Pablo und die komplexe Minderwertigkeitskolumne
von CHRISTOPH WESEMANN
Mein Nachbar Pablo versteht nicht, dass ich diese Matetasche aus echtem Kunstleder vom Markt im Rivadavia-Park unbedingt gebraucht habe. Dabei hat sie umgerechnet nur zwölf Euro gekostet. Und wie soll man außerdem alles transportieren, was man braucht, um unterwegs Mate zu trinken: die Thermosflasche, das Yerbakraut, den Trinkhalm, den Becher?
Ich kann es aber Pablo sowieso nie recht machen. Wenn ich beim Sprechen argentinisch gestikuliere, also die Fingerkuppen zusammenführe und die Hand aus dem Gelenk unentwegt schüttele, weil mir das hilft, die Wörter zu finden, regt er sich auf. Wenn ich dann nicht gestikuliere, versteht mich Pablo nicht – und regt sich auch auf.
Ein Deutscher, der schon ein paar Jahre in Buenos Aires lebt, hat mir neulich seine argentinische Theorie vorgestellt, die im Kern besagt, dass zwei Argentinier (oder mehr) auf einem Haufen für Nichtargentinier schwer erträglich seien. Die Formel lautet entsprechend:
• 1 Argentinier = 1 Mensch
• 1 Argentinier + 1 Argentinier = 2 Größenwahnsinnige
• x Argentinier + x Argentinier = x+x Größenwahnsinnige.
Ich halte die argentinische Theorie für unausgereift. Sie berücksichtigt zum Beispiel nicht den so genannten Pablofaktor.
»Häng einem Ausländer eine Matetasche um, und er denkt, er wäre Argentinier«, sagt Pablo.
Ich gebe übrigens zu: Ich habe die Matetasche vor allem für die Zeit gekauft, wenn ich wieder in Deutschland lebe und sonnabendnachmittags in meine kleine Charlottenburger Kneipe gehe, um die Bundesligakonferenz auf Sky zu gucken.
Ich habe meinen Auftritt bereits geplant und auch die Dialoge vorgeschrieben. Ich werde, egal wie heiß es gerade ist, den schwarzen Poncho und den schwarzen Lamahirtenhut tragen, die ich mit Herrn T. in La Quiaca (Bolivien) gekauft habe. Dann trete ich ein, puh, stinkt das hier, und meine Augen brauchen auch ein Weilchen, bis sie den Zigarettenqualm durchschaut haben. Ganz so schlimm ist es nicht, aber als großer Theaterfreund weiß ich natürlich: Hetzen lassen sich nur die Nebendarsteller.
»Dass ihr euch immer so groß machen müsst, ist nicht angenehm«, sagt Pablo. »Und uns erreicht ihr ja sowieso nicht.«
Ich sehe den Tisch von Gabi, die in einem Spandauer Blumengeschäft arbeitet, und von Peter, der nicht arbeitet. Gabi ist wieder direkt von der Arbeit gekommen und trägt noch ihren Fleurop-Pullover. Sie wird in den nächsten zwei Stunden fünf Tassen Kaffee trinken und bei jedem Dortmunder Tor schreien. Was sie ganz besonders nicht mag: Tore der Bayern, Tore der Schalker und Kneipengäste, die nicht über Fußball reden oder von ihr jetzt, nach Feierabend, wissen wollen, wie man Orchideen umtopft.
Peter fährt viel Fahrrad und betreut als Co-Trainer eine Fußballmannschaft, E-Jugend. Michael Ballack, der Micha, ist sein Allzeitheld, und jedes Mal, wenn einer zu lange mit dem Ball läuft, wird Peter den Fernseher anbrüllen: »Spiel doch ab, du Idiot!« Schon vor dem Anpfiff schaut er alle drei Minuten auf seinen Wettzettel. Die Bayern müssen heute zu Hause mit drei Toren Unterschied gegen Braunschweig verlieren. Aber Braunschweig kann befreit aufspielen, die Mannschaft steht ja schon seit fünf Wochen als Absteiger fest. Dann noch zwei Spiele, in denen jeweils mehr als sechs Tore fallen, aber bitte nicht alle in der ersten Halbzeit, plus ein Doppelpack des Stürmers, der seit Monaten nicht getroffen hat, und wenn die vier anderen Partien enden, wie Peter das annimmt, dann hat er aus fünf Euro 1628,34 gemacht. Seinen Gewinn wird er aber erst am Montag im Wettbüro abholen, denn gleich morgen, das wäre viel zu riskant. Die anderen denken ja, dass er gleich am Sonntag das Geld abholt, also denkt er, Peter, gar nicht dran.
