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Über den patagonischen Pilz einer Hure, der seit fast vier Monaten in meinem Ohr lebt

von CHRISTOPH WESEMANN

 
Rückblick. 24. Dezember 2014.

Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub. Wir wollen mit dem Auto von Buenos Aires bis nach Santiago de Chile fahren und wieder zurück. Wir sind seit einer Woche unterwegs und heute, am Heiligen Abend, in Villa El Chocón, einem Örtchen in der Erdöl- und Dinosaurierprovinz Neuquén, 1219 Kilometer entfernt von zu Hause.

Villa El Chocon

Villa El Chocon 2

Die Stimmung könnte schlechter kaum sein, und in offener, also nicht geheimer Abstimmung stellt die Familie mit deutlicher Mehrheit (4:1) fest: Das liegt am Vater. An mir?

Okay, meine Betriebstemperatur ist cholerisch, und die habe ich schon vor Tagen erreicht, im Grunde gleich in den ersten Minuten auf der Autobahn. Es gibt nämlich haufenweise Argentinier, die ein Leben lang Überholspur fahren und ein Leben lang auch nicht in den Rückspiegel gucken. Ich blinke, ich lichthupe, meine Finger und Hände weisen den Fahrer − este hijo de puta1, diesen Hurensohn also − sehr bestimmt auf sein falsches Verhalten im Straßenverkehr hin. Ich könnte rechts überholen, wie’s die anderen machen, die Spur ist ja komplett frei.

Aber das sehe ich gar nicht ein.

Vom Beifahrersitz: ein Schnaufen.

»Schatz, man kann sich nicht alles gefallen lassen.«

»Aber der weiß doch überhaupt nicht, was du von ihm willst, du mit deinem Rechts-fahr-gebot

Hospital

Außerdem tut seit Tagen mein linkes Ohr weh. Tropfen. Alkoholtupfer. Bier. Viel Bier. Nichts hilft. Also schauen wir  im Dorfkrankenhaus von Villa El Chocón vorbei. In der Ambulanz wird heute tatsächlich gearbeitet, es streunt jedenfalls ein Pfleger herum. Der guckt ins Ohr und diagnostiziert: einen Pilz. Mit dem rechten Ohr, dem gesunden, höre ich den anerkennenden Jubel der im Untersuchungszimmer versammelten Familie. Man ist ausnahmsweise stolz auf das Familienoberhaupt. Tenor: Andere haben sowas am Fuß – unser Alter hat’s im Ohr.

»Muss ich sterben?«

Der Pfleger schaut meine Frau an, grinst und sagt, und zwar zu ihr: »Damit kann ich dir leider nicht dienen.«

»Und wenn er ein paar Tage auf Station bleibt, zur Beobachtung und so?«

»Ich verstehe. Aber, nein, tut mir leid.«

Die beiden sind kurz zuvor, sich abzuklatschen. Ich räuspere mich. Wollten wir nicht heute noch Dinosaurierknochen ausgraben mit den Kindern?

Der Pfleger ruft den Arzt an, um zu fragen, was zu tun sei, kommt wieder und bereitet eine Spritze vor.

»In den Arsch?«, frage ich.

»Da wirkt es nicht so schnell.«

Der Pfleger bindet den Oberarm mit einem Gummihandschuh ab und spritzt etwas Schmerzlinderndes. Der Wattetupfer, den er gleich auf die Einstichstelle kleben wird, klebt schon an seinem Kittel. Der Achteinhalbjährige schaut vorbei und fragt: »Warum nicht in den Arsch?«

Eine halbe Stunde später beginnt sich der Schmerz zurückzuziehen.

♦♦♦♦♦

15. April 2015.

Ich warte im Hospital Alemán, dem deutschen Krankenhaus in Buenos Aires, wo allerdings spanisch gesprochen wird, dass die Nummer 108 aufleuchtet. Noch steht auf der Anzeigetafel die 107. Ich wollte schon vor Tagen hier sein, weil das linke Ohr entweder schmerzt oder leicht taub ist. Aufgehalten hat mich das Wort otorrinolaringólogo (Hals-Nasen-Ohren-Arzt), das ich bei der Anmeldung ja vorbringen müsste. Dachte ich.

Es reichte dann aber der Versuch, es auszusprechen.

108! Zimmer 32. ¡Vamos!

Dr. Curi lässt sich kurz erklären, was mit mir los sei, und scheint zu verstehen. »Komm mit!«, sagt er. Er geht ins Nebenzimmer, legt mich dort − weil ich es selbst mangels Intelligenz nicht hinbekommen habe − »mit dem Kopf nach oben« auf die Pritsche und schaut zunächst ins gesunde rechte Ohr, dann ins kranke linke. Dann saugt er mit einem Schlauch sehr gründlich herum. Es knirscht.

»Un hongo«, sagt er schließlich.

Ein Pilz. Aha.

Mein Pilz.

Aus Patagonien.

Der hat also überlebt.

Dr. Curi verschreibt mir Dermizol Trio (»du nimmst drei Tropfen alle zwölf Stunden«) und entlässt mich mit Handschlag. In drei, vier Tagen erwartet er mich zur Nachkontrolle.

Wir kriegen Dich, diesmal kriegen wir Dich, hongo de puta!

