Pablo, Taxis auf der Galopprennbahn und die Feuerwehr von Buenos Aires
von CHRISTOPH WESEMANN
Argentinier lieben es, »estoy llegando« zu sagen. Wörtlich übersetzt heißt das: »Ich bin am Ankommen.« Und etwas freier: »Gleich da.« Die wahre Bedeutung des Satzes ist jedoch eine andere. Was der Argentinier dir eigentlich sagen will, wenn er »estoy llegando« sagt, ist: »Cheee boludo1, ich habe keine Ahnung, wann wir uns sehen, ich weiß, wir sind verabredet, allerdings ich bin gerade am Arsch der Welt, ich gehe zur U-Bahn, sobald ich genug Mate getrunken habe, kann aber nicht versprechen, dass auch eine kommt, und falls sie kommt, ob ich‘s schaffe, mich reinzuquetschen. Mach dir keine Sorgen, mein geliebter Freund, ich umarme dich. Bin gleich da.«
Jemand, der »estoy llegando« in sein Handy ruft und Sekunden darauf tatsächlich um die Ecke biegt und dir winkt, ist entweder ein Argentinier, der zu lange in Deutschland gelebt hat, oder ein Deutscher, der noch nicht lange genug in Argentinien lebt.
Ich bin in Buenos Aires schon oft zu spät gekommen, unter anderem zu einer Trauung (das Brautpaar allerdings auch) und zu einem Elternabend (aber früher als die Lehrerin). Ich hole die Dreijährige regelmäßig zu spät vom Kindergarten ab und werde dann – was oft schade ist – beim Ausredenerfinden von der Erzieherin unterbrochen: »No pasa nada.«
Gar nicht schlimm also.
»Pünktlich zu sein ist erstens unüblich und zweitens unhöflich«, sagt mein Freund Pablo.
Pünktlichkeit trägt vor allem Stress mit sich. Man kommt unerwartet und trifft deshalb auf unvorbereitete Gastgeber: Sie ist noch ungeschminkt, er hat noch die Lockenwickler im Haar.
Noch vor ein paar Jahren kam es vor, dass selbst Fußballspiele der ersten argentinischen Liga verspätet begannen. Die Zeitungen vermeldeten den Anstoß um 17 Uhr, angestoßen wurde aber erst, als die Zuschauer im Stadion eingetroffen waren. Und die Schiedsrichter. Und die Spieler. Seitdem alle Partien im staatlichen Fernsehen übertragen werden, ist das vorbei.
Man hat gelernt, damit zu leben. Die Stimmung ist − trotz aller Gewalt − nach wie vor sensationell, das Spiel nach wie vor eher mau. Es heißt, der Fußball sei das, was Argentinien – diesen Haufen von Individualisten, dieses Land von Nachfahren europäischer Einwanderer und indigener Völker, zu denen sich heute die armen Glückssucher aus Bolivien, Paraguay und Peru gesellen – tatsächlich miteinander verbinde. Nur diese eine Liebe, und vielleicht noch der Anspruch auf die Malwinen.
Selbst ein gewöhnlicher Ausländer kann mit jedem Argentinier − ob Taxifahrer oder Kneipenbekanntschaft, Freund oder Tribünenkumpel − über alles reden. Aber in der Regel nicht − zumindest nicht objektiv − über:
1. Argentinien,
2. argentinischen Fußball,
3. den Papst,
4. die Malwinen,
5. die Tatsache, dass Argentinier, nun ja, ein spezieller Menschenschlag sind.
Jorge Valdano, 1986 Weltmeister an der Seite von Diego Maradona, erzählte in einem Interview mit dem »Spiegel« einmal:
Als Fußballer besaß ich eher so eine deutsche Geschicklichkeit. Argentinischer Fußball ist sehr wendig, Sie kennen diesen romantischen Mythos, sehr phantasievoll, sehr kreativ, Maradona eben.
Und weil der Fußball am Río de la Plata das Leben ist, ist das Leben wie der Fußball. »In der argentinischen Gesellschaft gilt die Täuschung als Kunst. Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist«, sagte Valdano und lieferte gleich die passende Anekdote:
Bei meinem ersten Verein als Profi, damals noch in Argentinien bei den Newell’s Old Boys, gab es jeden Dienstag ein Lauftraining. Neben unserem Platz lag die Galopprennbahn, da mussten wir dreimal rum, das ist eine ziemlich lange Strecke. Bei meinem ersten Training bei den Old Boys geschah Folgendes: Ich lief vorneweg, ich war jung und schnell, ein athletischer Typ. Aber nach einer viertel Runde überholten mich zu meiner großen Überraschung die drei Stars des Teams − in einem Taxi. Sie hatten an der Strecke einen Freund mit seinem Auto postiert, der sie dann wieder absetzte, kurz bevor es auf die Zielgerade ging. Der Trainer hat das nicht mitbekommen. Um ein Star zu sein in Argentinien muss man nicht hart trainieren, sondern Taxi fahren.2
Und darf auf keinen Fall pünktlich sein.
»Wir wissen ja, dass wir nicht immer perfekt sind«, sagt Pablo. »Aber wir wollen es nicht von einem verdammten Ausländer hören. Verstehst du?«
»Nein.«
»Du solltest wissen: Wenn du morgen bei uns im Radio über unser Land lästerst, könnte eure Botschaft brennen.«
»Willst du mich einschüchtern, Pablo?«
»Nö, ist ja nicht meine Botschaft.«
Ich werde nicht über Argentinien lästern.
Ich habe Angst, dass die Feuerwehr von Buenos Aires zu spät anrückt.