Pilgern hoch vier: Die 240-Kilometer-Wallfahrt
von CHRISTOPH WESEMANN
0.40 Uhr.
Cristian erzählt, es gebe auch eine viertägige Wallfahrt, die von Buenos Aires nach San Nicolás de los Arroyos führe und 240 Kilometer lang sei. Könnten wir ja im nächsten Jahr machen.
Mal sehen.
Der Rucksack ist gepackt. Hut und Sonnenbrille, Katzenwäschekram und Deospray, Notizblock, Kuli und Kamera, Mate, Isomatte, Schlafsack vom Sohn und Hello-Kitty-Schmusedecke der Töchter, dazu die im Vorjahr auf der 60 Kilometer langen Wallfahrt nach Luján erfolgreich getesteten Dopingmittel »Actron 600« (Schmerztabletten) und »Diclofenac« (Schmerzcreme). Ach ja, und Pflaster.
Am Montagmorgen um fünf Uhr besteigen mein argentinischer Freund, Sherpa Cristian, und ich den 60er-Bus, der uns zum Kilometer 44 der Panamericana bringt. Dort beginnt um sechs unser Fußmarsch nach San Nicolás de los Arroyos. Seit 1985 wird von Buenos Aires dorthin gepilgert, bei der Premiere waren es sechs Leute, mittlerweile sollen 500 bis 1500 Irre auf dieser Strecke unterwegs sein – »mit Glaube und Freude«. Vor uns: vier Tage und 240 Kilometer, mit anderen Worten die unerträglichen Qualen von Luján mal vier.
Oder hoch vier.
Wir verbringen die erste Nacht in Zárate, die zweite in San Pedro (wohl auf dem Gelände zweier Pfarrgemeinden) und die letzte dann in El Paraíso, wobei Das Paradies offenbar keine Stadt ist, sondern eine estación. Also ein Bahnhof? »Frag mich nicht«, sagt Cristian. »Ich bin auch noch nie nach San Nicolás gepilgert, ich weiß genauso viel wie du.« Jedenfalls, am Donnerstag, Punkt 20 Uhr erreichen wir das Heiligtum der Jungfrau Maria, einen auf den ersten Blick eher schmucklosen Tempel.
Ich gehe gut vorbereitet an den Start. Ich habe die letzten Tage nicht mehr unten im Ehebett geschlafen, sondern oben auf der Wohnzimmercouch – Höhenluft reichert bekanntlich die roten Blutkörperchen an – und außerdem viermal meinen Text von der 2014er-Wallfahrt nach Luján gelesen. Macht auch 240 Kilometer.
Ich musste meinen Rucksack allerdings zwischendurch mal absetzen.
Kleines Handicap: Cristian wird mir nicht noch einmal mit seinem Haustürschlüssel die kirschgroße Blase aufstechen. Nicht mal mit meinem Schlüssel.