Tropfen

  1. sehr häufiger Fluch in Argentinien []

Mit Pablo im Auto: Eine argentinische Regenkomödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, 20.10 Uhr; zwei Männer im Auto; stärker werdender Regen

PABLO. (fährt auf die Stadtautobahn) Mmmhh. (schaltet den Warnblinker ein, beschleunigt leicht)

ICH. Was machst du da?

PABLO. Ich habe den Warnblinker angemacht.

ICH. Warum?

PABLO. Unwetter.

ICH. Es regnet.

Drei Minuten später

ICH. Warnst du die anderen Autofahrer vor dem Regen? Oder vor dir?

PABLO. Das verstehst du nicht.

ICH. Ich will es aber verstehen.

PABLO. Kannst du nicht.

ICH. Warum?

PABLO Verstehen nur Argentinier.

ICH. Es regnet auch in Deutschland.

PABLO. (reibt sich mit der rechten Hand die Stirn) Ist mir bekannt.

Drei Minuten später

ICH. Unterscheidet sich der argentinische Regen sehr vom deutschen Regen?

PABLO. (unverständlich)

ICH. Ich glaube ja, der deutsche Regen ist hochwertiger. Ihr seid doch Schwellenland.

PABLO. (unverständlich)

ICH. Erinnerst du dich noch an die zwei schwarzen Hosen, die ich mir in Buenos Aires an meinem Geburtstag gekauft habe?

PABLO. Nein.

ICH. Bei der einen, nicht der aus Cord, ist der Hosenstall kaputt. Nach nicht mal einem Jahr! Ist verrückt, oder? Ich musste drei Tage mit offenem Hosenstall durch Patagonien laufen.

PABLO. Du gehst mir auf die Eier.

ICH. Fahren ganz schön viele Autos mit Warnblink. Nervt das nicht?

PABLO Das nervt nicht.

ICH. Ich hatte nur eine Hose für den Urlaub eingepackt. (prüft mit Daumen und Zeigefinger den Hosenstall) Ich war noch in der Näherei neben dem Hostel, um den Hosenstall provisorisch reparieren zu lassen. Und was sagt die Näherin?

PABLO. Keine Ahnung.

ICH. Ich soll den Schlitz nicht mit Gewalt öffnen. (lacht hysterisch) Mit Gewalt! Das kann auch nur eine Frau sagen, oder?

PABLO. Weiß nicht.

ICH. War aber gar keine Frau, hatte nur sehr lange Haare. Bis hier ungefähr. (beugt sich nach rechts und berührt mit der linken Hand den Po) Vielleicht solltest du irgendwo halten, bis der Regen aufgehört hat. Ich lad dich auf einen Kaffee ein. Du wirkst ein bisschen müde und angespannt.

PABLO. Unwetter.

ICH. Was?

PABLO. Das ist kein Regen. Das ist ein Unwetter.

Zwei Minuten später

ICH. Ein bisschen schneller fahren kannst du nicht, nein? Vielleicht 70 oder wenigstens 65einhalb? Ich habe übermorgen einen Termin.

PABLO. Sehr witzig.

ICH. So wie ihr fahrt, frage mich ja manchmal, wie es euch möglich war, einen fünffachen Formel-I-Weltmeister hervorzubringen.

PABLO. (mit schwärmerischem Ton in der Stimme) El Maestro.

ICH. Ich kenne kein Volk, das langsamer anfährt als ihr, wenn die Ampel grün wird.

PABLO. Einundfünfzig. Vierundfünfzig. Fünfundfünfzig. Sechsundfünfzig. Und siebenundfünfzig. Außerdem zweimal Zweiter: fünfzig und dreiundfünfzig. Damals, als noch nicht der Computer die Rennen fuhr.

ICH. Schien wahrscheinlich immer die Sonne damals.

PABLO. Halt die Schnauze! (guckt nach oben, flüstert) Hör nicht auf ihn, Maestro.

Eine Minute später

ICH. Man sieht kaum noch dreihundert Meter weit. Vielleicht solltest du auch die Nebelscheinwerfer anmachen.

PABLO. Hab ich schon.

Vorhang

 

Das Patagonische Reisetagebuch (II): Die Drei-Tropfen-Töchter, der singende Papa und ein Auto im Sandkasten

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

♦♦♦♦♦

 

Tag 6. Pehuén-Co > Las Grutas. 600 Kilometer.

Mit drei Söhnen hätte ich die Nacht in Ushuaia verbracht, der südlichsten Stadt der Welt, wir würden jetzt die Antarktis durchqueren und kämen spätestens morgen Früh oben in Kanada raus. Aber der Siebenjährige hat zwei kleinere Schwestern, die uns aufhalten, besonders gern, nachdem ich drei Laster überholt habe.

»Piiiipiii, Papa.«

Mein Sohn pinkelt, wie jeder gesunde Mann, morgens und, wenn er’s nicht vergisst, noch mal abends vor dem Schlafgehen.

Bei seinen Schwestern: drei Topfen.

Drei Tropfen, drei Laster, wieder drei Tropfen.

