Wo der Urin verkauft wird: Unterwegs im Elendsviertel von Monte Grande
von CHRISTOPH WESEMANN
Am Ende, nach vier Stunden in Monte Grande, bleibt ein Satz, der vieles erklärt. Der erklärt, warum das Elend nicht weicht, sondern wächst, Jahr für Jahr um zweihundert Meter, obwohl es doch immer wieder von einigen verlassen wird. Der erklärt, warum Carlito und seine Freunde in die Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande kommen, wo es eine Bibliothek gibt, mit Schulbüchern sogar, Fußbälle, eine Sporthalle, eine Spielzeugkiste und heute Schokoladenkuchen. Der erklärt, warum in Buenos Aires an jeder dritten Ecke ein Polizist steht – und man hier in vier Stunden nicht einen sieht.
»Der Staat existiert nicht.«
Den Satz, der vieles erklärt, sagt ein zwölf Jahre altes Mädchen.
Das Elendsviertel von Monte Grande ist eines, wie es viele gibt in Argentinien. Es gibt größere Villas Miserias in Gran Buenos Aires, der Hauptstadt mit ihrem Speckgürtel, in Gran Rosario (Provinz Santa Fe) und anderswo. Vielleicht leben hier, eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum der Metropole, ein paar Tausend. Warum sollten sie gezählt werden? Wer sollte sie zählen? Der Staat? Hilfe wird in Argentinien vor allem in der Familie gesucht und danach bei Freunden. Doch was, wenn Familie und Freunde als Problemlöser ausfallen, weil sie selbst mehr Fragen als Antworten haben?
Es ist Ferienzeit. Carlito und seine Freunde machen in der Halle Frühsport. Sie werfen und fangen Bälle, es wird getobt und gelacht. Aber da sind auch die roten Plastikhütchen auf dem Betonboden, und da ist ein Mann mit Trillerpfeife. Hütchen und Trillerpfeife, man kennt’s von Jogi Löw, bedeuten immer auch: Unterricht in Taktik und Philosophie.
Eine Regel für Besuche im Elendsviertel lautet: niemals allein hineingehen, nie ohne eine lokale Autorität, die den Leuten signalisiert, dass der Fremde bitte nicht angefasst werden darf. Rein kommt man immer…
Nicolás Falcone arbeitet in der Kapelle, dem einstöckigen Freizeit- und Bildungszentrum der katholischen Wohlfahrtsorganisation Cáritas. Er wird dafür sorgen, dass man auch wieder rauskommt.
Carlito laufen die Schweißperlen aus dem schwarzen Haar, als er den Raum betritt, der Büro, Bibliothek und Spielecke zugleich ist. Einer seiner Freunde liest im Biologiebuch. Auf dem Boden sitzt ein Sechsjähriger, legt Wörter aus Holzbuchstaben und baut dann Türme aus bunten Plastiksteinchen. Zum Warmwerden ein bisschen Fußball verbal. Carlito, wer ist dein Lieblingsspieler? Man kennt die Antwort schon: Natürlich, Leo Messi ist auch in Monte Grande ein Idol. Doch Carlito wählt Carlos Tévez, den Apachen. Der ist einer von ihnen: Kindheit im Schatten der Hochhäuser von Ejército de Los Andes im Großraum Buenos Aires, die Haut vernarbt von einem Unfall mit kochendem Wasser. Heute: Millionär. Und die Deutschen? Die zwei Spieler, die der 13-Jährige schätzt, sind wie überall in Argentinien Helden ohne Umlaut: Ozil und Muller.
Aufbruch. Vor der Schule Nummer 13 warten Kinder aufs Mittagessen. Noch ist das Gitter vor. Es geht vorbei an den typischen Villahütten, die über den Rohbau nicht hinausgekommen sind – von Weitem schon leuchten die unverputzten roten Steine. Es liegt Müll herum, aber es scheint eine gewisse Ordnung zu geben, und man versucht, gegen alle Unbill seine Würde zu verteidigen. Draußen wird gegraben und drinnen gewerkelt. Die vom Leben zerrupften Lumpengestalten, die durch Buenos Aires streuen – hier sind sie nicht. Wer an der Bushaltestelle steht, um in die Stadt Lomas de Zamora zu fahren, trägt, was die Herkunft versteckt. Keiner wäre draußen als Villa-Bewohner zu erkennen.
Ein paar Autos und viele Hunde sind unterwegs. Es gibt kleine Kioske mit Klingel an der Fensterscheibe. An der Straße, vor den Häusern, stehen Kanister. Urin. Literweise. Wird von Pharmaunternehmen fürs Labor gekauft. Wofür genau? Achselzucken.
Reif wirken sie, Carlito und seine Freunde, sogar ein bisschen stolz. Niemand beklagt sein Leben. Zweieinhalb Stunden zeigen sie ihr zu Hause, ohne einmal zu murren, was vielleicht auch daran liegt, dass dieser Spaziergang heute aufregend ist. Fremde, Ausländer zumal, kommen sonst nicht hierher – und wenn doch, dann: um zu bleiben. Dieses Stück von Monte Grande ist Südamerika in Miniaturformat: Paraguayer und Peruaner, Bolivianer und Argentinier leben zusammen.
