Reisebericht (III): Die Vermessung des Paradiestals
von CHRISTOPH WESEMANN
Die letzten Tage in Chile. Langsames Abschiednehmen für unsere zwei Helden, von unseren zwei Helden. Vorher aber noch ein Aufbruch: Valparaíso! Das Paradiestal, bejault von Sting, ein Sehnsuchtsort, den der Liedermacher Reinhard Mey seine Ulla, die durchgebrannte Jugendliebe, nie erreichen lässt. Die Vermessung der Welt wird als bekannt vorausgesetzt, Wandererfahrung ebenfalls.
Vorgeschichte und erster Teil: Exil in Chile
Zweiter Teil: Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile
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- Mittwoch: Santiago → Valparaíso
(cw) Ich komme endlich dazu, die Wikipedia-Einträge über Chile und Santiago zu lesen; ich habe sie nicht ausgedruckt, sondern zu Hause in Buenos Aires im pdf-Format gespeichert und dann auf meinen Kindle gepackt. Ich würde mich wie ein Nerd fühlen, wären da nicht die Schriftgröße (dreipunktfünf) und Herr T. Der ist richtig multimedial. Vor drei Tagen im Bus hat er mit seiner Kamera die Anden geknipst (meine ist größer!), mit seinem Smartphone gefilmt (beide gleich groß), mit mir geplaudert (mehr Unsinn von ihm) und bekanntlich meinen Mate gehalten. Das wirkt auf mich so übermenschlich, dass ich manchmal denke: Herr T. ist ein Avatar.
Ich lese, dass der Erfinder des Fallrückziehers ein Chilene war, weshalb der Fallrückzieher in Südamerika auch la chilena heißt. Außerdem hat Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Kontinents und ist von Norden nach Süden 4300 Kilometer lang. Das Land hat 15 Regionen, die mit römischen Zahlen durchnummeriert sind, wobei es die 13 nicht gibt. Ich nehme an: Aberglaube. Santiago ist übrigens die Partnerstadt von Buenos Aires und Kiew. Und man erreicht von der Hauptstadt den Pazifik zum Baden genauso schnell wie die Anden zum Skifahren.
Aber jetzt sind wir schon in Valparaíso, der berühmten Hafenstadt, 120 Kilometer oder zwei Busstunden entfernt von Santiago. Haben wir denn schon ein Zimmerchen, Herr T.?
(Herr T.) Jetzt zitiert er auch noch ständig Wikipedia-Einträge. Naja, manchmal doch ganz interessant.
Wir sind gerade auf dem Hügel Bellavista gewesen, den man mit einer Standseilbahn erreicht. Nun laufen wir bergab und wollen im Pazifik baden. Wo lang? CW quatscht einen älteren Herrn an, der in seinem Vorgarten die Rosen gießt. Es wird nicht klar, wer wen mehr braucht und redseliger ist. Keiner der beiden Männer scheint einen Frisör zu haben (bei CW ist’s offensichtlich), um sich mal auszusprechen. Jeder wirft dem anderen seine halbe Lebensgeschichte über den Gartenzaun.
(cw) Der Mann versteht unseren Wunsch, baden zu gehen, einfach nicht. Also, entweder ist er ein bisschen schwer von Begriff. Oder der Pazifik ist noch nicht so warm, wie wir glauben.
(Herr T.) Ich mache eine furchtbare Entdeckung: CW ist Exhibitionist! Kaum am Strand angekommen, entkleidet er sich. Aus Rücksicht auf die anderen Strandbesucher biete ich CW an, ihm das Handtuch zu halten. Doch er lehnt bestimmt ab und wechselt schutzlos Badehose gegen Schlüpfer. Weitere Details erspare ich mir.
(cw) Ich bin doch keine 16 mehr. Und außerdem verheiratet.