Wir sind unterwegs auf der Ruta Nacional 3, Argentiniens berühmter Ostküstenstraße, die von Regisseuren gern für hiesige Roadmovies (Die Reise) besetzt wird. Sie führt von Buenos Aires nach Feuerland und ist 3060 Kilometer lang, wobei man hinter Río Gallegos, der Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, ein Stück durch Chile fährt. Der Reisende, dichtet der Lonely Planet, »durchquert weite, gähnend leere Landschaften, die am Horizont verschwimmen wie ein endloses unbeschriebenes Blatt Papier«. Wir wollen überübermorgen den Kilometer 1514 erreichen und dort ins Tierschutzreservat Punta Tombo abbiegen, um die Magellan-Pinguine zu besuchen. Ich hätte große Lust, weiterzufahren bis ans Ende der Straße. Aber: siehe oben.

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Mapa de la Ruta Nacional 3 en la Argentina., Creative Commons, Urheber: Dario Alpern

 

Hmmmh, sind das schon Altersflecken auf meinem Handrücken? Oder noch Sommersprossen? Und was singt da Andrés Calamaro? »Me parece que soy de la quinta que vio el Mundial 78, me toco crecer viendo a mi alrededor paranoia y dolor.1« Was meint er damit? Nichts gegen Andrés Calamaro: Wir hören sein 2005er Konzertalbum El Regreso, eingespielt in Buenos Aires, rauf und runter auf dieser Reise. Aber allmählich könnte mal wieder ein Auto von vorne kommen. Das Geradeausfahren in dieser Leere führt gedanklich ja doch zu nichts. Macht nur müde. Wenn mich nicht bald wenigstens eine Kurve aufmuntert, muss ich singen, um wach zu bleiben.

 

Wir sind bei Kilometer 970 und nun, am sechsten Urlaubstag, endlich in Patagonien, der Region südlich der Flüsse Colorado (Argentinien) und Bío Bío (Chile) und nördlich der Magellanstraße. »Das große, grandiose Nichts« nennen sie Patagonien bei Spiegel Online. Der argentinische Teil ist 765 000 Quadratkilometer groß – umgerechnet: zweimal Deutschland plus die Schweiz. Hach, sechs Wochen müsste man Zeit haben, nein, sechs Monate, und mit diesen Töchtern natürlich entsprechend mehr. Sechs Jahre, grob gerechnet.

Jedenfalls nicht nur: noch sechs Tage.

Auf dem Weg nach Las Grutas, der nächsten Station, können wir uns bloß ein paar Extravaganzen leisten. Die Nationalstraße haben wir eben hinter Carmen de Patagones verlassen. Die Stadt ist die südlichste der Provinz Buenos Aires und nennt sich selbst Eingangstor nach Patagonien. Auf dem Rückweg werden wir in Viedma übernachten, dem Nachbarort, Hauptstadt der Provinz Río Negro.

Ella no va a volver y la pena me empieza a crecer, adentro
La moneda cayó por el lado de la soledad y el dolor
La moneda cayó por el lado de la soledad otra vez
La moneda cayó por el lado de la soledad.

(Sie wird nicht zurückkehren und der Kummer beginnt in mir zu wachsen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit und des Schmerzes gefallen
Abermals ist die Medaille auf die Seite der Einsamkeit gefallen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit gefallen)

»Papa, du singst so schlecht!«

Zwischenstopp in El Cóndor, dem Seebad am Atlantik, Heimat der größten Papageienkolonie der Welt. Angeblich, natürlich. »Argentinier können über Argentinien eigentlich nur im Superlativ sprechen«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. Ein anderer Journalist, Jakob Strobel y Serra, meint:

Argentinien ist wie Maradona, und Maradona ist wie Argentinien. Niemals könnte er Brasilianer sein, genauso wenig wie Pelé jemals Argentinier sein könnte. In Diego Armando Maradona, dem argentinischen Archetypus par excellence, vereinen sich alle Widersprüche des zweitgrößten Landes Lateinamerikas: Triumph und Tragik, Genie und Wahnsinn, Demut und Divenhaftigkeit, Lebenshunger und Leidenslust, Großmannssucht und Schutzbedürfnis, Schaffenskraft und Selbstverstörungswahn.                          Argentinien: Ein Reiselesebuch, Hamburg 2010.

Apropos Selbstzerstörungswahn: In den Klippen unter dem ältesten Leuchtturm Patagoniens haben die Papageien ihre Nisthöhlen, mehr als 30 000 sollen es sein; und im Sand verstecken die Schildkröten ihre Eier. Trotzdem fahren Geländewagen und Pickups herum, es ist sogar erlaubt. Ach Argentinien, Du Klappstuhlnation. Man sonnt sich nicht auf Decken, sondern bringt seine Stühlchen mit zum Strand. Zur Grundausrüstung gehören außerdem gut gefüllte Kühlboxen, Sonnenschirme und mehrere Liter Warmwasser für den Mate. Und weil man nichts schleppen will, fährt man so weit wie möglich vor.

Hahaha, guckt mal, einer ist mit seinem Jeep im Sand stecken geblieben. Geschieht ihm recht! Der Fahrer buddelt und legt zwei Pappen an die Vorderräder, Mama, Oma und Tochter müssen gleich schieben. Was für eine idiotische Familie. Wir stellen uns auf und genießen.

Noch drei Stunden bis Las Grutas – mindestens. Denn wir haben beschlossen, die unbefestigte Route entlang der Küsten zu nehmen, die Provinzstraße 1. Asphalt, also die Nationalstraße 3, ist etwas für Anfänger.

