin domesticar.

Somos la soberbia,
y la chispa genial,

la bandera desteñida
de los locos sin atar.
Wir sind von hier,
wir sind von hier.
Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen,
Wir sind der Hochmut
und der geniale Mutterwitz,
die ausgeblichene Fahne
der absolut Bekloppten.
Somos de acá,
somos de acá.
Somos argentinos
sin domesticar
Somos una mezcla milagrosa
para bien y para mal
Somos de acá.
Wir sind von hier,
wir sind von hier.
Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen.
Eine wunderbare Mischung,
auf Gedeih und Verderb.
Wir sind von hier.

 

  1. Deppen []
  2. tolle Frauen []

Der Floh und der Apache, der Beißer und der Gebissene, die Statue und der Bleiche – die Berliner Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Kurznachrichten.

Heute über: das Champions-League-Finale in Berlin.

♦♦♦♦♦

CW. Ich bin schon krass heiß auf Barcelona gegen Juventus. Leo Messi und Carlitos Tévez, der Floh1 gegen den Apachen2! Luis Suárez und Giorgio Chiellini, der Beißer gegen den Gebissenen! Was für ein Finale!

MC. Ähem, der Gebissene kneift.

CW. Schulterverletzung?

MC. Wade! Links.

CW. Simulant.

MC. Es gibt ja auch noch Andrea Pirlo und Andrés Iniesta, die Statue gegen den Bleichen! Pirlo hat auf seinem sagenhaften rechten Fuß mehr Haare als Iniesta auf dem Kopf.

CW. Leider erwarten wir am Sonnabend, Mitte der zweiten Halbzeit, den einzigen Argentinier, der Fußball nicht mag, zum Kaffeekränzchen.

MC. Vor einem Jahr, Real gegen Atléti, saß er bei mir. Hat aber nicht groß gestört.

CW. Unsere Frauen sind echt …

MC. … so tolle Gastgeberinnen. Wir würden vereinsamen und verwahrlosen ohne sie, ach was, wir wären sozial seit Jahren isoliert.

CW. Wir müssten die ganze Zeit Fußballspiele gucken.

MC. Schreckliche Vorstellung.

CW. Für wen bist Du? Als halber Madrilene kannst Du ja nicht wollen, dass Barça die Champions League gewinnt. Also Juve.

MC. ICH WERDE NIEMALS FÜR EINEN ITALIENISCHEN VEREIN SEIN.

CW. Ich zitiere den argentinischen Fußballphilosophen Jorge Valdano, den wir beide ja sehr schätzen, was auch nicht oft vorkommt.

Italien weiß genau, was es will. Wenn ihr ästhetischen Stil wollt, dann schaut euch die Trikots an, die Millimeterfrisuren, den Schnitt der Bärte. Wenn ihr Talent möchtet, schaut auf die Ersatzbank (da sitzt del Piero mit der Feierlichkeit eines Pharaos).

MC. Oder auch:

Es gibt Momente, in denen ein Abwehrspieler klärt, und er sieht zum Beispiel die Beine eines Norwegers sperrangelweit offen, eine schöne Einladung zum Tunneln, die ein freier Mann niemals ablehnen würde. Der italienische Abwehrspieler lehnt die Versuchung ab und klärt trotzdem.

CW. Unsere Frauen allerdings…

MC. …sind für Juve.

CW. Wegen Totti.

MC. Der spielt seit 112 Jahren beim AS Rom.

CW. Das wissen aber unsere Frauen nicht. Für sie wird auch immer Paolo Maldini der Abwehrchef der Nationalelf sein.

MC. Noch so ein Schönling. Überhaupt total attraktive, charmante Männer, diese Italiener, voller Gefühle. Und aufrichtig, natürlich. Nie würde ein Italiener ‘ne Schwalbe machen. Niemals.

CW. Das Fairplay wurde in Italien erfunden. Von Pippo Inzaghi.

MC. Übrigens, Gigi Buffon …

CW. … Weltklasse-Torhüter …

MC. … hatte mal die Rückennummer 88, war aber kein Faschist. Er wollte eigentlich die Doppelnull haben, weil er meinte, das symbolisiere zwei Eier. Kein Witz. Fußballerlogik: Eier haben und so. Der AC Parma, sein damaliger Klub, ließ das aber nicht zu. Buffon, gedankenschnell: »Dann nehme ich die 88, das bedeutet: vier Eier!« Als man ihn darauf hinwies, wofür die Zahl in rechtsextremen Kreisen stehe, sagte er: »Wer ahnt das? Dass 88 der Hitlergruß ist, das wissen doch wirklich nur die Nazis!«

Seite Drei in der »Süddeutschen« am Donnerstag.

CW. Und dann gewinnt der ausgerechnet die Weltmeisterschaft im Berliner Olympiastadion. Da schloss sich ein Kreis.

MC. Du als Argentinier, der argentinischer sein will als jeder Argentinier, müsstest am Sonnabend für Juve sein. Wegen Tévez. Spieler des Volkes. Kindheit im Elendsviertel und so.

Mir ist egal, was die Leute denken. Ich werde meine Wurzeln nicht vergessen. Die Jungs sagen immer zu mir: »Wenn du ganz oben ankommst, vergiss nicht die Armen.«

CW. Ich bin für Juve! Genau aus diesem Grund.

MC. Dacht’ ich mir. Letzte Frage: Und Franziskus?

CW. Für Tévez, natürlich. Der Papst des Volkes. Aber Messi mit dem Pokal würde er auch empfangen.

MC. Es haben ja sowieso alle argentinischen Fußballer einen Hausausweis für den Vatikan.

  1. la Pulga, Messis Spitzname []
  2. el Apache, Tévez‘ Spitzname []

Besser als Zirkus Messi

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Wenn ich jetzt, vier Stunden nach dem Abpfiff, gefragt würde, was mir von dieser Weltmeisterschaft in Erinnerung bliebe, wäre es ein Foto. Ein Foto, das an 1954 denken lässt, als sich die Deutschen in Kneipen und davor versammelten, um gemeinsam das Finale gegen Ungarn zu gucken. So war es gestern Nachmittag auch in Buenos Aires. Schon zwei Stunden vor dem Spiel gab es in den Restaurants, Bars und Cafés keine freien Plätze mehr – und wenn die argentinische Hauptstadt von irgendetwas genug hat, dann sind es Restaurants, Bars und Cafés. Die Leute standen draußen, eine Traube von Menschen, die versuchten, etwas von diesem Finale gegen Alemania zu sehen.

Finale im Café

»Es ist noch nie so leicht gewesen wie dieses Mal, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen«, hatte mir vor zwei Wochen ein Argentinier gesagt. Er hatte wohl recht: Spanien, Italien und Brasilien, drei glorreiche Fußballnationen, drei schlechte Mannschaften. Wahrscheinlich hat es noch nie eine brasilianische Auswahl gegeben wie diese von 2014: technisch unbegabt, ideenlos, nur auf Körperlichkeit setzend. Aus Afrika und Asien kam gar nichts. Selbst Holland, der Halbfinalist, spielte im Grunde biedersten Betonfußball.

Gewiss, auch Argentinien hat selten – wahrscheinlich bis gestern Abend: gar nicht – geglänzt. Aber diese Mannschaft hatte Charakter. Und Würde. Die Leute im Land spürten: Sie kann nicht immer, wie sie will. Argentinien hat keine goldene Fußballgeneration wie Deutschland, ist aber als Team wohl noch nie so stark aufgetreten wie 2014. Es war gerade nicht der Zirkus Messi, der in Brasilien gastierte. Der Kapitän hatte natürlich auch nicht die Form, um den Soloartisten zu geben.

Deutschland war die beste Mannschaft. Die tollen Spiele sind ihr freilich auch nur gegen unterirdische Gegner – erst Portugal, dann Brasilien – gelungen. Argentinien hätte es verdient gehabt, das Finale zu gewinnen. Nicht das Turnier. Aber die 120 Minuten von Río de Janeiro. Es ist schade, dass die Spieler diese vielleicht einmalige Chance nicht genutzt haben.

Der Ticker zum WM-Finale: Dem Diego Maradona su Wetter

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonnabend, 12. Juli, 10.30 Uhr

CW Buenas! Cómo andan, gente? Wir melden uns aus Buenos Aires und haben Großes vor, vielleicht auch nur Kleines, aber das würden wir niemals zugeben. Marc Koch und ich versprechen beim Heiligen aller Zauberkünstler, Diego Maradona, die Zeit bis zum Finale der Weltmeisterschaft halbwegs sinnvoll zu verplempern. Vor allem wollen wir uns selbst ablenken – von Langeweile und innerer Unruhe. Hätten wir einen Redaktionsbus, stünde draußen drauf die Parole: »13. Juli 2014 – Maracanã – Bereit wie nie. – Kann man das Finale einen Tag vorziehen?«

Es lohnt sich, heute und morgen immer mal wieder hier vorbeizuschauen. Wir werden tickern, was wir hören, sehen, lesen und erleben. Applaus, Lob und Blumen, Werbeverträge, Kuscheltiere, Telefonnummern und Heiratsanträge sind erwünscht. Fragen, Kritik und Kommentare natürlich auch. Nicht alles wird uns gelingen. Aber mehr über Argentinien vor dem Finale als hier erfahren Sie bei ARD und ZDF ja auch nicht. Jedenfalls habe ich aufgeschnappt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen doch sehr auf die deutsche Elf konzentrieren.