(Herr T.) CW steht jetzt bis zum Knie im Wasser, weit und breit kein anderer, kommt aber nicht so richtig voran. Ich mache kurz die Augen zu, und als ich nach fünf Minuten wieder den Kopf hebe, taucht CW für einen Wimpernschlag bis zur Brust ab. Dann sprintet er heraus, zieht mir mein Handtuch weg und winselt.
(cw) Fest steht: Schwer von Begriff war der Alte am Gartenzaun nicht. 13 Grad, höchstens 14. Die chilenische Marine hat in Valparaíso übrigens ihr Hauptquartier. Und immer am 21. Mai ist der Staatspräsident in der Stadt, um vor dem Nationalkongress zu sprechen, der am Ende der Pinochet-Diktatur hierher verlegt wurde.
(Herr T.) CW und sein fundiertes Halbwissen. Ich geh dann auch mal planschen.
(cw) Wie heißt dieser Vogel, der immer auf einem Bein steht? Richtig. Herr T. macht jetzt den Flamingo und hebt abwechselnd ein Bein aus dem Wasser. Er geht nicht weiter. Großer Fehler. Nach drei Minuten im Pazifik beginnen die Beine fürchterlich zu brennen, man spürt die Füße kaum noch. Drei Meter neben Herrn T. taucht ein Chilene ab und fünf Meter weiter wieder auf, macht einen Handstand und treibt eine Weile auf den Rücken. Ich glaube, gleich rasiert er sich. Herr T. sieht sich um, schaut erst zum Horizont und dann eine Ewigkeit auf die Wasseroberfläche; entweder hat er irgendwas verloren, oder kommt von seinem Spiegelbild nicht los, der Pfau.
Der Chilene schwimmt jetzt ein bisschen raus. Herr T. kommt raus, die Badehose staubtrocken, wird von mir mit Hühnerlauten empfangen und dreht gleich wieder um. Und dann ist er tatsächlich mit dem Kopf unter Wasser. Das Ein- und Auftauchen geschah ein bisschen zu schnell für meine Augen, sind ja gerade auf 3punkt5 eingestellt. Aber ich denke, wir können den Versuch werten.
(Herr T.) Woher soll ich wissen, dass das Wasser wirklich so kalt ist? CW übertreibt doch sonst immer.
(cw) Eine Stunde gemeinsam schweigen.
(Herr T.) Endlich.
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- Mittwochabend: Valparaíso
(cw) Wikipedia schwärmt von der Altstadt mit den Künstlervierteln Alegre und Concepción, die auch auf einem Hügel liegen. Auf geht‘s!
(Herr T.) Wir haben die ersten 100 Treppenstufen gemeistert, als ein Wunder geschieht. Zum ersten Mal auf dieser Reise – vielleicht auch in seinem Leben, wer weiß das schon? –, sagt CW die Wahrheit. Im Angesicht des Uniformierten, der uns aufhält, behauptet er nicht länger, ein Argentinier oder gar ein Porteño zu sein.
»Wo kommt ihr her?«, fragt der Polizist.
»Wir sind Deutsche«, sagt CW wie aus der Pistole geschossen und fügt ganz leise, kaum verständlich hinzu: »Aber ich lebe in Buenos Aires.«
Der Polizist schickt uns zurück. Viel zu gefährlich für Touristen um diese Uhrzeit, sagt er. Zittert der falsche Porteño? CW wird fortan ständig auf der Hut sein, sich umsehen und manchmal vor seinem Schatten erschrecken.
(cw) Ich habe dem freundlichen Polizisten ja gleich die Hand geschüttelt, ich meine, ich habe gewissermaßen Brücken gebaut – über zwei Kontinente und zig Kulturen hinweg. Der Ordnungshüter und ich waren kurz davor, ein Bier trinken zu gehen. Herr T., der Untertan, aber hat mit seinen handschellensüchtig nach vorn gestreckten Armen alles zerstört.
(Herr T.) Brücken bauen? CW hätte den kaputten Bürgersteig neu pflastern können, so tief hat er gekniet. Na ja, wir nehmen’s sportlich und drehen um, gehen die 100 Stufen wieder hinab, laufen eine Straße weiter und gehen wieder 100 Stufen hinauf.