»Was gibt’s eigentlich heut Abend zu essen?«

»Wie immer.«

»Lecker.«

Wie traumhaft schön diese endlosen, menschenleeren Strände doch sind! Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner. Irgendwo müssen ja keine Leute sein. Und hier sind sie nicht. In Patagonien teilen sich zwei Einwohner einen Quadratkilometer – in Deutschland sind es 226. Aber was dafür an Tieren herumrennt, auf und neben der Straße, schaut euch das an.

»Strauße! Wären mir fast vors Auto gelaufen, die Biester.«

»Das sind Nandus

»Da hinten: Lamas!«

»Guanakos

»Wer ist eigentlich klüger, Papa? Mama oder du?«

»Unentschieden.«

Hoppla, dort vorne liegt aber ordentlich Sand auf der Straße. Die Reifenspuren sind ziemlich tief, ich weiche mal nach rechts aus, wo der Untergrund fester ist.

Keine gute Idee.

In Island, im Sommerurlaub 2010, wollten wir einen Vulkan besichtigen oder einen Wasserfall, vielleicht auch Geysire, mehr gibt es ja in Island eigentlich nicht. Dann kam ein Flüsschen, das in keiner Karte verzeichnet war, aber nachweislich vor uns plätscherte – wohl, weil es in der Nacht geregnet hatte. Ich wollte hindurchfahren, als uns ein Franzose im Suzuki überholte – und gleich darauf, merci beaucoup, mit seinem Geländewägelchen im Schlamm einsank.

Wir stecken auch fest.

Wo, hijo de puta, ist in Patagonien der Franzose, wenn man ihn braucht?

Mittlerweile haben sich die Nachbarn versammelt, um die Köpfe zu schütteln. Fehlt nur noch die Spanner-Omi mit Kissen auf der Fensterbank. Während ich die Reifen freibuddele, fängt der Siebenjährige neben mir wieder mit seinen Amarok-Phantasien an. Ist das überhaupt heilbar? Der Franzose wurde damals übrigens von anderen Franzosen abgeschleppt, aber auf die Deutschen zähle ich hier, am Ende der Welt, eher nicht.

Ein paar Minuten später sind wir umringt von Argentiniern, die mit ihren Pickups angehalten haben. Natürlich wird erst mal eine Runde geplaudert und sich kennen gelernt. Das gibt mir Gelegenheit, zu einer Verteidigungsrede anzusetzen. Für mich ist’s auch schon die sechste Stunde am Steuer. Und schaut euch mal das gelbe Lämpchen am Tacho an, das leuchtet schon seit Buenos Aires. Ist doch ein Wahnsinn, oder? Wird immer gelber. Wisst ihr, ich bin nicht der Typ, der sich größer macht, als er ist. Aber dass wir überhaupt so weit gekommen sind, liegt vor allem an meinen hervorragenden Fahrkünsten und meinen außerordentlich guten Nerven.

Meinetwegen kann ich mich die ganze Welt, eigene und angeheiratete Familie eingeschlossen, für einen Trottel halten. Aber dass mich Argentinien gut findet, ist mir wichtig.

Beim ersten Abschleppversuch reißt das Seil, weil ich falsch lenke. Einer der Argentinier löst mich ab, lässt sich rausziehen, setzt das Auto zurück und rast dann problemlos über die hundert Meter lange Sandfläche. Das Ganze dauert keine zwei Minuten. Der Sohn bekommt das zerrissene Seil geschenkt und fährt gemeinsam mit der Vierjährigen noch ein Stück auf der Ladefläche des weißen Ford Ranger mit.

»Einmal Sand kommt noch«, sagt der Fahrer, geht in die Knie und malt die Strecke inklusive aller Kurven mit dem Finger – Humor hat er ja – in den Sand. »Darfst keine Angst haben.«

»Angst? Ich?«

Sicherheitshalber fährt ein Pickup voraus und einer uns hinterher, bis wir nach 30 Kilometern wohlbehalten zurück auf der Nationalstraße sind.

Tag 7. Las Grutas.

Das schreibt der Reiseführer:

ein im Sommer völlig überlaufenes Seebad

Ich mag Las Grutas nicht. Zu viel Zivilisation. Ich mag das Hostel nicht. Zu viel Jugend. Ich mag die Jugend nicht. Zu viel Gekoche. Wir kommen nicht mal zum Essen. Bei uns wird grundsätzlich geschlungen, wissend um die Zuverlässigkeit von Zwischenfällen (überfüllte Blasen, umkippende Gläser, Gefechte mit Messerchen und Gäbelchen, allgemeiner Futterneid). Es scheint Familien zu geben, auch große wie unsere, die vernünftig essen. Vielleicht haben die Eltern liebere Kinder oder die Kinder strengere Eltern.

Bei uns wird es heute Abend schon wieder Empanadas de Carne geben.

Vorhin, nach dem Aufstehen, hat sich die Toilette über die Fliesen erbrochen. Das neue Zimmer ist noch kleiner als das alte. Im Garten sitzen sich zwei Amerikaner gegenüber, reden miteinander und rubbeln gleichzeitig auf ihren Smartphones rum. Facebook mag ich auch nicht.