 

 

Blick auf die Uhr, das rechnen wir jetzt schnell im Kopf aus, ¡vamos!, ähm, tja, nein, wir nehmen doch besser die Finger zu Hilfe: noch 24 plus eins, zwei, drei, vier, fünf, fünfeinhalb Stunden. Also 29einhalb Stunden bis zum Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien.

11.15

CW. Ich schnuppere gerade an meinem Argentinientrikot. Gegen Bosnien am 15. Juno hatte ich es zum ersten Mal an, danach bei jedem anderen Spiel meiner Lieblinge. Sechsmal. Gewaschen wurde es in den vergangenen vier Wochen natürlich nicht, wir Argentinier sind ja abergläubisch. Sollte ich mir morgen vielleicht ein Duftbäumchen (Vanille oder Flieder) umhängen? Ja, sagt die Nase, unbedingt.

11.46

CW. Meine Familie ist übrigens gespalten. Die Frau hält zu Deutschland, der Achtjährige wohl auch, Argentinien ist nur seine zweitliebste Mannschaft. Vielleicht schaffe ich es aber noch, ihn umzudrehen, er wackelt, und ich kann gut verunsichern. Noch am Mittwoch nach dem Halbfinale gegen Holland hatte er auf dem Heimweg verkündet, im Endspiel beiden Teams die Daumen zu drücken. Kinder, pffffff, also wirklich. Am nächsten Tag war er dann wieder bei Deutschland; der aktuelle Stand ist: Er kann auch mit dem Weltmeister Argentinien einigermaßen leben.

Wo steckt eigentlich mein Kollege? Er sollte mich ja irgendwann ablösen, weil ich jetzt ein paar Stunden mit den Kindern unterwegs bin. Wir arbeiten im Schichtbetrieb. Das hat zum einen zeitökonomische Gründe. Zum anderen haben wir nach vier Wochen WM Lagerkoller. Der eine will dem anderen nur begegnen, wenn es unbedingt sein muss. Ich bin letzte Nacht über den Zaun geklettert und habe in der Stadt einen draufgemacht.

Unser Deutscher hat sich wahrscheinlich in der Toilette eingeschlossen. Seine Angst vor Argentinien ist gewaltig, aber psssssssst.

12.40

MC. Haha! Der Chefreporter hier! Kürzel: MC! Lustig, der Herausgeber, oder!? Geht Angstshoppen! Steht also in diesem Hypermarkt in unserem Viertel. Sein kleiner Sohn muss den Einkaufskarren mit Tiefkühlpizza und Quilmes beladen. Währenddessen steht CW vor der Sonderfläche mit weiß-himmelblauen Fanartikeln und überlegt sich, wie er seiner Frau beibringen soll, dass er schon wieder einen Haufen Pesos für den Plunder ausgegeben hat, der am Montag von bolivianischen Altplastikhändlern eingesammelt wird.

13.09

MC. Typisch wieder: Seit Monaten erzählt CW, dass »wir«(also: »er«. Also die Argentinier) Weltmeister werden. Und jetzt, keine 36 Stunden vor dem Finale, geht er EINKAUFEN! Macht sich aus dem Staub. Und ich wieder Sonderschicht. Ohne Bezahlung. Das Honorar geht wahrscheinlich wieder an die im Liegen bloggenden Edelfedern. Dabei zeigt ihm das argentinische Mittelfeldchefchen Mascherano doch, wie man seinen Mann steht: Dem gibt man ne Knarre, und er holt die Malwinen Falklands alleine zurück!

13.15

MC. Immerhin steht CW zu seiner Albiceleste in guten und in schlechten Zeiten. Kann man nicht von allen behaupten: Die hiesige Regierung schickt keinen Repräsentanten zum Finale. Sie wollen ihnen kein Pech bringen. Und so richtig mit Tschingderassabum und Trommeln wird das Team am Montag nur empfangen, wenn es Weltmeister ist. Also nicht.

14.15

MC. Die Wetteraussichten für den Finalsonntag in Buenos Aires. Rudelgucker, aufgepasst: Sieht nicht gut aus. Fritz-Walter-Wetter!

14.32

MC. Vor dem Finale der Männer: Das Frauenfinale. Merkel vs. Cristina. Smokey Eyes gegen Naturlook. Uckermark gegen La Plata. Weltmeisterin gegen Vizeweltmeisterin. So oder so.

14.51

MC. Das Spiel um Platz 3. #NEDBRA. Wird zwei, drei Stunden später angepfiffen: Die Brasilianer müssen noch ihr Tor aufräumen.

Das brasilianische Tor

15.20

MC. Alter, CW hat sie nicht mehr alle! Weil sie auf der Sonderverkaufsfläche im Hypermarkt seines Vertrauens kein Mascherano-Trikot in XXL hatten (seit er mehr Fußball guckt als spielt, hat er zugenommen!), ist er jetzt extra nach Caballito gerammelt. Das ist ein Stadtteil. Und dort, im Parque Rivadavia, gibt es noch Fanartikel. Sicher hat er wieder in die Haushaltskasse gegriffen, während seine Gattin ihre wohlverdiente Siesta gehalten hat.

parque rivadavia 2

MC. Dabei gibt es in diesem Park ausnehmend schöne Statuen zu sehen. Aber für sowas hat ein argentinischer Fußballfan ja kein Auge…

Parque Rivadavia

15.58

MC. In Buenos Aires schüttet es in Strömen, gleich wird dann doch #NEDBRA angepfiffen, verhaltensauffällige junge Argentinier hupen und tröten auf der Straße rum. Da muss ich, vor meinem brabbelnden Kamin, doch gleich an den großen Eric Meiijer denken und den jungen Leuten da unten (und CW natürlich auch!) zurufen: »Nichts ist scheißer als Platz 2!«

16.06

MC. Doch. Arjen Robben fällt ein, dass es doch noch was Scheißeres als Platz 2 gibt. Gleich mehr dazu aus Brasilia…

16.21

CW. Mann, Mann, Mann, sieht das hier aus. Da gibt man dem Chefreporter die Schlüssel und muss hinterher erst mal aufräumen. Hässliche Anführungsstriche. Kleine Bilder. Falsch positionierte Kürzel. Ans Telefon geht er natürlich nicht. Bin gleich wieder da.

16.27

CW. Nichts als Ausreden. Schlimmer als jeder Argentinier. Na ja, Journalist.

Auch interessant: was man erfährt, wenn man mit dem Sohn im Auto unterwegs ist. Die Familie hat doch heute Morgen unsere zwei Meerschweinchen zu Freunden gebracht, weil wir ja am Montag für ein paar Wochen nach Deutschland fliegen. Ja, gleich am Montag, zu diesem Thema kommen wir später. Jedenfalls berichtete der Achtjährige, wie sich seine Mama und die Mama seines Schulfreundes gemeinsam über die Väter ihrer Söhne aufgeregt hätten. Weil die – also wir, Jorge und ich – seit Wochen nix anderes als Fußball im Kopf haben.

»Mama ist froh, wenn die WM morgen vorbei ist. Und die Mama von Facu auch.«

»Deine Mama weiß aber nicht, dass ich eine Woche sehr traurig sein werde, falls Argentinien verliert. Und wenn Argentinien gewinnt: das restliche Leben sehr glücklich. Dann werde ich mir ab und zu frei nehmen, um übers Wasser zu laufen.«

»Übers Wasser kann man nicht laufen, Papa.«

»Ein Argentinier dann schon.«

 16.45

CW.  Apropos Mascherano: Der dementiert heute in Olé, Argentiniens großer Sportzeitung. »Ich bin nicht Rambo«, sagt er im InterviewSan Martín will er auch nicht sein. Hübsche Analogie. Nordamerikanischer Befreiungskämpfer mit fünf Buchstaben? Rambo.

Rambo MasChe

17.20

CW. Mascherano ist laut Olé übrigens nicht der beste Spieler des Turniers. Sein Olé-Notendurchschnitt: 7,5 (von 10). Hier die Noten der anderen Spieler, die die Fifa nominiert hat:

  • Robben: 8,2
  • James Rodriguez: 7,9
  • Thomas Müller: 7,4
  • Mats Hummels: 7,1
  • Toni Kroos und Philipp Lahm: 7,0
  • Neymar: 6,7.
  • Messi ist nominiert, aber seine Note finde ich nicht in der Zeitung. Wahrscheinlich: 12,9.

