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¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch

von DIRK RÜGER

 

Der Autor lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

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»¡Estás igual!«, kräht es jedes Mal aus dem Mund meiner Freundinnen und Freunde. »Du hast dich gar nicht verändert!« Einerseits sind das ja die Komplimente, die man gerne hört mit fast 44. Andererseits ist es immer so eine Sache mit dem »Sich-nicht-verändert-Haben« – selbst wenn das zunächst nur der erste Eindruck ist, vor allem rein äußerlich gemeint.

Eine Ewigkeit − 17 Jahre − ist es her, dass ich Argentinien und vor allem Buenos Aires verlassen habe, wo ich (lediglich) zwei Jahre gewohnt, gelebt, studiert habe. Vor der Wirtschaftskrise (welcher denn?) 2001. Mit meiner damals hochschwangeren argentinischen Exfrau flogen wir im Juni 1998 nach Berlin. Ich wollte nur mein Studium beenden und dann spätestens nach dem Examen wieder zurückkehren nach Argentinien. Dann machte uns die große Krise einen Strich durch die Rechnung. Die Straßen brannten, und das halbe Land versank in Armut.

Juristische Fakultät

> Eine breite Straße in den Norden von Buenos Aires: die Avenida Figueroa Alcorta mit der Juristischen Fakultät (r.)

Ich war 1996 nicht unvorbereitet nach Argentinien gekommen. Ich hatte zuvor schon große Teile Südamerikas bereist, hatte in Perú ein Praktikum in einer Schule gemacht. Ich hatte durch mein Lateinamerikanistik-Studium und argentinische Freundinnen und Freunde Ahnung von Literatur (Sábato, Córtazar, Borges), Rockmusik (Sumo, Charly, Fito), Sozio-Kultur (Perón, Mate, Tango, Gauchos) und den Besonderheiten der Sprache (vos, che).

> Ezeiza, der internationale Flughafen von Buenos Aires

> Buenos Aires und sein berühmter Fluss, der Río de la Plata

Schon als ich das erste Mal in Buenos Aires ankam und mich mein Freund der Reisebürobesitzer (damals noch Student von irgendwas, jetzt in México lebend) in dem alten Fiat seiner Eltern vom Flughafen Ezeiza abholte, fühlte ich mich wie zu Hause. Obwohl ich bis dahin die Stadt nur aus Erzählungen von einem fünftägigen Besuch in Mendoza kannte: »Wenn du Argentinien richtig kennenlernen willst, musst du unbedingt nach Buenos Aires, das ist der Wahnsinn!«. Und das war auch 1996 schon mehr als zwei Jahre her.

Ich erlebte zunächst ein bonaerensisches Klischee: die italienische Einwandererfamilie des Reisebürobesitzers im »Vorort« Olivos, Boca-River-Fußballspiele im Fernsehen, sonntags selbstgemachte Lasagne, meine ersten Milanesas (argentinische Schnitzel, dem Wienerschnitzel nicht unähnlich, aber viel besser!), abends in Palermo Viejo im Auto vor irgendeinem Kiosk mit den Freunden Bier trinkend, die Wochenenden in Tigre mit Bootsfahrten, Asado und Mate.

Asado: Morcillas (Blutwürste), chorizo (Bratwurst) und Pollo (Huhn)

> Asado: morcillas (Blutwürste), chorizos (Bratwürste) und pollo (Huhn)

Danach tauchte ich ins Studentenleben ein, wohnte erst bei einer exaltierten Architektin in einer Designer-Wohnung im Bezirk Caballito, inklusive US-amerikanischen und brasilianischen Mitbewohnerinnen, und brachte argentinischen Yuppies Englisch in einer Sprachschule bei. Danach zog ich übergangsweise ins Barrio Once, in das Zimmer eines mir über zwei Ecken bekannten Dramaturgen (in dessen WG ich das Licht-Double von Brad Pitt in »Sieben Jahre in Tibet« kennenlernte, der damals in Mendoza gedreht wurde), und schließlich zu meiner Freundin der Theater-Lehrerin nach Chinatown. Das bestand damals nur aus drei Blocks der Straße Arribeños im Stadtteil Belgrano.

Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im Norden der Hauptstadt

> Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im im Stadtteil Belgrano

Ich las pro Woche zwei Romane in einem Seminar über argentinische zeitgenössische Literatur an der UBA, bestellte Heiligabend Eis per Liefer-Service, tanzte ein einziges Mal Tango, und zwar auf der Hochzeit meiner Freundin der Schauspielerin, besuchte Vorlesungen bei Beatríz Sarlo über Postmoderne in Argentinien, lernte von meinem Freund dem Dichter die Besonderheiten des Gangster-Slangs »Lunfardo« und ging abends auf Konzerte von Divididos, Illya Kuryaki and the Valderramas oder El Otro Yo und in Clubs wie das »Nave Jungla«, wo das Service-Personal aus Kleinwüchsigen bestand und man vor zwei Uhr morgens noch verbilligten Eintritt bezahlte.

Ich fühlte argentinisch, ich war porteño.

Und dann: 17 Jahre weg.

> Das Microcentro von Buenos Aires und ganz entfernt ein Wahrzeichen der Stadt: el Obelisco

Natürlich hat Argentinien auch danach eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ich war in Berlin weitere acht Jahre mit einer Argentinierin zusammen. Ich redete in dieser Zeit mehr spanisch als deutsch. Ich trank weiterhin Mate, Familie und Freundinnen berichteten uns über die aktuelle politische Lage, ich gab eine spanischsprachige Zeitung heraus.

Aber 17 Jahre keinen Fuß auf argentinischen Boden.

Ich war so aufgeregt wie nur was. Und hatte auch Angst.

Die Argentinier so:

17 Jahre? Das ist so, als wärst du noch nie da gewesen! Alles hat sich total verändert. Und die Kriminalität! Alles ist viel schlimmer! Du kannst keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne dass du Angst haben musst, überfallen zu werden. Und wenn du in Ezeiza ankommst: Pass bloß auf mit den Taxis. Nimm bloß kein Taxi, das nicht registriert ist! Es ist schon so viel passiert!

Ich habe meine argentinischen Freundinnen und Bekannten so gelöchert und genervt, dass ich gut verstanden hätte, wenn sie mich aus ihrem Facebook-Freundeskreis gestrichen und einfach nicht mehr geantwortet hätten.

Aber außerdem war ich auch aufgeregt, weil ich meiner deutschen Ehefrau, die noch nie in Argentinien gewesen war, den Ort zeigen wollte, den ich 17 Jahre nicht gesehen hatte. Ich hoffte natürlich, dass sie Buenos Aires genauso liebte wie ich.

Es hat sich nichts verändert. Als unsere Freundin die Schauspielerin uns in den Arm nimmt und »¡Pero estás igual, che!« zu mir sagt; als wir das erste Mal in einen »bondi«, den Stadt-Bus, steigen und ich sofort, ohne Stadtplan, wieder weiß, wie Buenos Aires funktioniert, wie die Stadt tickt, wie man in diesem Geschoss freihändig stehen muss, um bei dem rasenden Tempo durchs Verkehrs-Chaos nicht umzufallen, worauf man achten muss, um die Ziel-Haltestelle nicht zu verpassen: Da ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Freude darüber, dass Freundschaften, die quasi 17 Jahre auf Eis gelegen haben, sich nach nicht mal einer Minute wieder so anfühlen, als hätten wir erst gestern zusammen Mate getrunken − diese Freude lässt sich kaum beschreiben.