Ich vermisse Buenos Aires.

Am Abend gucke ich beim Abwaschen so lange in die Pfanne von Juan aus Córdoba, dass er mich nötigt, mitzuessen. Er hat dünne Rindfleischscheiben mit allerlei Gemüse für sich und seine Freundin angebraten. Ich erkenne Paprika und rieche Knoblauch. Juans Herz gewinne ich, als mir einfällt, dass es für boludo (Schwachkopf, Depp) ein Extrawort in Córdoba gibt: culiado. Jetzt wird sich verbrüdert. Der Herbergsvater hat mitgehört, kommt an den Tisch und fragt, ob ich schon mal Fernet mit Cola probiert hätte, das argentinische Kultgetränk. Argentinier trinken es – etwa vorm Fußballstadion – gern kollektiv aus einer geköpften Plastikflasche.

Noch nie. Ich schwöre. Her mit der Brühe! Ist doch kostenlos, oder?

Noch ein Glas, bitte. Danke.

Und der argentinische Rotwein, den du da hast, Juan, mein lieber culiado, der ist mir auch total unbekannt.

Die Familie guckt besorgt und hat damit, wie ich am Morgen erfahre, absolut recht gehabt.

Fortsetzung folgt

  1. Übersetzung: »Ich glaube, ich gehöre zur Generation, die die WM 1978 gesehen hat. Um mich herum musste ich Paranoia und Schmerz sehen.« Calamaro spielt an auf die Weltmeisterschaft in Argentinien während der Militärdiktatur. []

Das Patagonische Reisetagebuch (I): Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Tag 1. Buenos Aires > Tandil. 413 Kilometer.

»Ich sitz vorne, Papa.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Polizei. Du darfst noch nicht vorne sitzen.«

»Ich will aber vorne sitzen.«

»Du sitzt hinten. Basta.«

Wir sind gerade auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, als auf dem Tachometer das gelbe Lämpchen aufleuchtet. Mal im Handbuch nachgucken. Wir wollen ja nach Patagonien, nach Punta Tombo zu den Pinguinen. Wir haben zweieinhalb Wochen sogenannten Urlaub und werden in Etappen fahren: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn. Drei der 23 argentinischen Provinzen bereisen wir: Buenos Aires (so groß wie Deutschland), Río Negro und Chubut. Bis dorthin sind es noch 2000 Kilometer. Und es gibt schon jetzt Probleme.

Ah, kein Handbuch. Fragen wir jemanden, der sich mit Autos besser auskennt.

Leider ist der Siebenjährige gerade beschäftigt.

Also Tankstelle.

Der Tankwart will das Handbuch sehen. Er bietet dann Öl an.

»Öl ist super.«

»Das gute Öl?«, fragt er.

»Sicher.«

»Ist ein sehr gutes Öl.«

Dem Lämpchen ist’s, tja, sehr egal.

Man müsste eine Glasscheibe haben wie die Taxifahrer in New York City, ja, das wär’s, eine Scheibe, die das Cockpit von der Rückbank trennt. Könnte gar nicht dick genug sein. Die Kleine (2) und die Mittlere (4) stoßen seit zehn Minuten spitze Schreie aus und beklagen Bissspuren am Unterarm. Gleich wird der Zeigefinger in ein Auge gesteckt. Achso, stimmt, das hatten wir schon, beim Losfahren vor einer Stunde. Dann sind halt die Ohren dran oder die Haare, oder wie wäre es mit dem Ellenbogen in den Rippen, mein Sohn? Das mögen doch deine Schwestern überhaupt nicht.

Mein Sohn sagt, er habe, wie immer, nichts gemacht. Ich bin selbst ein großer Bruder, ich kenne alle Tricks, ich habe mich auch immer nur verteidigt.

»Du kommst nach vorne.«

»Nein.«

»Sofort!«

»Ich will nicht vorne sitzen.«

»Du sitzt vorne!«

»Und die Polizei, Papa?«

Bis ans Ende unserer Reise wird der Siebenjährige beifahren und jedes Mal, wenn Polizisten zu sehen sind, fragen: »Soll ich mich groß oder klein machen?«

Tag 2. Tandil.

Das sagt der Reiseführer:

Die hübsche Stadt Tandil liegt am nördlichen Rand der Sierras de Tandil, einer 2,5 Mio. Jahre alten Bergkette. Durch Erosion entstanden sanfte, grasbewachsene Hügel und Felsvorsprünge, die zum Klettern und Mountainbiken geradezu ideal sind. Zum Reiz der Stadt gehört die Mischung aus dörflichem Charme und der Energie einer Großstadt.

Wir sind im Naturschutzgebiet unterwegs, der Reserva Natural Sierra del Tigre. Wir wollen uns aufwärmen für das, was uns erwartet auf dieser Reise: argentinische Wildnis. Oder wenigstens das ein oder andere exotische Tier, das bereit ist, sich fotografieren zu lassen: Pinguine, Gürteltiere, vielleicht ein Schwertwal, vor allem Robben oder Seehunde, vielleicht sind’s auch Seelöwen, egal, ich kann diese grunzenden braunen Säcke, die am Strand rumliegen, eh nicht unterscheiden. Bislang habe ich hier außerhalb des Zoos nur Lamas gesehen und auch gleich gegessen, damals in Salta, hoch im Norden Argentiniens; ich hatte mich nicht im Griff, ich war allerdings auch mit Herrn T. unterwegs, das gibt mildernde Umstände.