17.31

CW. Der Chefreporter guckt das Spiel um Platz 3 und fragt per Mail: »Ist Heulen eigentlich eine brasilianische Kulturtechnik?«

17.43

CW. Wenn uns jemand von einem Boten zweimal 120 000 Peso (in großen Scheinen!) vorbeibringen ließe, könnten wir noch schnell nach Río de Janeiro düsen. So viel, umgerechnet 11 000 Euro, soll ein Finalticket auf dem Schwarzmarkt maximal kosten. Wir würden natürlich hart verhandeln und uns auch mit Kurve begnügen. Unsere Spesenabrechnung reichen wir nächste Woche nach.

17.45

CW. Wir warten.

17.55 CW. Und wer mir eine echte Freude machen will, der kaufe bitte diesen hübschen Sessel zum Schnäppchenpreis von 2300 Peso:

Sessel

Hoppla, soeben fällt mir ein, dass ich ja versprochen habe, mich tätowieren zu lassen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Glatze obendrein, behauptet mein Sohn. ¡Vamos Alemania, carajo!

18.03

CW.  Die Deutschen greifen aber auch zu allen Mitteln. Gerade habe ich die Frau dabei ertappt, wie sie Sohnemanns weiß-himmelblauen Trainingsanzug in die Waschmaschine stecken wollte. Der hat uns doch so viel Glück gebracht am Mittwoch im Elfmeterschießen. Ich frage mich, wie es die Frau geschafft hat, dass er das Ding auszieht. Er war damit zwei Tage in der Schule, er schläft darin, ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zwei zusammen baden.

1.03

CW. Rätselhafter Satz in der Süddeutschen Zeitung: »Der Mann mit der Alfredo-Di-Stéfano-Gedächtnisfrisur ist der heimliche Chef in der argentinischen Kabine, was auch daran liegen könnte, dass er vergleichsweise unfallfrei spricht.«

Ich frage mal den Chefreporter, was das heißen soll.

»Meinen sie Dich? Oder den Trainer?«

Nein, Pablo Zabaleta. Die Unverzichtbarkeit des Rechtsverteidigers hat sich mir in sechs Partien nicht erschlossen. Ein paar Mal habe ich sogar schon nach zehn Minuten seine Auswechslung gefordert.

Ich mache für heute mal das Licht aus.

*****

Sonntag, 13. Juli 2014

7.51 Uhr

CW. Buenas! Todo tranquilo? Seit gestern regnet es in Buenos Aires, aber der Morgenkaffee hat weniger bitter geschmeckt als sonst. Ein guter Tag wird das! ¡Vamos Argentina, carajo!

»Todo depende de Messi«, hatte es vor dem Turnier in Argentinien geheißen, von Messi hängt alles ab. Und weil wir aus tiefer Bewunderung Argentiniern alles nachplappern, stand der Satz auch bei uns. Und es stimmte doch: In der Vorrunde schoss der Kapitän Tore und führte seine Mannschaft zum Gruppensieg. Mittlerweile aber überzeugt das Kollektiv. Der Schriftsteller und Fußballpoet Eduardo Sacheri (den wir selbstverständlich bewundern und lesen und dann wieder bewundern usw. usf.), Sacheri sagt heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Argentiniern sei »das Teamdenken schon immer schwergefallen: Als Gesellschaft sind wir individualistisch, chaotisch und ziemlich undiszipliniert. Und so spielen wir auch Fußball«. Im Verlaufe des Turnier allerdings habe sich die Albiceleste jedoch erstaunlich entwickelt. »Unser neuer Stil ist solidarisch, geordnet, geduldig.«

Sacheri tippt übrigens – ich sage doch: guter Mann – auf Sieg ohne Elfmeterschießen. Plappern wir gleich nach.

Und Ihr? Geht’s rein und lest’s Sacheri. Seinen Roman »Papeles en el viento« gibt es – wir sind schlauer als Wikipedia – seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch. Titel: »Vier Jungs auf einem Foto«. Eine herrlich absurde Geschichte.

8.07

CW. Vielleicht verdeutlicht das ein bisschen den Stellenwert, den der Fußball in Argentinien hat: Supermärkte sind hierzulande das ganze Jahr über geöffnet, auch an den beiden Nationalfeiertagen (25. Mai und 9. Juli), auch an Weihnachten und Ostern. Heute schließen sie um 13 Uhr unserer Zeit, drei Stunden vor dem Anpfiff des Endspiels. Dann werden auch wir hier einpacken und aufbrechen in Richtung Obelisk. Dort irgendwo versuchen wir dann, einen Tisch zu blockieren. Im Café habe ich neulich mit meinem Sohn das Elfmeterschießen gegen Holland gewonnen, davon können wir jetzt nicht mehr abweichen. Man muss nur früh genug da sein; denn das Café ist einer der Orte, an denen sich der Argentinier besonders wohl fühlt.

Halbfinale 7

Um sieben, halb acht – kein Elfmeterschießen, nein – strömen wir hinaus auf die Avenida 9 de Julio, die breiteste der Welt, und feiern mit Hunderttausenden, nein, wahrscheinlich zwei bis drei Millionen, den dritten Weltmeistertitel.

Ein guter Plan.

8.19

CW. Falls Sie den Chefreporter vermissen: Der hat sich im Abschlusstraining den Zeigefinger gezerrt und will sich nicht fitspritzen lassen. Der ist heute rund um die Uhr für die Deutsche Welle im Einsatz. Ich soll ganz lieb grüßen.

8.40

La Nación, die zweitgrößte Zeitung des Landes, hat den Argentiniern einige der unheimlich witzigen Fantasie-Schlagzeilen von Deutschlands größtem Hetz- und Dreckblatt übersetzt. »Franziskus tritt aus Scham zurück« – »El papa Francisco abdica de la vergüenza«.  Unter dem Text kommentiert einer: »Die Deutschen machen sichere Pläne – und Gott lacht hinter ihrem Rücken. Sie wissen, wie viele Äpfel am Baum hängen. Aber nur Gott weiß, wie viele Äpfel ein Saatkorn gibt.«

9.20

CW. Wenn wir Weltmeister werden, wird es sehrsehrsehr bitter: Am Montag landet die Mannschaft in Buenos Aires, und ich hebe nach Europa ab. Der jährliche Sommerurlaub. Ich hatte schon vor einem Jahr am Esstisch verkündet: »Ich will die WM in Argentinien erleben! Wir fliegen nach dem Endspiel! Argentinien wird Weltmeister!«

So wurde Montag, der Tag nach der WM, gebucht. Vielleicht hätte ich dazusagen sollen: Ein Land feiert so einen Titel und empfängt seine Helden.

Wie es feiern wird! Am Obelisken und überall! Und ich sitze im Flugzeug nach Amsterdam.

9.27

CW. Genial.

 

9.40

CW. Frage an die Experten: Was machen diese Leute hier in Buenos Aires?

Panini-Tausch

Antwort: Sie tauschen Paninibilder.

Zehn Schritte weiter habe ich mich gestern noch abergläubisch verstärkt und für umgerechnet drei Euro bei einem Straßenhändler diesen schönen Rosenkranz mit Papstanhänger gekauft. »Rosenkranz« heißt auf Spanisch übrigens »rosario«, ja, genau wie die drittgrößte Stadt Argentiniens, in der unter anderem Che Guevara, Leo Messi und die drei berühmten Trainer César Luis Menotti, Marcelo Bielsa und Gerardo Martino geboren … ach ja, hatten wir schon.

Rosario mit papa

9.55

CW.  Eine Mail von vorgestern aus Alemania:

Lieber Christoph!

Soeben habe ich aus der Zeitung erfahren, dass in Brasilien eine Großveranstaltung läuft, deren Sinn darin besteht, eineinhalb Stunden lang Lederkugeln in auf Holzrahmen gespannte Fischernetze zu schießen. Als ich weiter las, erfuhr ich, dass die besten zweiundzwanzig Männer aus Argentinien und Deutschland kommen, und dass in den nächsten Tagen die allerbesten elf Männer durch weitere Schüsse in die Fischernetze ermittelt werden.

Beim Lesen dachte ich sofort an Dich. Denn ich meine mich erinnern zu können, dass Du mit großer Begeisterung solche Lederkugelinsfischernetzwettkämpfe verfolgst.

Und da Du ja nun seit einiger Zeit in Argentinien bist, dachte ich, dass Du nun wohl hin und her gerissen sein musst, welcher Gruppe der Lederkugelspieler Du die meisten Schüsse in die Fischernetze wünschen sollst. So wünsche ich Dir trotz dieses Zwiespaltes einen spannenden Endkampf.

Die WM bekommt nicht nur mir nicht.

Noch sechs Stunden. ¡Vamos Argentina, carajo!