Und, na klar, es hat sich auch vieles verändert. Meine Freundinnen von damals sind keine Studenten, Biochemikerin, Bonaerenser, Argentinier mehr, sondern jetzt Reisebürobesitzer, Schauspielerin, Cordobesen, Mexikaner und Pariserin, alle sind älter und bis auf einen auch Eltern geworden. Aber die italienischen Reisebürobesitzer-Eltern wohnen immer noch in Olivos, und die Mutter hat extra für uns frische Pasta handgemacht. Das Barrio Chino, also Chinatown, ist nur ein paar Blocks gewachsen, und die alte Gänsehaut, die ich jedes Mal hatte, wenn ich am Río de la Plata stand und bis zum Horizont nur Süßwasser sah, stellt sich auch sofort wieder ein.

Río de la Plata

> Die direkteste Verbindung nach Uruguay: über den Río de la Plata

Aber auch: Meine Frau ist von dem 17-Millionen-Moloch anfangs ganz schön überfordert − und nicht erst, als wir direkt an einem Slum vorbei im Dunkeln zur zehn Minuten entfernten Bahnstation laufen müssen, um von dort zum Busbahnhof zu fahren, der neben einem anderen, noch viel größeren Slum liegt. Und das alles vor einer zwölf Stunden langen Busfahrt in Richtung Córdoba.

Argentinisch Reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

> Argentinisch reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

Und ja (ganz realistisch): Buenos Aires ist nicht mehr der verklärte Sehnsuchtsort, an den auszuwandern ich mir vorstellen kann, wenn wir alt sind. Es wird wohl doch eher Uruguay, in das wir uns verliebt haben, insbesondere Colonia del Sacramento. Von dort ist man mit der schnellen Fähre auch in einer Stunde drüben, nur für den Fall, dass sich meine Sehnsucht alle zwei Wochen bei mir meldet und um ein Wiedersehen mit Buenos Aires bittet. Meine Frau begleitet mich sicher auch gern, und sei es nur, um bei unserer Freundin der Schauspielerin auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen und ein helado von der Eisdiele um die Ecke zu essen. Am letzten Tag hat sie, die Quasi-Italienerin, übrigens zugeben müssen, dass dieses Eis (fast) besser schmeckt als das italienische.

Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

> Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

Und noch: Auf die Frage meiner Frau, was denn anders sei als auf der Nordhalbkugel, wusste ich, trotz jahrelangem Aufenthalt und wiederholten Reisen auf die Südhalbkugel, nur zu erwidern, dass ich gelesen hätte, der Strudel im Klo drehe sich in »die andere« Richtung. Außerdem wusste ich, dass man das »Kreuz des Südens« am Himmel sehen kann und die Jahreszeiten »umgekehrt« zum Norden stattfinden.

Meine kluge Frau hat schon am ersten Abend in Buenos Aires gemerkt, dass der Mond spiegelbildlich, in die jeweils andere Richtung hin, zu- und abnimmt und dann später auch, dass die Sonne mittags im Norden im Zenit steht und nicht wie bei uns zu Hause in Berlin im Süden.

Manuel und der Detektiv

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich kenne mich, und ein Mensch, der mir sehr nahesteht, behauptet sogar, das täte ich überaus gern. Ich kann ausschließen, dass ich eines Tages im Bad mein Spiegelbild anschreien werde. Ja, vielleicht schreie ich dann auf der Straße Wildfremde an, einfach so, das wiederum schließe ich nicht aus. Um ehrlich zu sein: Ich gehe davon aus, dass das hin und wieder passiert, so ein-, zweimal pro Woche. Seit heute Morgen weiß ich, dass ich ein bisschen auf mich achtgeben muss.

Gestern war noch alles in Ordnung.

Ich hatte im Supermarkt neben dem Kindergarten ein Baguette gekauft, so ein Ding, das sich der Nichtfranzose in die Achselhöhle des Franzosen denkt. Dann ließ ich mir von Fernanda, der Erzieherin, die Kinder aushändigen, zählte auf der Straße nach, kam auf drei und war zufrieden. Das Baguette klemmte ich am Dach des Kinderwagens fest. Der hatte nun ein bisschen Überbreite, aber mit drei Kindern hat die ja jeder Spaziergang.