Guckt mal, Kinder, da vorn, ein Pferd, nee, ein Pony. Ein Esel, sag ich doch.

Großer Jubel im Auto. Wurde in unserer Welt jemals ein Esel so überschwänglich begrüßt? Oh, er ist ganz blutverschmiert. Die Familie ergeht sich sogleich in Mutmaßungen: Er hat sich bestimmt am Felsen beim Fressen die Schnauze eingeklemmt oder wurde ganz sicher von dummen, bösen, ekelhaften Menschen mit Steinen beworfen oder ist wahrscheinlich einem Raubtier begegnet. An der Börse von Buenos Aires wird weniger spekuliert. Die Zweijährige ist mit den Nerven komplett am Ende, eine halbe Stunde lang sagt sie unaufhörlich: »Armer Esel. Armer Esel.«

Ich heize hinab ins Tal, wir brauchen einen Arzt, dringend, der Esel verblutet uns, halt durch, Junge, halt durch. Wahrscheinlich musst du ausgeflogen werden, wir kommen selbstverständlich für alle Kosten auf. Ich mache schon mal meinen linken Arm frei, ich spende dir so viel Blut, wie du willst.

»Papa spinnt.«

»Sag bloß.«

»Armer Esel. Armer Esel.«

»Ist ja gut, Liebes.«

Einer der Parkwächter sagt, der Esel habe mit einem anderen Esel gekämpft. »Machen die ganz gern. Sind nun mal Esel.«

Tag 3. Tandil > Pehuen-Có. 337 Kilometer.

Abfahrt. Jetzt leuchtet noch eine zweite Lampe, und eine rote Schrift sagt, das Abblendlicht sei defekt. Abblendlicht, aha. Der rechte Scheinwerfer geht nicht mehr, was dumm ist, weil man auf argentinischen Nationalstraßen immer mit Licht fahren muss. Ich zupfe an ein paar Kabeln im Motorraum, ich lasse mir Zeit, mache mein Finger absichtlich schmutzig und starre zwischendurch ins Nichts. Dann tauche ich wieder auf, kratze mich am Kopf und sage der Familie den Satz, den ich vor Jahren in einer Werkstatt aufgeschnappt habe: »Pfffffff, kannst heute nichts mehr selbst reparieren am Auto, läuft alles übern Computer, nicht mal ne kaputte Glühbirne kriegste gewechselt, ja, früher, bei meiner ersten Karre, da habe ich den Motor noch zerlegt und …«

Ich werde gebeten, endlich loszufahren. Nächster Halt: Tankstelle.

Ein höchstens zwölfjähriger Tankwart mit mindestens 20 Jahre alten Koteletten beschaut den Schaden, also er guckt auf die zwei Lämpchen, und sagt dann: »Ich weiß nicht, was es ist, aber schlimm ist es nicht.« Ich könnte ihn küssen, fürchte aber, dass er sich in einen Esel verwandelt.

Ich stelle den Tempomat auf 130 Kilometer pro Stunde, 20 mehr als erlaubt; die 60-Schilder vor Abfahrten in irgendwelche entlegenen Dörfer ignoriere ich schon seit vorgestern, da bremst ohnehin keiner. Genauso ist es mit Baustellen, die großspurig angekündigt werden – Gefahr! Arbeitende Menschen und Maschinen! 20 km/h! – und dann verwaist sind. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass vor jeder echten Baustelle in Argentinien ein Mann steht und eine Fahne schwenkt. Dann – und nur dann – wird gebremst.

Zwei Stunden und fast 200 Kilometer später beginnt das Auto zu ruckeln, wenn ich Gas gebe; ein Überholmanöver endet damit, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos scharf bremst und auf den Rasen neben der Straße wechselt. Danke, Du Retter! Die letzten 50 Kilometer bis Pehuen-Có fahre ich 80, beschleunige wie ein Sonntagsfahrer mit Regenschirm auf der Hutablage und spreche mit dem Auto: Das machst du ganz fein. Ein Stückchen noch, ja?

Der Mann in der einzigen Auto-Werkstatt von Pehuen-Có sagt, der Motor bekomme keine Luft. Aber helfen könne er auch nicht, er habe, genau, keinen Computer.