Übrigens: kein Regen mehr. Sonnenschein. Dem Diego Maradona su Wetter.

10.23

CW. Relativiert das holländische Dreinull gegen Brasiliens Zehnkampfnationalmannschaft von gestern Abend eigentlich das 7:1 der Deutschen im Halbfinale? Die Frau kam ja von diesem Spiel ganz begeistert nach Hause und fragte, ob ich schon mal dieses tolle Lied gehört hätte. Dann sang sie: »Oh, wie ist das schön.« Natürlich, das Lied wurde schon gesungen, als Uwe Seeler noch spielte. Aber wie sollte ich ihr das sagen? Den kennt sie doch gar nicht.

Wir haben auch die geileren Lieder.

 

Kurze Pause. Muss Olé kaufen.

11.25

CW. Der Oléverkäufer hier im Viertel hat mir gerade die Ohren lang gezogen, weil ich für Argentinien bin. »Patriotismus ist kein Geschäft. Man leugnet nicht sein Vaterland.« Als er nach 15 Minuten beim Wählen als demokratische Pflicht landete, musste ich wirklich los.

11.29

CW. Mein Freund Vicente, der klügste Argentinier unter 30, schickt eine SMS:

Buen día!!! Me levanté de muy buen humor. Ganamos 2:0. – Guten Tag!!! Ich bin mit sehr guter Laune aufgestanden. Wir gewinnen 2:0.

11.50

CW. Ich habe Vicente mal gefragt, welches Bild die Argentinier von Deutschen und Deutschland haben. Hier seine Antwort, die ich übersetzt habe:

Argentinische Oberschicht: hält die Deutschen für sehr gut gebildet und geschäftstüchtig; denkt bei Deutschland an die großen Denker und die bedeutende Kultur; Deutschland ist für diese Argentinier ein Vorbild, das Ideal eines Landes.

Argentinische Mittelschicht/Arbeitklasse: hält die Deutschen für pedantisch, gewissenhaft und extremst pünktlich; kennt bestimmte Marken wie Mercedes und BWM, ohne genau zu wissen, wo die hergestellt werden; verbindet mit Deutschland Strudel oder etwas anderes typisch Deutsches.

Argentinische Unterschicht: hält alle Deutschen für blond, groß und dünn; denkt bei Deutschland an Bier und neuerdings auch an Fußball.

(Hinweis von mir: In Argentinien geht man unbefangener mit dem Schichten-Begriff um.)

12.10

CW. Angestachelt von ihrer Mutter, provozieren die Kinder.

Vizeweltmeisterfahne

12.15

CW. Wie gut hat es unser Chefreporter: Der dreht schon den ganzen Tag unter Argentiniern. Ist bestimmt lustig, oder?

MC. Ja. Lustig. Die haben das Gleiche genommen wie Du. Sie glauben, sie seien Weltmeister.

12.40

CW. Wir kommen allmählich zum Schluss, ich muss los. Ich treffe mich um 14 Uhr unserer Zeit, zwei Stunden vor dem Anpfiff, mit Cristian am Obelisken. Cristian und ich sind im vergangenen Oktober mit zwei Millionen anderen Irren 70 Kilometer von Buenos Aires nach Luján gepilgert, zur Heiligen Jungfrau. Start morgens um halb elf, Ankunft kurz vor halb drei nachts. Ich wollte die Geschichte immer mal erzählen, hatte sie schon fast fertig, dann fiel ein Buch auf den Laptop und zerstörte die Festplatte. Kein Backup, natürlich nicht.

Wallfahrt 3

Wallfahrt 2  Wallfahrt

Wallfahrt 4

Mit Cristian

12.47

CW. Helge, unser Freund vom Blog Me llaman Jorge, hat an uns gedacht und einen wunderbaren Text geschickt, der auf Facebook unterwegs ist. Man kann ihn leider nicht ins Deutsche übersetzen. Es ist eine Erzählung, in der die Namen der argentinischen Nationalspieler ähnliche Wörter ersetzen. Man versteht es erstaunlicherweise trotzdem.

Hoy me desperté Mascherano q nunca, Higuaín q todos los dias, me Lavezzi la cara, me puse las Zabaleta, me preparé el mate con unas hojitas de Romero. Elegí al azar una página de la Biglia q hablaba Dimaria y del Messias, Basanta palabra!!! Me puse mi gran saco Rojo, para salir y me pareció q tenía un Agüero en la manga, Garay q susto!!! No era nada.. En la esquina estaba un Campagnaro querido q Andujar siempre en un Orion, nos desencontramos! Por telefono le dije: te pedi q mes Perez alli!!! Por suerte Rodriguez el del Maxikiosco, le hizo una seña y nos encontramos finalmente frente al Palacio. Mas tarde, café de por medio, le dije entre otras cosas: – mira; no me Gago ante los alemanes… el domingo ganamos, SABELLAAA!!!!

¡Vamos Argentina, carajo!

¡Hasta luego. ¡Nos vemos! Beso grande.

Rumpelfußball reloaded

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Die zugegeben attraktive Dienstkleidung der Argentinier war noch kein bisschen beschmutzt, da hatten die Kommentatoren von Canal 7 schon die Erklärung parat: Der Boden im Stadion von São Paulo sei viel zu hart. Keineswegs liege es an den begnadeten argentinischen Fußballern, wenn der Umgang mit dem Spielgerät bisweilen etwas ungewöhnlich wirke. Wenn man zum Beispiel mal wieder nicht wusste, ob der Mann in weiß-himmelblau jetzt stoppen oder einen weiten Pass spielen wollte.

Dazu muss man wissen, dass Canal 7 das hiesige Staatsfernsehen und gleich nach Mate und Fernet-Cola eine der übelsten argentinischen Erfindungen ist. Zwischen Videoclips mit Regierungspropaganda senden sie ein bisschen Fußball und reden den schön, sofern es sich um das eigene Team handelt. Natürlich auch den Grottenkick gegen die Schweiz.

 

Nach diesem Spiel schickte der Hausherr CW, der von Fußball noch mehr versteht als von Marketing, eine SMS: »Noch dreimal so eine Scheiße, und wir haben den Pokal!«

Das klang irgendwie erschöpft. Aber Erschöpfte neigen ja dazu, große Dinge gelassen auszusprechen – unser MC Merte in der Eis-Eis-Tonne kann sozusagen ein Lied davon singen:

 

Und schon sind sie wieder da, die alten Geister.

Mit freundlicher Genehmigung von Härringers Spottschau (c)                              zum Vergrößern aufs Bild klicken

Keine zehn Tage ist es her, dass die Holländer gemeinschaftlich mit den Chilenen die Erfinder des schönen Fußballs getötet haben. Und schon ist er wieder salonfähig: der Rumpelfußball. (Es lohnt sich übrigens, Wikipedia nach »Rumpelfußball« zu fragen. Ich konnte nicht glauben, was ich da gesehen habe. (Grüße an die Kameraden von heftig.co!)

Hauptsache gewonnen ist wieder schick: zur Not auch mit einem »0,5 : 0«, wie Brasiliens Heulboje Neymar Junior gerade erklärt hat. Thomas Müller brandredet für »irgendwie gewinnen«, und das Fachblatt für den langen Ball in die Spitze lobt den »Schrottfußball«. Solange er erfolgreich ist. Die Rehabilitation des Rumpelfußballs feiert fröhliche Urständ.

Nur noch eine Frage der Zeit, wann die Fachpresse eine Wildcard für Griechenlands Finalteilnahme fordert.

Doch während wir dem Spirit von Mexiko, Chile und den USA nachtrauern und uns fit machen, Kolumbien und Belgien in die nächste Runde zu singen, kommt plötzlich Zuspruch von einer Seite, von der wir es nie erwartet hätten: von IHM. Dem, den sie hier für den ALLERGRÖSSTEN halten. ER also spricht zu uns: »Ich aber sage Euch: Wir können nicht immer nur der Sportclub Messi sein!« Und dann liest ER dem Übungsleiter Alejandro Sabella mal so richtig die Leviten.

ER will auch keinen Rumpelfußball. Dass ich das noch erleben darf!

Gracias, Diego!

*****

Härringers Spottschau hat uns freundlicherweise erlaubt, seinen Cartoon zu benutzen. Vielen Dank!

 

Im Hafen von Alcúdia: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche

von WACHO CHORRO (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Stammleser Wacho Chorro bloggt bei den Borrachos Bornheim. Sein erster Beitrag im WM-Tagebuch steht hier.

