Posts Tagged ‘La Boca’

Mein Sohn und der Pferdekotismus

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn hat es nicht immer leicht in seiner argentinischen Schule. Wenn er die Wahrheit sagt und sich nicht aus Imagegründen zum Märtyrer stilisiert, dann ist er in seiner Klasse der einzige Fan des Fußballklubs Boca Juniors. Weil die Schule in einer vornehmeren Gegend von Buenos Aires liegt, ist sie Hoheitsgebiet von River Plate, dem Verein der Mittelschicht, dessen Fans sich auch »Millionäre« nennen und die Anhänger des großen Feindes »Bosteros« rufen. Die Bosteros haben früher im Stadtviertel La Boca die Straßen von der »bosta«, dem Pferdekot, befreit.

In der 1 c gibt es noch einen Jungen, der auch den Arbeiterklub Boca mag. Aber der zählt nicht so richtig, weil er auch Einwanderer ist, jedenfalls unterhält er sich mit meinem Sohn auf Russisch – auch über Boca, also vor allem über Boca.

Tja, und die Mädchen in seiner Klasse, die sind natürlich auch keine Hilfe. Die machen nur Hüpfgummi, sagt er.

Am Sonntagnachmittag ist Superclásico in Buenos Aires. River empfängt im »Monumental«, sieben Minuten entfernt von unserer Wohnung, die Boca Juniors. Wenn das Spiel nicht unentschieden endet, muss ich meinem Sohn für Montag eine Krankschreibung besorgen.

Das andere Problem hat mit dem Essen zu tun. Ich schmiere meinem Sohn jeden Morgen zwei Pausenbrote: die Butter schön dick, eine große Scheibe Salami, hin und wieder Käse, echt deutschtümelnd, aber eben auch nahrhaft. Dazu bekommt er einen Apfel (schon entkernt und geviertelt), und manchmal überrasche ich ihn auch.

»Die haben wieder alle mein Essen angeguckt«, hat er gestern gesagt.
»Dein Brot?«
»Nee, das kennen sie ja schon.«
»Was dann?«
»Den Joghurt.«
»Natur, mein Junge, bio, sehr gesund.«

Gelegentlich frage ich ihn, was die anderen Kinder zum Essen in die Schule mitbringen, also auch die Riverfans. Kekse, sagt er.

Ich bin unnachgiebig. Keine Kekse. Bisweilen diskutieren wir das Thema, bis Daniel Martín um kurz nach sieben mit dem Schulbus kommt. Dann verabschiede ich mich, kaufe mir am Kiosk eine Zeitung, fahre zu meinem Stammcafé und bestelle bei Sofia, der netten Kellnerin, mein Frühstück: vier Croissants mit süßer Butter und eine Cola.

»Also wie immer«, sagt Sofia.

Mein-Sohn-Kolumnen:

Mein Sohn und der Kussismus

Mein Sohn und der Datschaismus

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Mein Sohn, der Gausbub

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Mein Sohn und der Miauismus

Mein Sohn und der Kapitalismus

Abstammungsgeschichte

von CHRISTOPH WESEMANN

Hoppla, heute ist ja Unabhängigkeitstag.

Achtung: Wenn Sie sich halbwegs in der lateinamerikanischen Geschichte auskennen, überspringen Sie den nächsten Absatz, bitte. Es folgt die Befreiung von den bösen Kolonialherren im Schnelldurchlauf.

Die Versammlung von Tucumán erklärte am 9. Juli 1816 die Unabhängigkeit der Vereinigten Provinzen am Río de la Plata von Spanien. Schon am 25. Mai 1810 hatten die städtischen Patrizier den Vizekönig des Vizekönigreiches des Río de la Plata ab- und einen Regierungsrat eingesetzt. Argentinien hat deshalb zwei Nationalfeiertage: den Tag der Revolution am 25. Mai und den Tag der Unabhängigkeit am 9. Juli.

Wenn in der Stadt nicht Zehntausende Fahnen hingen, gerne auch zwanzig an einem Hotel, hätte ich es vielleicht vergessen. Es ist ein bisschen schwierig, am Automaten Pesos zu bekommen, aber Fahnen gibt es reichlich. Okay, Banken und Bankautomaten auch, aber eben ohne Geld.

Ich habe mir gerade La Boca angeschaut, das berühmte Viertel im Osten. »Fahren doch nur Touristen hin und lassen sich beklauen. Palermo ist viel schöner«, sagt der Kioskbesitzer, ist natürlich aus Palermo und hat natürlich Recht. Die berühmte Straße El Caminito ist eine Flaniermeile mit Gedränge, Gedröhne, Gefälschtem – im Augenblick, wir haben ja Winter, gerade noch erträglich. Doch das, was dieses Viertel ausmacht, ist für Touristen unerreichbar weit weg (also eine Seitenstraße). Buenos Aires wäre ohne La Boca eine andere Stadt. Die Argentinier und erst recht die Bürger der Hauptstadt, die Porteños, sagt ein Sprichwort, stammten nicht von den Affen ab, sondern von Schiffen. In La Boca kamen sie an – Italiener, Spanier, auch Deutsche.

Der Journalist Jakob Strobel y Serra nennt in seinem »Reiselesebuch« La Boca das »eigenartigste Viertel von Buenos Aires« und beschreibt es so:

Treibgut und Kloake der Stadtgeschichte, zusammengehämmert aus den Wellblechbehausungen der einstigen Hafenarbeiter, bunt bemalt mit den Resten der Schiffslacke, hingehauen an die Ufer eines stinkenden Hafenbeckens voller Schiffsleichen.

Noch immer ist dies einer der ärmsten Flecken der Stadt, ein Ort, den man besser meidet, wenn’s dunkel geworden ist.

Ach ja, der letzte Vizekönig war Baltasar Hidalgo de Cisneros y la Torre. Wollen wir uns den Namen merken?

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)