(cw) Es hat sich gelohnt, wir entdecken ein tolles Restaurant mit Terrasse in luftiger Höhe und schauen, wie die Sonne im Pazifik versinkt.
(Herr T.) Ach ja, wir haben ein Zimmer, wieder in einem Hostel, wieder viel zu teuer, aber diesmal beherrscht von einer strengen Herbergsmutter statt von netten Damen aus Deutschland. CW hat sie schon kennen gelernt, als er am Nachmittag mit der Kreditkarte unsere zwei Übernachtungen bezahlen wollte. Die Alte holte tief Luft, bleckte ihre Zähne und schnaufte: »Solo en efectivo!« Frei übersetzt: Nur Bares ist Wahres.
(cw) Ich beginne, Die Vermessung der Welt zu lesen.
(Herr T.) Ich begrüße CWs Interesse an den Büchern Daniel Kehlmanns.
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- Donnerstag: Valparaíso
(cw) Auf zum Haus des größten chilenischen Dichters. Jeder in diesem Land kann angeblich ein Gedicht von Pablo Neruda (1904-1973), dem 71er-Literaturnobelpreisträger, zitieren. Auf nach Isla Negra! Wo die Menschen sind. Viele Menschen! Oder doch nicht? Ach, wir geben uns heute zivilisationsmüde, wir laufen lieber los in die Einsamkeit, kehren der Stadt den Rücken, wollen hoch bis zum letzten Haus auf einem dieser Hügel.
(Herr T.) Schon wieder Wikipedia. Und nun auf den Berg? Ich habe keine Ahnung, was das soll.
(cw) Ich führe die Expedition an.
(Herr T.) Die sonnenverbrannte Nase des Expeditionsführers beginnt zu pellen. Sein Hemd ist am Rücken nass. Wir sind erst 20 Minuten unterwegs und schnaufen schon. Taxis fahren an uns vorbei und kommen fünf Minuten später von oben zurück.
(cw) Immer weiter! Es tut so gut. Ich fühle mich wie Alexander von Humboldt. Ich würde gern ein paar Pflanzen aufschneiden. Der Ojos del Salado, mit 6893 Metern der höchste Berg Chiles, ist übrigens auch der höchste Vulkan der Welt. Vielleicht besteige ich den heute auch gleich noch. Immer weiter! Immer weiter!
(Herr T.) Zum Schrecken der Chilenen, die uns kritisch beäugen, entkleidet sich der Expeditionsführer jetzt und präsentiert seine Hühnerbrust.
(cw) Die ersten Telefone des Landes gab es 1880 übrigens in Valparaíso. Bis 1914, als der Panamakanal eröffnet wurde, war Valparaíso der erste größere Hafen, den Schiffe ansteuerten, nachdem sie Kap Hoorn gemeistert hatten. Die Oberleitungsbusse von Valparaíso sind heute die letzen ihrer Art in ganz Chile. Rodrigo Andrés González Espindola ist in Valparaíso geboren. 1968. Rod! Die Ärzte! Und ein schwarzer Hund läuft uns hinterher.
(Herr T.) Goethe hat zu Recht seinem Mephisto die Gestalt eines schwarzen Hundes gegeben. Irgendwas stimmt mit dem Tier nicht. Mit CW sowieso nicht. Wieso quatscht der eigentlich so viel? Ärzte? CW wird doch nicht schlappmachen, oder? Ich krieg hier doch niemals einen Krankenwagen hoch.
(cw) Ein Kiosk, vermutlich die letzte Verpflegungsstation vor dem Gipfel. Ein Junge spielt Fußball gegen den Berg. Er tritt den Ball und wartet, dass er zurückrollt. Herr T. hält ein Schwätzchen mit der Kioskbesitzerin und kauft Cola. Der Kerl ist ja wirklich mit allen Abwassern gewaschen. Hat er wahrscheinlich bei der Tour de France gesehen: Cola vor dem letzten Anstieg gibt noch mal einen richtigen Schub.