*****

Das nenne ich Glück: Die Weltmeisterschaft genieße ich auf den Balearen, fernab der unsäglich deutschen TV-Kommentatoren. Die spanischsprachigen Vertreter der Zunft leben das Spiel und vor allem die Tore geringfügig mehr. Geguckt werden die Partien der Albiceleste, unserer weißhimmelblauen Nationalelf, im El Bodegón, einer argentinischen Bar im Hafen von Alcúdia. Da fast alle Argentinier hier in der Tourismusbranche arbeiten, wechselt die Besetzung natürlich von Spiel zu Spiel. Aber die Stimmung ist trotzdem jedes Mal prächtig, wie mein jüngster Lauschangriff beweist:

 

 

Foto

Wir schenken uns diesmal 117 Minuten Erinnerung an das Achtelfinalspiel gegen die Schweiz und beginnen gleich mit dem Tor von Ángel Di María nach schönem Dribbling von Leo Messi. Welch Erlösung!

 

Die Kumpels reißt es so heftig hoch, dass ihre Stühle nebenan beim Souvenir-Laden zwei große Ständer umwerfen. Also gehen wir hinüber und bitten um Entschuldigung – nein, natürlich nicht. Nicht jetzt. Später vielleicht. Wenn wir’s vor Freude über den Einzug ins Viertelfinale nicht vergessen. Die Kumpels sind sowieso schon anderweitig beschäftigt, sie rennen wie die Irren herum, und die Händler gucken da gleich noch finsterer. Es droht eine Eskalation. Ich muss etwas tun. Wacho, zeig dich von deiner besten Seite!

Meine körperliche Erscheinung beruhigt augenblicklich die Lage.

Die Partie kann wohl regulär beendet werden, aber die letzten Minuten haben es in sich. Die Schweiz greift an und trifft nur den Pfosten. Eine alte argentinische Gaucho-Regel besagt übrigens: Je enger das Spiel, umso härter die Flüche. Hören wir mal, ob sie stimmt:

 

Wir werden danach noch zu einer Freifahrt mit der Touri-Bimmelbahn durch den Ort eingeladen – zum Leidwesen der anderen Passagiere. Aber ein Ende unseres Ausnahmezustands ist ja absehbar: Nur noch drei Siege, und wir sind durch! Welt-meis-ter! ¡Vamos Argentina, carajo!

Bimmelbahn

WM-Gezwitscher (5)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

(Wenn Argentinien heute nicht brillant spielt, ist das meine Schuld. Ich muss den Ort wechseln, an dem ich die Partie gucke. #Aberglaube)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Flohristen: Wie César Luis Menotti, der verrückte Bielsa, Tata Martino und der Papst Argentinien zum Weltmeister machen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Mit dem FC Barcelona hat Leo Messi in dieser Saison nichts gewonnen, nicht die Champions League, nicht die Meisterschaft, nicht einmal den Königspokal. Selbst Weltfußballer ist ein anderer Spieler geworden. Bislang hatten so genannte Experten die Schwächephase des Argentiniers mit anhaltendem Verletzungspech, gesundheitlichen Problemen oder schlaflosen Nächten nach der Geburt seines erstes Sohnes Thiago erklärt. Nun aber sind dem Argentinischen Tagebuch über verschiedene Kanäle Dokumente zugespielt worden, die eine andere Deutung nahelegen.

Alles war offenbar nur ein großer Bluff.

Vieles spricht dafür, dass es einen argentinischen Geheimplan gegeben hat, um Messi vor der Weltmeisterschaft in Brasilien eine Krise anzudichten und auf diese Weise die Konkurrenz zu täuschen. Das ganze Ausmaß des Betrugs ist bislang nur zu erahnen. Fest steht aber: Drei bekannte argentinische Fußballtrainer sind darin verstrickt. Und Spuren führen auch in den Vatikan.

Ein Heer von Investigativjournalisten hat die Dokumente über Wochen ausgewertet. Dem Argentinischen Tagebuch ist es nun möglich, die Geschehnisse der vergangenen eineinhalb Jahre zu rekonstruieren.

Bar von Messis Eltern in Rosario

Die Bar von Messis Eltern in Rosario (mit dem Schatten des Flohs)

Die Beteiligten

Trainer

  • Marcelo Bielsa, geboren 1955 in Rosario (Argentinien), argentinischer Nationaltrainer von 1998 bis 2004, Spitzname: El Loco Bielsa, Der verrückte Bielsa
  • Gerardo Martino, geboren 1962 in Rosario (Argentinien), zuletzt beim FC Barcelona, Spitzname: Tata, Väterchen
  • César Luis Menotti, geboren 1938 in Rosario (Argentinien), argentinischer Nationaltrainer von 1974 bis 1982, Weltmeister 1978, Ex-Kettenraucher, Spitzname: El Flaco, Der Dünne
  • Diego Simeone, geboren 1970 in Buenos Aires (Argentinien), Ex-Nationalspieler, Trainer von Atlético Madrid, Spitzname: Cholo, Mestize
  • Carlo Ancelotti, geboren 1959 in Reggiolo (Italien), seit 1976 Trainer, aktuell bei Real Madrid, Spitzname: Carletto
  • Carlos Bilardo, geboren 1939 in La Paternal (Argentinien), Studium der Gynäkologie, argentinischer Nationaltrainer von 1983 bis 1990, Weltmeister 1986, Spitzname: Doctor

Spieler

  • Lionel Messi, geboren 1987 in Rosario (Argentinien), Star des FC Barcelona und Kapitän der argentinischen Nationalmannschaft, viermaliger Weltfußballer, Spitzname: La Pulga, Der Floh
  • Cristiano Ronaldo, geboren 1985 in Funchal, Madeira (Portugal), zweimaliger Weltfußballer, Spitzname: CR7

Sonstige Beteiligte

  • Jorge Mario Bergoglio, geboren 1936 in Buenos Aires, Papst seit 2013, Spitzname: Franziskus
  • Stallbursche Pepe, keine weitere Informationen vorhanden
  • Taschendiebe von der Plaça Catalunya, keine weiteren Informationen vorhanden

*****

26. Februar 2013

Mexikanische Zigaretten und die große Grillplatte

Buenos Aires • César Luis Menotti, genannt El Flaco (Der Dünne), Gerardo Tata (Väterchen) Martino und Marcelo Bielsa, bekannt als El Loco (Der Verrückte), treffen sich zufällig bei einem Pferderennen in der argentinischen Hauptstadt. Sie haben sich lange nicht gesehen, umarmen einander wie Freistilringer und küssen sich auf die Wange. Es wird das letzte Treffen ohne angeklebte Bärte, verspiegelte Sonnenbrillen und alberne Hüte sein. Die drei berühmten Trainer, die wie Leo Messi aus der Hafenstadt Rosario stammen, vertiefen sich in ihre Wetthefte und tauschen sich kurz über das 14. Rennen aus. Oder tun sie bloß so? Ist das alles schon Täuschung?

Die Galopprennbahn in Buenos Aires

Keine halbe Stunde später hocken sie im Heu eines Pferdestalls neben der Rennbahn. Den Stallburschen Pepe hat Menotti zum Zigarettenholen ans andere Ende der Stadt geschickt. Nur dort gibt es diese seltene mexikanische Marke, die er früher so gern geraucht hat.

»Also, ich habe überhaupt keine Lust auf die WM in Brasilien«, sagt Martino.

»Spätestens im Viertelfinale ist sowieso wieder Schluss, Messi hin oder her«, sagt Bielsa.

»Oder wie 2002 in der Vorrunde, mein lieber Marcelo«, sagt Menotti und kneift die Augen zusammen. »Aber falls einer von euch glaubt, dass Argentinien diesmal den richtigen Trainer hat, würde ich mich an dieser Stelle verabschieden.«

Stille. Schweigen. Minutenlang.

»Sabella?«, fragt Martino plötzlich.

»So heißt der, glaube ich«, sagt Menotti. »Ich schlage also vor, dass wir einen Plan machen. Von unserer Elf wird immer viel zu viel erwartet. Ich sage immer: Das Geheimnis des Fußballs ist Zeit, Raum und Täuschung.«

◊◊◊◊◊◊◊

Zwei Tage später sitzen die Drei in Menottis Lieblingssteakrestaurant. Die große Grillplatte wird bestellt: zwei Hände voll Innereien, sechs Blutwürste, drei Choris, ein Kilogramm Vacío, ein Riesenklumpen Rinderfilet, ein halber Meter Matambre und 500 Gramm Rumpsteak für jeden.

»Ich habe nachgedacht«, sagt Menotti. »Jemand muss bis zur WM dicht an Leo dran sein. Quasi rund um die Uhr. Aber ich war ja schon Trainer von Barça.«

»Und mich wollen sie vielleicht nicht«, sagt Bielsa.

»Nein, ganz sicher.«

Die beiden schauen zu Martino, der gerade seine zweite Blutwurst aufschneidet.

»Ich … tja … warum eigentlich nicht?«

»Gut, Tata, dann lege ich ein gutes Wort für dich ein; bereite schon mal deine Familie auf den Umzug vor. Ist ja nur für ein Jahr«, sagt Menotti und greift nach seinem Feuerzeug mit dem Konterfei von Che Guevara.