Ich wollte nach Hause gehen. Die Kinder wollten das auch, im Prinzip, also nicht gleich, lieber in zwei Stunden und unbedingt erst nach einem Ausflug auf den Spielplatz. Vielleicht bin ich auf der ganzen Welt der einzige Vater, der nicht gern Spielplätze besucht. Vielleicht liegt es daran, dass meiner Tochter immer eine halbe Sahara in den Nacken gekippt wird und ich meinen Sohn überreden muss, sich dafür zu entschuldigen. Und eine große Gemeinheit, zu der Kinder fähig sind, ist die, dass sie zwar überall allein hinaufkommen, aber nicht wieder hinunter, weshalb mir ständig irgendein rostiges Klettergerüst beweist, dass ich alt und ängstlich und schwach geworden bin. Wir verhandelten mehrere Minuten und einigten uns auf: erst ein Eis, dann eine Limonade und dann nur eineinhalb Stunden Spielplatz. Ich habe schon schlechter verhandelt.

Ein Weilchen später, nachdem ich ein paar Mal bemerkt hatte, wie alt und ängstlich und schwach ich geworden bin, entdeckte ich, dass der Kinderwagen keine Überbreite mehr hatte. Das Baguette war angebissen.

Meine Kinder behaupteten gleich, nichts gegessen zu haben. Ich ließ sie nebeneinander antreten und durchsuchte ihre Münder nach Brotresten. Bestimmt gibt es elegantere Methoden, ein Verhör vielleicht, aber bei meinen Kindern klappt das nicht. Die beschuldigen sich entweder gegenseitig oder geben einander ein Alibi. Und ich bin nun einmal nicht halb so schlau wie Inspektor Columbo.

Nichts. Keine Brotreste.

Mein Sohn hatte gleich einen Verdächtigen gefunden: den Jungen im Trikot von River Plate.

Es ist in Buenos Aires sehr verrückt mit dem Fußball. In keiner anderen Metropole, vielleicht mit Ausnahme Londons, gibt es so viele Erstliga-Fußballklubs. Die beiden wichtigsten Vereine der Stadt und damit auch des Landes sind die Boca Juniors und River Plate. 40 Prozent der argentinischen Fußballfans, vor allem viele Arbeiter, fiebern angeblich mit Boca, 32 Prozent, vor allem die Mittelschicht und die Wohlhabenden, halten zu River. Der Rest ist für Quilmes oder San Lorenzo oder Rosario, weiß der Teufel, warum. Und wenn die beiden Großen gegeneinander spielen, ist das natürlich kein »Clásico«, sondern ein »Superclásico«, der das Land tagelang lahmlegt.

Es gibt angeblich sogar Fans, die testamentarisch verfügen, dass sie im Trikot des Feindes beerdigt werden – damit wenigstens einer von denen geht. Verglichen mit diesem Duell, bestreiten Schalke und Dortmund zweimal im Jahr ein Kaffeekränzchen.

Mein Sohn steht auf Boca, obwohl sein Vater kein Arbeiter ist, und er hat seine Gründe. Der eine ist: Diego Maradona. Argentiniens »Goldjunge« hat zweimal für Boca gespielt, von 1981 bis 1982 und von 1995 bis 1997. Der andere Grund ist: Rivers Trikot hat einen roten Diagonalstreifen.
»Vorsicht, mit falschen Beschuldigungen, mein Sohn«, sagte ich.
»Nein, Papa, die von River sind wirklich böse.«

Nun weiß man von Fjodor Dostojewskis Rodion Romanowitsch Raskolnikow, dass der Täter ein Gewissen hat und sich selbst überführen kann. Ich stellte dem Brot-Dieb also eine Falle. Ich zog das verbliebene Baguette ein Stück aus der Tüte und legte es zurück auf den Kinderwagen, entfernte mich und schaukelte wie ein Irrer. Mein Brot ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Schon bald sah ich, wie sich ein Junge meinem Baguette näherte. Ehe er zugreifen konnte, stellte ich ihn.