(Herr T.) CW hat sich inzwischen mit dem Jungen bekannt gemacht. Sie spielen Fußball miteinander, der Junge schießt bergauf, CW bergab. Man muss sich das vorstellen: Dieser Junge wird wahrscheinlich niemals Deutschland sehen. Sein Bild von Deutschland, das ihn ein Leben lang begleiten wird, ist dieser Mann. Wenigstens hat CW sein Hemd wieder angezogen.
(cw) Wenn das kein Zeichen ist: Der Junge heißt Alejandro. Alexander! Und er ist Fan des Klubs Colo-Colo, von dem ich in Santiago für meinen Sohn und mich Trikots gekauft habe. Ich frage ihn, wie oft der Ball schon den Berg hinabgerollt sei. Er weiß es nicht.
(Herr T.) Oh je, der Aufstieg ist echt nicht ohne. Ich muss mich selbst daran erinnern, mich hin und wieder umzudrehen, um die Aussicht zu genießen. Aus Asphalt wird Sand, aus Straßen werden Feldwege. Je höher wir kommen, desto provisorischer werden die Häuser. Je höher wir kommen, desto verständnisloser schauen die Leute. Wo wollen die Zwei bloß hin?
(cw) Wenn ich stehen bleibe, zittern meine Beine. Ich frage Herrn T. jetzt alle 500 Meter, wie er heiße. Herr T., sagt er, so heiße er. Er scheint noch fit zu sein. Der Expeditionsführer in mir ist beruhigt. Keine Verluste.
(Herr T.) Mir scheint, CW steigert sich da in etwas hinein.
(cw) Der Hund bleibt zurück. Ganz plötzlich. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.
(Herr T.) Endlich bleibt das Viech zurück. Ich hatte schon Angst, dass CW es mit ins Hostel nehmen will. (Ich hab den Hund noch nie leiden können.)
(cw) Ich mache mir Vorwürfe, ich hätte dem Hund etwas von meinem Wasser geben müssen. Ich habe ihn nicht gut behandelt. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.
(Herr T.) Jetzt faselt der seit einer Viertelstunde nur vom Hund. Ich will endlich oben ankommen. Unser Wasservorrat wird knapp. Die Flasche ist fast leer. Und die Sonne kennt wirklich keine Gnade.
(cw) Die letzten Meter. Rechts und links nur noch Hütten, an deren Türen manchmal ein Weihnachtsmann hängt. Ich schaue zurück und meine, den Hund ganz weit entfernt zu sehen. Von überall Gebell. Den Hund, sagt Herr T., habe er wirklich nie leiden können.
(Herr T.) Weihnachtsdekoration bei den Temperaturen hat etwas Seltsames. Es passt nicht ins Bild. CW legt erstaunliches Tempo vor. Plötzlich bleibt er stehen und versucht, ein Foto zu machen. Ich frage ihn, was so lange dauert. Es tue ihm leid, sagt er, aber er habe Schwierigkeiten, sich zu sammeln.
(cw) Mein Leben zieht an mir vorüber. Der Kleinstadtjunge, der immer Unterschätzte, der Ungeliebte, Verstoßene, Ausgestoßene, Abgestoßene, für verrückt Erklärte, der Unterdrückte, Weggedrückte, der Ungewollte, fortwährend Ausgelachte, der schaut jetzt herab auf Valparaíso und steht auf dem Dach der Welt. Hahahahahaha! Vielleicht vertrage ich auch einfach die Höhenluft nicht. Oder habe einen Sonnenstich.
(Herr T.) Ein paar Meter haben gefehlt, wir waren nicht ganz oben. CW sagt, wir könnten behaupten, ganz oben gewesen zu sein.
(cw) Das habe nicht ich gesagt.
Epilog folgt.