»Flaco, Rauchverbot!«

»Ein Menotti geht nicht nach draußen, Loco.«

◊◊◊◊◊◊◊

23. April 2013

Der Heilige Vater ist dabei

Rom • Der Papst erwartet Menotti, Bielsa und Martino − oder um genau zu sein: Er erwartet drei Spieler seines Lieblingsklubs San Lorenzo, die vor ein paar Tagen angeblich um eine Audienz gebeten haben. Leandro Romagnoli raucht noch hektisch eine Zigarette, Germán Voboril und Mauro Cetto schütteln die Köpfe. Zwei Jahre hatte er durchgehalten, hin und wieder eine Zigarre, das ja, aber keine Zigaretten mehr. Und nun: wieder Kette.

»Wollen wir?«

»Cheee, hübsche Hüte! Ich hätte euch fast nicht erkannt«, sagt Franziskus zur Begrüßung und bereitet sogleich einen Mate zu. »Auf jeden Fall eine gute Entscheidung. Bei uns hier bleibt ja auch nicht mehr viel geheim.«

Nachdem Menotti, Bielsa und Martino eine halbe Stunde lang in allen Einzelheiten über die argentinische Liga und weitere 15 Minuten über die zweite und dritte Liga referiert haben, lehnt sich Franziskus zurück und fragt: »Che, warum seid ihr eigentlich hier? Ist was mit Diego? Hat er wieder dummes Zeug angestellt oder genommen? Che, ihr wisst, ich kann dem Kerl einfach nicht böse sein. Ich meine, Mexiko 1986, wisst ihr noch? Ja, Flaco, mein Sohn, schon gut, der Bilardo saß damals auf der Trainerbank, wir hätten natürlich auch ohne ihn gewonnen. Was macht eigentlich el Doctor heute, weiß das jemand? Aber hört mal: Diegos zwei Tore gegen die verdammten Malwinendiebe … Verzeihung. Also, ich gucke mir die ja öfter auf Youtube … worüber wolltet ihr mit mir sprechen?«

 

Menotti redet. Und redet. Und redet. Er analysiert Weltmeisterschaft um Weltmeisterschaft; die Neunziger: Andi Brehmes Elfmeter − RumänienBergkamp, dieser Sohn einer Hure; die nuller Jahre: 0:1 gegen England (strenger Blick zu Bielsa) und Lehmanns Zettel im Strumpf. Kurzes Abhusten. Südafrika 2010: schon wieder Deutschland. Nullvier. Als Menotti ganz am Ende seines Vortrags auf Sabella zu sprechen kommt, winkt selbst der Papst ab.

Seine Heiligkeit erteilt dem Geheimplan umgehend seinen Segen und schlägt außerdem vor, gemeinsam zu beten. Den Dokumenten zufolge warnt er aber auch: »Che, verratet bloß nichts Cristina. Ihr wisst ja, unsere Präsidentin quatscht viel. Vor allem im Fernsehen.« Dann begleitet Franziskus Menotti, Bielsa und Martino hinaus und sagt zum Abschied: »Wenn alles geklappt hat, kommt ihr aber mit der ganzen Truppe und dem hübschen Pokal bei mir vorbei, oder?« Als die Tür geschlossen ist, hören die Trainer, wie der Papst mit fester Stimme singt:

Olé, olé, olé, olé, olé, olé, olá / Olé, olé, olé, cada día te quiero más. / Soy argentinooooo, es un sentimientoooo, no puedo paraaaaaaaar. ¡Vamos Argentina, carajo!

(Olé, olé, olé, olé, olé, olé, olá / Olé, olé, olé, jeden Tag liebe ich dich mehr. Ich bin Argentinier, das ist ein Gefühl, ich kann nichts dagegen tun. Vorwärts, Argentinien, verdammt noch mal!)

 

◊◊◊◊◊◊◊

Sommer 2013

Messi trainiert zu viel

Barcelona • Leo Messi freut sich, dass Gerardo Martino sein neuer Trainer in Barcelona werden wird. Guter Mann! Hat Newell’s Old Boys aus Rosario, seinen Heimatklub, mit schönem Fußball zur argentinischen Meisterschaft geführt. Der beste Fußballer der Welt ahnt nichts. Er wundert sich allerdings, dass plötzlich spanische Steuerfahnder hinter ihm her sind. Angeblich soll er Millionen am Finanzamt vorbeigeschleust haben. Es ist die erste große Finte, und sie entstammt dem Hirn des Verrückten. Ein Freund des Bruders, dessen Neffe eine Tankstelle in Rosario besitzt, bei der Bielsas Tochter Inés regelmäßig den Reifendruck ihres Golf (Baujahr 2005) prüfen lässt, ist vor Jahren nach Spanien ausgewandert und kennt jemanden im Finanzministerium. Der Rest: ein Anruf und eine halbe Minute lang das Klacken der Computertastatur in irgendeiner Behörde.

Menotti und Martino sind beeindruckt. In Argentinien hätten sie so etwas auch hinbekommen. Aber das hier ist Europa.

»Ich habe kürzlich schon mal geübt«, sagt Bielsa. »Steuerhinterziehung ist übrigens kein Kavaliersdelikt, Freunde. Aber jetzt sollten wir endlich mit Leo reden.«

»Unbedingt«, sagt Martino, der neue Trainer des FC Barcelona. »Der trainiert viel zu gut.«

◊◊◊◊◊◊◊

Menotti soll das Gespräch führen. Das Ding mit den Zigaretten − seltene mexikanische Marke, hahahaha − war echt gut. Der Stallbursche Pepe sucht wahrscheinlich immer noch, wurde jedenfalls nie wieder gesehen. Aber dieser Geniestreich ist auch schon wieder Monate her. Und reden kann El Flaco nun mal wie kein anderer. Selbst Franziskus hat er rumgekriegt.

Er wird reden, wie er immer spielen lassen hat: offensiv. Er ist doch nicht Bilardo!

»Leo, du hast nun schon zweimal die Champions League gewonnen.«

»Dreimal.«

»Das reicht ja erst mal, ne?«

»Nein.«

»Und Weltfußballer warst du auch schon viermal. Musst du es unbedingt ein fünftes Mal werden?«

»Ja.«

»Ich meine: in dieser Saison?«

»Ja.«

Menotti zündet sich eine Zigarette an und richtet sein Haar mit der Hand.

»Aber das wäre doch langweilig, Leo.«

»Für mich nicht.«

»Aber weißt du, dann musst du wieder den Schlafanzug anziehen, und darin siehst du doch immer blöd aus.«

»Finde ich nicht.«

Menotti denkt: Menotti, du Sohn einer Hure, du hast auch schon mal stärker argumentiert.

»Ach Leo, jetzt hör mal zu: Weltmeister, darauf kommt es an. Das zählt. Ohne WM-Titel wirst du nie so groß wie Diego. Und ich.«

»Meinen Sie?«

»Sicher.«

Menotti verspricht, sich persönlich um das Problem mit den hinterzogenen Steuern zu kümmern. Im Gegenzug versichert ihm Messi, in dieser Saison nicht auf Titeljagd zu gehen. Handschlag. Umarmung. Kein Vertrag.

»Du wirst es nicht bereuen, glaub mir. Alle werden dich für einen Waschlappen halten. Und alle werden in Brasilien dafür bezahlen.«

»War das mit Señor Uli eigentlich auch euer Werk?«

»Du stellst zu viele Fragen, Floh.«

◊◊◊◊◊◊◊

4. August 2013

Spielt CR7 mit?

Madrid/Buenos Aires • Und wer redet jetzt mit Cristiano Ronaldo? Keiner will. Aber jemand muss. Denn alle haben Angst, dass einer der 25 Imageberater des Portugiesen Verdacht schöpft angesichts der plötzlichen Überlegenheit ihres Klienten.

»Das fällt doch auf. Cristiano ist ja bloß der Zweitbeste. Er selbst weiß es nicht, aber die ganze Welt, die schon. Es wäre viel zu riskant, ihn nicht einzuweihen«, sagt Menotti laut Gesprächsprotokoll am 23. August bei einem Treffen in einem Parkhaus in Barcelona. Seine Kollegen nicken. »Also, ich war ja schon bei Leo und beim Papst dran.«

Martino und Bielsa spielen Schnick, Schnack, Schnuck. Martino verliert mit Papier, weil Bielsa im letzten Augenblick die Faust öffnet und eine Schere macht. »Ich weiß gar nicht, wo ich den Kerl finde«, sagt der neue Barça-Trainer. »Ich kann doch nicht einfach in die Umkleide von Real Madrid spazieren.«

Drei Tage später setzt ein Taxifahrer den verkleideten Tata − weißes Trikot mit der Rückennummer 7, falscher Vollbart, Riesenschinken im Arm − vor dem berühmtesten Schönheitssalon Madrids ab. Ronaldo sitzt bei der Pediküre und trägt das gleiche Trikot wie der Mann, der sich ihm auf Zehenspitzen nähert.