Armut wird in Argentinien über Generationen vererbt. Der Aufstieg ist schwierig – auch, weil die Unterschicht von einem stetigen Wirtschaftswachstum wie im vergangenen Jahrzehnt nach dem Fast-Bankrott von 2001/02 kaum etwas abkriegt. Im Elendsviertel von Monte Grande ist eine Familie mit vier, fünf Kindern eher Normalfall als Ausnahme – gewiss auch, weil der Nachwuchs mitunter die einzige Einnahmequelle ist. Der Staat macht nicht viel, aber Kindergeld zahlt er. Für jedes Kind gibt es umgerechnet 55 Euro. Spielzeug hat es trotzdem selten.
Manchmal arbeiten die Männer, als Fahrer, auf dem Bau oder als Cartonero, der Pappe und anderen Müll von der Straße sammelt und verkauft. Doch viele Väter haben sich, wenn sie nicht gestorben sind, irgendwann aus dem Staub gemacht, was durchaus wörtlich verstanden werden darf. Der Wind spielt mit dem Sand, und weil Straßen kaum asphaltiert oder gepflastert sind, gibt es viel davon. Zurück bleiben Mütter, alleinerziehend, fünf Kinder. Dass die Löhne steigen, bringt ihnen nichts.
Im blauen Haus wohnt einer von Carlitos Freunden. Es riecht in diesem Teil der Straße ein bisschen nach verstopfter Kanalisation, wobei eine Kanalisation ja nur verstopfen kann, wenn es sie gibt. Die Oma hat gegenüber ihr Häuschen, an das der große Bruder für seine junge Familie angebaut hat. Er hat Arbeit. Deshalb sticht sein Anbau auch heraus und lässt Omas Hütte noch ärmlicher aussehen. »Aaabueeelaaaa!«, ruft eines der Mädchen. Oma öffnet das Tor, freut sich über den Besuch, sie verschenkt jedenfalls ein Lächeln. Die Armut hat sich bis in den Mund geschlichen. Es fehlen Zähne, viele Zähne.
An der Stubenwand hängen Familienfotos und eine Urkunde der Peronistischen Partei, die in Wahrheit eine Bewegung von links bis rechts ist, Argentinien seit Ewigkeiten beherrscht und selbst eine Orthodoxe wie die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner erträgt. Die Urkunde bescheinigt dem Opa, ein militanter Peronist, nun ja, gewesen zu sein. Er lebt nicht mehr. Militanz ist für Peronisten eine Art Großes Verdienstkreuz, die Anerkennung für Treue und – mitunter körperliche – Hingabe. Politik wurde und wird in Argentinien immer auch auf der Straße gemacht.
Die Diözese Lomas de Zamora der Cáritas hat einen Plan de Inclusión Educativa entwickelt. Bildung solle armen Schichten den sozialen Aufstieg und Teilhabe ermöglichen, erzählt Nicolás Falcone. »Davon hängt alles ab. Ohne Bildung keine Zukunft.« Der Plan umfasst allerlei: wirtschaftliche Hilfe, eine gemeinsame Mittagpause mit gesundem Essen, das Angebot, die Räume zum Lernen, Spielen und Reden zu nutzen, Nachhilfe, Hochschulstipendien. Im vergangenen Jahr habe man die Erwachsenen im Viertel eingeladen, Schreiben und Lesen zu lernen. »Wir waren überrascht, wie viele nicht mehr als ein paar Buchstaben kritzeln konnten«, sagt Falcone. »Sie hatten es nie gelernt. Vielleicht hatten sie gar keine Chance.«
Argentinien ist zwar stolz auf seine Alphabetisierungsrate von mehr als 97 Prozent, die höchste des Kontinents, und auf seine kostenlosen Schulen und Universitäten. Nur: Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder auf private Schulen und Hochschulen. Und die geringe Zahl von Analphabeten verdeckt, dass viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und deshalb auch keine Arbeit finden, die sie für zumutbar halten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent – in Deutschland sind es acht. Vielen bleibt die Straße, die schnelles Geld verspricht und nicht nach einem Zeugnis fragt. Wie in allen Villas Miserias, wird auch in Monte Grande, wenn das Licht ausgeht, gedealt. Und es gibt die Süchtigen, die nach einem halben Jahr auf der Armutsdroge Paco nur noch Zombies sind.
Doch selbst wenn zwei von fünf Kindern in jeder Großfamilie einen Abschluss machen und das Elend verlassen, was ein großer Erfolg wäre – es blieben immer noch drei, die es nicht schaffen. Nicolás Falcone nickt. Er weiß das alles, er ist kein Träumer. Er sieht auch, dass jedes Jahr Hütten hinzukommen – zweihundert Meter neue Armut. »Manche Kinder haben fünf Klassenlehrer in einem Schuljahr«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Die Lehrer bei uns kommen und gehen.«
Trotzdem soll das Haus hinter der Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande einen zweiten Stock bekommen. Die Grundmauern aus leuchtend roten Steinen stehen ja schon. Im Augenblick fehlt: Geld fürs Dach.
Carlito verabschiedet sich genauso, wie er den Fremden vor vier Stunden begrüßt hat, wie man’s macht in Argentinien, egal, wo man zu Hause ist: mit einem Kuss auf die Wange.
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