Wir wohnen, 200 Meter entfernt vom Atlantikstrand, beim Russen. El ruso, so heißt die Unterkunft und wohl auch ihr Besitzer. Argentinier sind ja Weltmeister im Spitznamengeben. Man orientiert sich gern an Äußerlichkeiten und nimmt es dabei nicht so genau: Wer ein bisschen asiatisch erscheint, ist el chino, der Chinese, wer eine dunklere Hautfarbe hat, wird el negro, der Schwarze, gerufen, und el turco, der Türke, ist entweder Moslem oder sieht aus, wie in der Vorstellung von Argentiniern Männer aus dem arabischen Kulturkreis auszusehen haben. Eine andere beliebte Methode ist, aus Menschen Tiere zu machen. Im Fußball gab und gibt‘s unter anderem: Esel, Enten und Entchen, Schildkröten, Küken, Aale, schwarze Spinnen, Tiger, Mäuschen und Mäuse, Hunde und Windhunde, Echsen, Löwen, Affen, Wölfe, Ponys, Tauben und Maulwürfe. Lionel Messi ist, klar, der Floh. Außerdem heißen Spieler: Kartoffelchen, Zwiebel, Butter, Kakao, Paprika, Salat, Bohne und Tomätchen. Jeder Argentinier hat obendrein mindestens einen Freund, den er gordo (Dicker) oder flaco (Dünner) nennt, wobei – hiesiger Humor – der gordo auch sehr flaco sein kann und umgekehrt. Und wenn man den Namen des Gegenübers nicht kennt oder vergessen hat, behilft man sich mit Schmeicheleien: Der Hotdog- und der Zeitungsverkäufer in unserem Viertel begrüßen mich als Chef und verabschieden mich als Champion.

Unsere Ferienwohnung, meint die Frau, ist ein bisschen schmuddelig. Sie findet angetrocknetes Bratfett auf der Mikrowelle, Staubschichten unter den Betten und alte Fußspuren in der Dusche. Wir sind im Urlaub und werden sowieso die meiste Zeit unterwegs sein, ich denke, da kann man ruhig mal ein Auge zudrüc … LÄSST SICH DIE VERDAMMTE SCHEISSHAUSTÜR ETWA NICHT SCHLIESSEN? Ich verlange ja keinen Schlüssel oder einen Riegel. Aber zumachen lassen sollte sich die Tür wenigstens.

Das schreibt der Reiseführer:

Im Strandort Pehuen-Có, 440km südwestlich von Mar del Plata, kann man den Strand noch für sich alleine haben – abgesehen von den Quallen, die wie die Badefreudigen das hier ein paar Grad wärmere Wasser schätzen.

Tag 4. Bahía Blanca.

Wir stehen um sechs Uhr auf, wir müssen zum VW-Autohaus nach Bahía Blanca, 80 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. Meine Plan ist: Wir werden die ersten Kunden sein, ich schicke die Frau mit den Kindern rein, das erweckt Mitleid und kitzelt die Beschützerinstinkte der ölverschmierten Kerle; ich existiere gar nicht. Während wir in der Nähe einen Kaffee trinken, wird das Auto an den Computer gestöpselt und der Fehler entdeckt; Ersatzteile liegen im Lager, es ist schließlich eine Vertragswerkstatt; nach einem Spaziergang zur Plaza Rivadavia, dem zentralen Platz, holen wir das reparierte Auto ab. Um 16 Uhr bin ich bereits wieder in Pehuén-Có am Strand und jage Quallen. Ich kann nicht erkennen, dass der Plan auch nur eine Schwachstelle hätte.

In Bahía Blanca (300 000 Einwohner) befindet sich übrigens der größte Marinestützpunkt des Landes; er wurde 1828 von Oberst Ramón Estomba als Fortaleza Protectora Argentina (Beschützerin Argentiniens) gegründet. Außerdem ist die Stadt das Zentrum der Petrochemie und hat seit dem vergangenen Jahr wieder einen Erstligafußballklub.

Wir sind nicht die Ersten, eher Nummer zehn. Oder zwölf. Kinder, ihr seht nicht niedergeschlagen genug aus! Und hört auf, so nett zueinander zu sein, benehmt euch wie immer. Los jetzt!

Nach einer halben Stunde treffe ich die Familie wieder; sie sieht niedergeschlagen aus. Es sei nicht klar, ob das Auto heute überhaupt noch drankomme. Wir sollen auf einen Anruf warten. Kann zwei Uhr werden oder auch fünf. Ich muss noch mal zum Auto, um die Sonnencreme und die Matetasche zu holen. Es ist inzwischen weggeparkt worden und steht, tja, wie soll ich’s beschreiben? Der Parkplatz gehört bestimmt offiziell noch zum Autohaus, der Weg dorthin ist aber weit und stellenweise sehr dunkel. Ich glaube nicht, dass die Autos ringsum irgendwann wieder fahren sollen. Die warten eher auf ihre Ausschlachtung.

Wir halten erst mal am Plan fest und verbringen eine Stunde im Café. Als die Kinder beginnen, Tische zu verrücken, und zwar besetzte, brechen wir auf. Und jetzt? Die Museen sind geschlossen. Ferienzeit. In der Fußgängerzone sind Klettergerüste und Rutschen aufgebaut, das bringt wieder eine Dreiviertelstunde. Wie spät ist es jetzt? Halb zwölf.

Ich bekomme allmählich sehr schlechte Laune und beginne zu hassen. Leute, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dass es ein riesiger Unterschied ist, ob ich allein in einer fremden Stadt bin oder mit drei kleinen Kindern, machen mich aggressiv. Wir haben weder eine Wohnung in Bahía Blanca noch kennen wir jemanden, bei dem wir die Zweijährige zum Mittagsschlaf hinlegen könnten. Heiß ist es außerdem. Ihr Männer im Autohaus, wie habt ihr euch das vorgestellt? Was sollen wir in eurer Petrochemie-Metropole machen, bis ihr irgendwann in ein paar Stunden anruft? Und was sagt ihr uns dann? Keine Zeit gehabt heute? Zu viele Terminkunden, ja? Und dann? Fahren wir zurück nach Pehuén-Có? Mit dem Bus? Und das Auto? Morgen ist Feiertag, nicht wahr? Und ich weiß dann immer noch nicht, ob das Auto bald erstickt? Hmmmh.