»Darf ich stören?«

»Ich wechsele nur zu euch, wenn ich mehr verdiene als der Argentinier.«

»Aber du passt doch gar nicht in unser System.«

»Ohne den Argentinier wäre es ein ganz anderes System.«

»Señorita, würden Sie uns bitte kurz allein lassen?«

Ronaldo, das zeigt die Gesprächsnotiz, die Martino im Nachhinein angefertigt hat, hört sich den Geheimplan an, erbittet Bedenkzeit und willigt nach eineinhalb Minuten ein. Er lächelt, steigt aus der Schüssel mit dem lauwarmen Wasser und macht etwas mit den Armen. Er scheint das Hochheben von Pokalen verschiedener Größe zu üben, so kommt es Martino jedenfalls vor. Dabei murmelt er vor sich hin: »La Décima, Mama, La Décima … größer als Di Stéfano … als Raúl sowieso … blöder Blatter … Ronaldo Madrid Club de Fútbol.«

Dass Ronaldo am Ende der Saison nach einem bedeutungslosen Tor im schon gewonnenen Finale der Champions League sein Trikot auszieht, hat sich Martino spontan schriftlich zusichern lassen. Es wird sein größter Coup werden. Eine Jahrhundertszene. Eine Botschaft für Eingeweihte. Guckt hin: unser Hampelmann! Der Vertrag, geschrieben auf dem Briefpapier des »Salón de Los Hombres Más Bonitos del Mundo«, liegt dem Argentinischen Tagebuch ebenfalls in Kopie vor.

 

Martino ist euphorisiert, als er wieder im Taxi sitzt. Er befühlt das Schriftstück im Brustbeutel unterm Trikot, ruft Menotti in Buenos Aires an und schreit: »Ich fliege gleich weiter nach München und rede mit Franck!«

»Nein, nicht nötig. Mach dir um den keine Sorgen, und um die Bayern erst recht nicht. Tiki-Taki ist vorläufig am Ende. Pep weiß es nur noch nicht.«

◊◊◊◊◊◊◊

September 2013

Der Dünne dreht durch

Barcelona/Buenos Aires • Messi spielt mit jeder Partie schlechter, also besser. Natürlich: 99 Prozent aller Fußballspieler wären noch immer froh, nur ein paar Minuten im Leben so gut zu sein wie Messi, wenn er furchtbar schlecht ist. Aber manchmal steht er jetzt im Mittelkreis herum, dieser freche Kerl. Er läuft wenig. Er lässt die Schultern hängen. Er lässt sich beim Dribbeln den Ball klauen. Er lässt Pässe nicht ankommen. Er lässt sich sogar auspfeifen.

Nur ab und zu, wenn er’s offenbar nicht verhindern kann, schießt er Tore. Als ihm am 18. September 2013 als erster Spieler zum vierten Mal ein Dreierpack in der Champions League gelingt, hat er in der Kabine eine SMS von Menotti auf dem Handy: »Spinnst du? Reiß dich zusammen, Mädchen aus Rosario!« Menotti ist bereit, alles auffliegen zu lassen. Er müsste ja nur mit dem Finger schnippen. Die Journalisten stehen doch Schlange. Die ganze Welt will ihn befragen. Dauernd soll er sagen, wer nun der größte Spieler aller Zeiten sei, was er über Pep Guardiola denke, wie linker Fußball aussehe.

»Sind mir abgerutscht, die Bälle, Señor. Ich mach’s wieder gut. Abrazo grande.«

◊◊◊◊◊◊◊

Januar 2014

Gimme All Your Lovin’

Lausanne • Bei der Wahl zum Weltfußballer am 13. Januar wird Messi, der übrigens wieder einen scheußlichen Anzug trägt, Zweiter hinter Ronaldo. Zur Sicherheit ist am Vorabend der Verkündung in der Fifa-Zentrale ein schwarzer Koffer aus Buenos Aires eingetroffen − a manos del Presidente Joseph S. Blatter.

Barcelona • Martino ordnet auf Barças äußerstem Nebenplatz ein Straftraining an und lässt Messi zwei Stunden lang das Freistößeverschießen üben. Mit Medizinbällen. Im Tor stehen zwei Männer mit ZZ Top-Gedächtnisbärten und spielen Luftgitarre. Messis Quote ist trotzdem unterirdisch.

»Das wird nie was«, sagt der eine Luftgitarrist zum anderen, faustet einen Medizinball zur Seite und verliert dabei seine Kippe. »Übermorgen ist schon Dribbeln dran.«

In den großen Zeitungen erscheinen die ersten Nachrufe. Die Fachwelt rätselt über Messis Schwäche. Vielleicht ist im Augenblick alles zu viel für das argentinische Genie: die Sache mit den Steuern, der schreiende Sohn nachts, die Verletzungen, das rätselhafte, wahrscheinlich psychosomatische Erbrechen. Dass sich Messi neuerdings auf dem Platz übergibt, hatte sich natürlich der verrückte Bielsa überlegt. Dr. Bilardo hatte sehr unangenehme Frage gestellt (»Warum für Übelkeit?«, »Was ist mit dem Wada-Code?«), aber schließlich doch von einem seiner früheren Masseure eine Trinkflasche vorbeibringen lassen.

Martino ist wegen des Platzwarts vom Camp Nou allerdings immer noch dagegen.

 

◊◊◊◊◊◊◊

9. Kalenderwoche 2014

Rumgeeier am Telefon

 5. April

Madrid/Barcelona • Cristiano Ronaldo ruft mit unterdrückter Nummer nacheinander Menotti, Bielsa und Martino an. Er sagt jedes Mal: »Hier spricht CR7, eine Frage: Könnte unser Vertrag auch für die Weltmeisterschaft gelten? Ich bin gerade sehr gut in Form. Und den Argentinier würde ich dann im Gegenzug die nächsten zwei Jahre alles gewinnen lassen.«

Die Antworten der Trainer können an dieser Stelle nicht jugendfrei wiedergegeben werden.

6. April

Barcelona/Buenos Aires • Tata Martino beschafft sich über Bielsas Tankstellen-Connection ein abhörsicheres Prepaid-Handy, telefoniert zwei Stunden lang mit Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid, und bemalt dabei ein Blatt Papier. Kurz danach klingelt Simeones Telefon abermals. »Menotti hier. Ja, der Dünne. Alter, schreib dir mal den folgenden Satz auf und lern ihn auswendig: Ich möchte den Müttern der Spieler von Atlético Madrid danken, dass sie sie mit solch großen Eiern geboren haben.«

7. April

Barcelona • Nach dem Training fährt Martino nicht nach Hause, sondern zur Plaça de Catalunya im Stadtzentrum. Unterwegs hat er sich an einer roten Ampel umgezogen, er sieht nun wieder aus wie damals bei Ronaldo im Schönheitssalon. Sogar der Riesenschinken ist noch dabei. Der berühmte Trainer spricht drei Jungs an, als sie gerade einen deutschen Touristen beklauen wollen, und überredet sie zu einem Klingelstreich. Die Adresse schreibt er ihnen auf einen Zettel.

»Ganz schön weit weg. Das kostet aber.»

Martino nimmt schweren Herzens Abschied vom Riesenschinken.

9. April

Madrid • Vier Stunden vor dem Anpfiff des Viertelfinalrückspiels verschickt Martino eine Mail mit pdf-Anhang an diego.simeone@atleti.es.

Barcelona verliert gegen Atlético Madrid 0:1 und scheidet aus. Diego Simeone gibt den Eiermann. Bielsa fängt Martino nach der Pressekonferenz ab und fragt: »Warum hat Leo nicht gespielt?«

»Hat er doch.«

Die beiden Argentinier kichern um die Wette.

◊◊◊◊◊◊◊

16. Kalenderwoche

Ein dankbarer Italiener

14. April

Barcelona/Madrid/Rom • Martino bekommt ein neues Prepaid-Handy (das alte hatte er auf Anraten Menottis zertrampelt) und telefoniert zwei Stunden lang mit Carlo Ancelotti, dem Trainer von Real Madrid. Wieder malt er Strichmännchen, Pfeile und Zahlen.

carlo.ancelotti@real-madrid.es an tata@barcelona-cf.es: »Grazie mille, amico intimo!«

Der Papst wählt um 0.14 Uhr, 0.19 Uhr und 0.45 Uhr die Nummer vom Festnetzanschluss der Familie Messi in Barcelona und legt jeweils nach dem sechsten Klingeln auf.

16. April

Valencia • Martino lässt im Mannschaftsbus auf dem Weg zum Estadio Mestalla die Greatest-Hits-CD von ZZ Top einlegen. Barcelona verliert das Königspokalfinale gegen Real Madrid 1:2. Messi schießt dreimal neben und zweimal übers Tor.