Über die Verschlagenheit der Porteños braucht mir keiner mehr etwas zu erzählen. Die haben’s wirklich drauf, und ich bin von ihren Künsten jeden Tag aufs Neue überfordert. Ich kaufe in der U-Bahn oder an der Straßenecke immerfort Dinge, die ich schon besitze, nicht brauche oder nicht brauche und trotzdem besitze: Ich habe für umgerechnet acht Euro eine Armbanduhr gekauft, die nach drei Wochen eine Ex-Armbanduhr ist und ihren vorzeitigen Ruhestand in einer Schublade verbringt. Eine Ex-Umhängetasche habe ich auch. Ohne Schultergurt hängt sie jetzt irgendwo ab. Und wenn ich nachschaue, welches unfähige Volk auf Erden etwas herstellt, das sich selbst zerstört, steht irgendwo stolz und groß: »Industria Argentina«.

Ich lese gerade die neue Ausgabe der Straßenzeitung »Hecho«, die der Verkäufer als argentinisches »Hinz&Kunzt« bewarb, nachdem er erfahren hatte, dass ich aus Deutschland komme. Erst vorgestern habe ich einem übel zugerichteten Mann so viele Pflaster abgekauft, dass ich jede Nacht auf einem Kaktus schlafen könnte und trotzdem noch genug hätte für die ersten Schnittwunden im Jenseits. Andererseits, vielleicht kleben die Pflaster auch gar nicht.

Wenn ich in der U-Bahn ausnahmsweise einmal nichts kaufe, liegt das daran, dass der Waggon so voll ist und ich nicht an mein Geld komme, weil ich affenähnlich an der Stange hänge, um jemandem Platz zum Aussteigen zu machen. Die »Subte« ist eigentlich immer voll, also jedenfalls morgens, mittags, nachmittags und abends. Ich bin mittlerweile fünfzigmal gefahren und hab einmal gesessen: an einem Sonntagmorgen um halb zehn. Aber da benimmt sich die Hauptstadt auch, als hätte sie einen Kater. Zu allen anderen Zeiten sind die Züge so voll, dass immer Hände am Gesäß sind – entweder die eigenen an einem anderen oder die anderen am eigenen. Ich habe auch den zweiten Fall zu schätzen gelernt.

Im Augenblick ist die »Subte« leer. Sie fährt nämlich gar nicht, weil die Angestellten seit Freitag für höhere Löhne streiken. Die Stadt liegt lahm, als würden fünf »Superclásicos« am Stück gespielt; an den Haltestellen stehen 200 Menschen und warten auf den Bus; der kommt und fährt weiter, weil er schon voll ist. Ein Taxi zu finden ist fast unmöglich. Und auf den breitesten Straßen der Welt stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Es gibt im Fernsehen Sondersendungen, aber die Leute bleiben fröhlich. Niemand rempelt. Niemand flippt aus. Geflucht wird, als führe die »Subte«. Also pausenlos.

Ich fahre auch Auto in Buenos Aires. Ich hatte ein bisschen Angst vor der ersten Tour, auch vor der zweiten und dritten, das hört wohl nie ganz auf. Mag sein, dass es anderen egal ist, wenn sie etwas falsch machen und deshalb von vorne, von der Seite und von hinten beleidigt werden. Ich werde nie ganz loswerden, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Ich denke noch immer, das spricht sich rum unter den drei Millionen Argentiniern in Buenos Aires, ungefähr so: »Da ist ein Deutscher in der Stadt, hombre, wie der fährt, das glaubst du nicht. Eine Navi im Cockpit, die mehr wert ist als mein Auto, aber null Orientierung. Ohne Bordsteinkante stünde der mit seiner Kutsche schon in deinem Schlafzimmer.«