Wir kaufen erst mal ein Handtuch als Bettdecke, versuchen, die Zweijährige auf der Parkbank schlafen zu legen, trinken um die Wette kaltes Wasser und rufen im Autohaus an. Alle Männer sind zu Tisch. Ich würde jetzt am liebsten den Laden besetzen, so richtig breitmachen müsste man sich, wie die Bundys damals im Supermarkt. Toiletten, W-Lan, Klimaanlage, heißes Wasser für den Mate, Autozeitschriften für den Großen, Sessel zum Rumhüpfen für die Mädchen – ist ja alles da. Peggy meint, das sei meine beste Idee seit Jahren. Eine Stunde später ist das Autohaus erfolgreich besetzt.

 

Die Kleine schläft auf zwei zusammengeschobenen Sesseln, wir schlürfen Mate und lesen Kinderbücher vor. Wenn dem Sohn langweilig ist, schaut er sich die Neuwagenmodelle an und sabbert vorm Amarok, Listenpreis: 223 590 Peso. Es gibt auch Modelle für 190 000, aber er will Allradantrieb. Volkswagen Argentina wirbt übrigens mit dem Slogan Das Auto, also deutscher Artikel. (Auto heißt auch hier auto; coche sagen die Spanier.) Der Boss von VW ist war 1 Viktor Klima, der frühere österreichische Bundeskanzler. Präsident Néstor Kirchner hat er auch beraten. »Seit einer Herzoperation im Jahre 2009 hat er sein Leben umgestellt«, schreibt Wikipedia. »Er lebt mit seiner dritten Frau und drei Kindern im Alter zwischen 4 und 9 Jahren rund eine Stunde von Buenos Aires entfernt, wo er eine Farm mit 240 Hektar Grund und 200 Rindern besitzt.«

Fährt bestimmt Amarok, der Klima.

15 Uhr. Unser Auto wird aus der Abstellkammer geholt. Die Kleine schläft immer noch. Die Mittlere liegt auf dem Boden und malt. Der Große trinkt Mate, um mehr sabbern zu können. Ich weiß gar nicht, was diese Blicke sollen. »Gobernar es poblar«, schrieb schon der Verfassungsvater Juan Bautista Alberdi (1810 bis 1884). »Regieren bedeutet besiedeln.« Und in der Verfassung, Artikel 25 steht sogar:

Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise den Eintritt von Fremden in das Argentinische Gebiet, welche in der Absicht kommen, das Land zu bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, beschränken und mit Abgaben belasten.

16 Uhr. Die chicas von der Buchhaltung gucken angewidert, als ich vor der Glasscheibe ihres Großraumbüros meine Salamistulle aus Pehuen-Có esse. Sie haben sehr gute Fahrgestelle und werden offenbar serienmäßig mit langem, wallendem Haar und großen Airbags ausgeliefert. Ich sabbere nicht.

16.30 Uhr. Der Kanister des Wasserspenders wird ausgetauscht. Wurde aber auch Zeit.

17 Uhr. Ein Teil war locker oder abgebrochen, ich habe keine Ahnung, welches. Die Frau versucht’s mir zu erklären, sie hat ja die ganze Zeit mit den Jungs verhandelt und auch den Schlüssel empfangen. Ich nicke und freue mich, dass die beiden Lämpchen am Tacho nicht mehr leuchten.

Kleiner Haken, sagt sie: Das Auto ist nur provisorisch repariert.

Ich würde sagen: sehr großer Haken, man könnte einen Schwertwal dran aufhängen. Wir haben in Argentinien schon Toiletten und Markisen reparieren lassen, die dann gleich wieder kaputt gegangen sind – und das waren keine provisorischen Reparaturen. Auch der Rückspiegel im Auto fällt gern ab, wenn’s ihm zu heiß ist.

Tag 5. Monte Hermoso.

Ich will unbedingt den höchsten Leuchtturm Südamerikas besteigen und zwinge die Familie, mit mir nach Monte Hermoso zu fahren, einen Badeort 70 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. 70 Kilometer, das ist nichts. Höchster Leuchtturm Südamerikas! 293 Stufen! 67 Meter! Leider endet die asphaltierte Strecke nach 20 Kilometern. Man sieht: Schotter, Schlaglöcher, Sand und Staub bis zum Horizont. Wir beraten fünf Minuten und suchen nach einer Ausweichroute. Schon morgen werden wir eine doppelt so lange und dreimal so schlimme Piste ohne Murren zurücklegen. Aber das weiß noch keiner von uns.

Der Umweg über eine asphaltierte Straße kommt nicht infrage. Das wären 120 Kilometer.

»Jetzt einen Amarok, das wär’s, ne, Papa?«

Als wir am Leuchtturm ankommen, brennt das gelbe Lämpchen schon wieder.

 

Fortsetzung folgt

  1. Nachtrag: Llamadojorge ist schlauer als Wikipedia (und als ich sowieso) und korrigiert in den Kommentaren: Klima ist schon Ende 2012 in Rente gegangen. []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)