◊◊◊◊◊◊◊

8. Juni 2014

Finale Fragen

Buenos Aires • Am Abend vor dem Abflug der argentinischen Nationalmannschaft nach Brasilien treffen Menotti, Bielsa und Martino ein letztes Mal Leo Messi. Sie sitzen in der leeren Umkleide und schweigen lange.

»Halt deine Form!«, sagt Martino schließlich und erhebt sich.

»Aber um Himmels willen nur bis zum Achtelfinale«, sagt Bielsa und klopft Messi auf die Schulter.

»Und vergiss die anderen im Team, die meisten taugen eh nichts«, sagt Menotti und hält seinen Stalin-Schnurrbart fest.

»Señor Menotti, ich darf also Weltmeister werden?«, fragt Messi.

»Ja, mein Junge«, sagt Menotti. »Verdammt, wo bleibt der Sabella mit meinen Zigaretten?«

 

Video eingeschickt von Helge vom Blog Me llaman Jorge

Leo Messi und die argentinische Volkskrankheit

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Es ist ein Sieg, der Philosophen glücklich macht. Sekunden nach dem Abpfiff hat der argentinische Freund, der gern in Europa leben würde, eine SMS geschickt: »Wir Argentinier warten immer auf den Heiland. Es gibt keine Mannschaft.«

Nur Leo Messi mit seinem Traumtor hat die weißhimmelblaue Nationalelf am Sonnabend vor einem peinlichen Unentschieden gegen Iran bewahrt. Irgendjemand hat mal gesagt: Wenn Diego Maradona Neuseeländer wäre, hätte Neuseeland 1986 in Mexiko den Titel geholt. Die Weltmeisterschaft gewann Argentiniens ewiger Goldjunge mit einer eher durchschnittlichen Mannschaft um sich herum.

 

 

Argentinier folgen gern, und wenn der, dem sie lange gefolgt sind, sie enttäuscht, folgen sie dem Nächsten, obwohl, nein: weil der das Gegenteil verspricht. Er stilisiert sich selbst dann zum Antipoden, wenn er lange dem Enttäuschenden nachgelaufen ist.  Wer ist im Augenblick Argentiniens Oppositionsführer, der Gegenspieler der Präsidentin Cristina Kirchner und einer der aussichtsreichen Kandidaten auf ihre Nachfolge, wenn im Oktober 2015 gewählt wird? Sergio Massa. Wer war Massa? Vor ein paar Jahren arbeitete er als Kabinettschef der Präsidentin, war also Kirchners – zumindest dem Organigramm nach – wichtigster Mann. Er koordinierte ihr die Regierungsgeschäfte. Heute ist er Antikirchnerist und versammelt um sich auch enttäuschte Kirchneristen.

Erscheinungen wie diese – Heiland Messi, Hoffnungsträger Massa – sind auch ein Erbe des dreimaligen Präsidenten Juan Domingo Perón. Mitte der vierziger Jahre beginnt sein Aufstieg, er gibt den Anpacker und Erlöser. Er erkennt, dass er Wahlen gewinnen kann, indem er Massen begeistert: Argentiniens Arbeiter und Argentiniens Arme. Schon vorher als Arbeitsminister hat Perón einen gewaltigen Ruf: Er ist der »Repräsentant eines hemdsärmeligen, informellen politischen Stils«1, der auf demokratische Spielregeln pfeift. Und er hat Evita. Peróns zweite Frau reist durch dieses riesige Land, verteilt Fahrräder, Puppen, Betten, Schuhe und Gebisse, eröffnet Krankenhäuser und Schulen, sie wirft Geldscheine aus dem Zug und ist Trauzeugin Tausender Paare. Wer Evita begegnet, der fühlt sich »vom Zauberstab einer Heiligen berührt«, wie die Journalistin und Buchautorin Silvia Mercado sagt. Ende der vierziger Jahre erhält die Arbeiterklasse zum ersten Mal Rechte: den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, den bezahlten Urlaub. »Perón cumple, Evita dignifica«, heißt die berühmte Parole dieser Zeit. »Perón schafft es, Evita verleiht Würde.«

Peronistische Garde

Vier peronistische Präsidenten und die Erste Dame: Héctor Campora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner (v.l.)

Perón, ein Revolutionär und Populist, hat den Staat vermeintlich allmächtig gemacht. Seine Anhänger singen bis heute, oft unter Tränen: »Perón, Perón, wie großartig du bist!/Mein General, wie wertvoll du bist!/ Perón, Perón, großer Führer,/Du bist der erste Arbeiter!« Doch Argentinien trägt schwer an diesem Glauben. Dass man bis hinauf in die Oberschicht vom Staat viel erwartet (und zugleich von seinen Repräsentanten wenig hält), scheint fast zur unheilbaren, ansteckenden Volkskrankheit geworden zu sein.

Vieles ist geregelt in Argentinien, und was noch nicht geregelt ist, wird es vielleicht bald sein. Ein Gesetz verbietet, dass in der Provinz Buenos Aires – so groß wie Deutschland – im Restaurant Salz auf dem Tisch stehen darf. Argentinier essen nämlich mehr davon als andere und mehr als ihrer Gesundheit gut tut. Also versteckt die Politik den Streuer – in vielen anderen Ländern werden selbst Kinder erwachsener behandelt. (Das Salz ist trotzdem oft auf dem Tisch, aber das ist eine andere argentinische Geschichte.)

Hiesige Politiker haben ein besonders negatives Bild von ihren Untertanen. Präsidenten, Gouverneure (die die Provinzen regieren) und Bürgermeister treten gern wie Familienoberhäupter auf und versprechen, sich um das Wesentliche zu kümmern. Man beruft sich zwar fortwährend aufs Volk, auf dessen Willen, tatsächlich aber geschieht dies ohne die Absicht, echte Mitbestimmung zuzulassen. Politik wird in Argentinien mehr als in Deutschland auf der Straße oder im Viertel gemacht − und zugleich im hintersten Hinterzimmer. Wer Macht hat oder haben will, muss Massen mobilisieren. Wenn die eigenen Anhänger Fußballstadien oder große Plätze füllen (und teilweise angekarrt oder sogar gekauft werden), dann ist das eine Art Plebiszit, eine Volksabstimmung, über die der Anführer seinen Kurs legitimiert, ohne tatsächlich darüber abstimmen zu lassen. Die Parteien und Bündnisse lassen es sich gefallen, solange der Chef Wahlerfolge verspricht.

Vor Jahren schrieb Josef Oehrlein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigenen Taschen bedienen.

Der Glaube an die Schaffenskraft des Patriarchen wurzelt tief. Schon die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wurden angeführt von Mitgliedern der Oberschicht. Die Befreiung von den Kolonialherren war gerade kein Volksaufstand, kein Umsturz von unten, keine echte Revolution. All die Männer, die bis heute als Befreier fast religiös verehrt werden, ob José de San Martín oder Simón Bolívar, waren fast ausnahmslos Söhne aus dem Großbürgertum. Nicht einmal Che Guevara, der Posterboy der Antifaschisten und Antiimperialisten, kam aus der Arbeiterklasse.

»Alles hängt von Messi ab«, sagen viele in Argentinien. Aber Messi ist − anders als Maradona 1986 − nicht in der Form seines Lebens, und selbst wenn er’s wäre: Neuseeland würde mit ihm heute niemals Weltmeister werden. Der Fußball des 21. Jahrhunderts ist komplex, taktisch viel durchtriebener; die Superstars, ob Cristiano Ronaldo, Neymar oder Messi, werden notfalls 90 Minuten lang von drei Gegenspielern gestört. Dann eröffnen sich zwar Räume für die Kameraden ringsum, aber diese Freiheit muss erkannt und ohne Angst genutzt werden. Erinnert man sich nach 180 argentinischen WM-Minuten an irgendeine besondere Szene von Kun Agüero oder Gonzalo Higuaín, Ángel Dí María oder Javier Mascherano, allesamt zentrale Spieler großer europäischer Klubs? Nein, sie haben Messi nicht entlastet.

Dem Anführer ist außer den zwei Wahnsinnstoren bislang wenig gelungen. Man kann sich vorstellen, wie es ohne Treffer um Leo Messi augenblicklich stünde in Argentinien.

BuchIch habe im vergangenen Jahr den Aufsatz »Evita Perón – Die Heilige, die nicht sterben darf« geschrieben. Erschienen ist er im Buch »Oh Du geliebter Führer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert« (Ch. Links Verlag). Das Zitat der argentinischen Journalistin Silvia Mercado entstammt dem Interview, das ich mit ihr geführt habe.

  1. Birle, Peter: Parteien und Parteiensystem in der Ära Menem – Krisensymptome und Anpassungsprozesse, in Peter Birle/Sandra Carreras (Hrsg.). Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2010, S. 215-216 []

WM-Gezwitscher (4)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

Themen

Suchen

Suchbegriff eingeben und «Enter»


Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)