Aber Pablo hat mich beruhigt. Er wohnt über mir. Ich weiß nicht, was er beruflich macht, ich würde es wahrscheinlich ohnehin nicht verstehen. Er hingegen weiß schon allerhand über mich, ich habe mich als neuer Nachbar jedenfalls gleich ordentlich vorgestellt.
»Ich nenne dich Cristóbal oder jefe, vielleicht auch Deutscher oder Brille oder Nase, so machen wir das hier nämlich«, sagte er. »Und damit das klar ist: Deinen grässlichen Nachnamen merke ich mir gar nicht erst.« Ich sieze Pablo, aber auch nur, weil ich das »voseo«, die südamerikanische Form des Duzens, noch nicht richtig beherrsche.
»Eines solltest du wissen«, sagte Pablo. »Porteños sind schlechte Autofahrer. Porteños behaupten immer, alles zu können, ich weiß das, weil ich selbst einer bin.«
»Und was bedeutet das für mich?«
Pablo überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Weiß nicht.«
»Muss ich anders fahren?«
»Ich denk drüber nach«, sagte er und verabschiedete sich. »Ich kann übrigens sehr gut Auto fahren.«

Am nächsten Tag klebte an meiner Tür ein Zettel von Pablo. Darauf stand: »Habe noch mal nachgedacht, Schumi. An vielen Ecken stehen Jugendliche und bieten Dir etwas an, wollen die Autoscheibe putzen oder machen Kunststücke, wenn die Ampel rot ist. Sei höflich und zeig ihnen mit Deinen Händen ein no! Und für nichts auf der Welt öffnest Du das Fenster, für nichts auf der Welt, selbst wenn jemand auf dem Asphalt einen Kopfstand macht, der olympiareif ist, für nichts auf der Welt. Ist das klar?«

Mir ist gleich aufgefallen, dass Argentinier anders fahren. In Deutschland benutzt man gern die Lichthupe, hier lässt man das Licht weg. Zebrastreifen sind nur Zierde und darüber hinaus ohne jede Bedeutung. Ich habe noch keine Ahnung, wie das an einer Kreuzung ohne Ampel ist. Es ist alles sehr industria Argentina. Manchmal kommt es mir vor, als würde rechts vor links praktiziert. Aber diese Regel scheint nicht immer und nicht überall zu gelten. Manchmal fährt auch links vor rechts. Ich schließe nicht aus, dass es auf die Schönheit ankommt – nur: auf die Schönheit des Autos (gut für mich) oder die des Fahrers (gut für die anderen)?

Der argentinische Rodion Raskolnikow hat sich mir übrigens als Manuel vorgestellt, doch wahrscheinlich ist das nicht sein echter Name. In einem hundsgemeinen Dialekt, den ich kaum verstand, bestritt er alles. Ich ließ ihn erst mal ausreden und fragte dann nach seiner Mutter. Manuel sagte, er sei mit seinem Vater auf den Spielplatz gekommen, und zeigte auf einen in der Sonne dösenden Riesen.

»Na ja, wir können das ja auch alleine klären«, sagte ich. Mit einem hundsgemeinen Akzent, den er kaum verstand, redete ich auf ihn ein. Ich machte ihm erst ein schlechtes Gewissen und gab dann der Welt, dem lieben Gott und der Präsidentin eine Teilschuld. Irgendwo, zwischen zwei eher wirren Gedanken, verlor ich auch meine Grammatik. Um Manuel zu zeigen, dass er nicht stehlen müsse, sondern auf die Gutherzigkeit von lieben Menschen vertrauen solle, schenkte ich ihm zum Abschied noch ein Stück vom Baguette und bestand darauf, dass er es vor meinen Augen isst. Noch mit vollem Mund behauptete er, Weißbrot gar nicht zu mögen.

Ich fühlte mich gut. Ich hatte einem Kleinkriminellen den Weg aus dem Milieu gewiesen. Von meinen Kindern ließ ich mich feiern.

Das fehlende Baguettestück habe ich am nächsten Morgen auf dem Weg zum Kindergarten gefunden, an einer Stelle des Bürgersteigs, die für Kinderwagen mit Überbreite sehr eng ist.

Ich nehme die Beschuldigungen hiermit zurück. Tut mir Leid, Manuel.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)