Der Stuhl zwischen Gabi und Peter ist frei. Mein Platz. Ich gehe ein paar Schritte und grüße unterwegs den Mann hinterm Tresen: »Wie geht’s dir, Horst?«
»Hä?«
»Du erinnert dich nicht an mich, oder? Bin ’ne Weile weggewesen. Argentinien.« Kurze Pause. Das Wort muss ja erst wirken. »Ich war der mit der Cola. Ohne Glas. Aus der Flasche. Macht’s jetzt klick?«
»Jut«, sagt Horst, »ick bringse dir.«
»Nein, keine Cola mehr. Ich brauch heißes Wasser«, sage ich und hole die Thermoskanne aus meiner Matetasche. »Aber kochen darf‘s nicht, 75 Grad, ja? Und bisschen kaltes Wasser, bitte. Der erste Mateschluck darf nämlich nicht heiß sein.«
Dann werde ich schlürfen und mich demonstrativ nur mäßig interessieren für die Bundesligakonferenz, und das nicht nur, weil die Boca Juniors gleichzeitig spielen, was ich per Live-Ticker möglichst unauffällig, also so, dass es wirklich jeder mitbekommt, auf dem Handy verfolge. Hin und wieder werde ich murmeln, dass es der deutsche Fußball in punkto Leidenschaft gar nicht mit dem argentinischen aufnehmen könne.
»Argentinier kann man nicht kopieren«, sagt Pablo. »Der liebe Gott hat uns mit einem Kopierschutz ausgestattet.«
Als die Mauer fiel, war ich elfeinhalb. Bis dahin hatte ich die DDR zweimal verlassen, 1985 und 1988, immer Tscheh-ess-ess-ärr. Von der Welt kannte ich Prag, Bratislava und Mladá Bodeslav. Wenn ich heute, beinahe ein Vierteljahrhundert später, mittwochnachts um halb elf vom Fußballspielen nach Hause fahre und mich im Radio zufällig das falsche, also richtige Lied erwischt, muss ich manchmal schlucken. Vor Glück, dass ich hier lebe, vor Glück, dass ich gerade mit neun Argentiniern unter Flutlicht in einem Käfig gekickt habe, vor Glück, dass ich in diesem Augenblick am berühmten Monumental vorbeirolle, dem Stadion des Klubs River Plate, und natürlich vor Glück, dass mein Herz einem anderen Verein gehört. All das und noch viel mehr war doch bei meiner Geburt überhaupt nicht vorgesehen.
»Schön, dass du wieder da bist, mein Großer«, wird Gabi in der Halbzeitpause sagen. »Der ganze Kiez, vom Klausenerplatz bis zur Schustehrusstraße, hat übrigens dein Argentinisches Tagebuch gelesen, jede einzelne Kolumne, sag ich dir. Und wir haben dich bewundert, wie du klargekommen bist da am Ende der Welt, du warst ein richtiger Argentinier. Die Leute in Buenos Aires haben dich ja überhaupt nicht mehr als Ausländer wahrgenommen.«
»Das lag doch nur daran, dass ich akzentfrei spanisch gesprochen habe.«
»Nee, nee, Großer, nicht so bescheiden, das lag nicht nur daran. Da gehört schon mehr dazu. Wahnsinn, oder, Peter?«
»Absolut, Gabi. Einfach war das bestimmt nicht.«
»Ach, na ja, nun übertreibt mal nicht.«
»Schwachkopf, das Ding leih ich mir mal aus, brauchst du ja sowieso nicht«, sagt Pablo.
wacho_chorro
2. Mai 2013 @ 09:24
Du machst mir Angst. Hör bitte auf damit