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Señor Schnauzbart und die Höhle: Geldtauschen ins Blaue hinein

von DIRK RÜGER

Der Autor hat von 1996 bis 1998 in Argentinien studiert und gearbeitet, das Land jüngst zum ersten Mal wieder besucht und von dieser Erfahrung  für das Argentinische Tagebuch berichtet: ¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch.
Er lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

♦♦♦♦♦

»Wer ist das denn, mit dem du dich da triffst?«

»Den kenn ich aus dem Internet.«

»????«

»Nein, keine Angst! Wir kennen uns schon länger. Er hat so’n Blog über Argentinien, und wir folgen uns gegenseitig bei Twitter …«

»????!!!!«

Ok, vielleicht nicht die beste Art, deine Frau zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen machen soll, wenn du dich mit eurem ganzen Reisebudget einem Typen anvertraust, den du noch nie im Leben persönlich getroffen hast. Aber rückblickend ist ja alles gut gegangen, und mein Bauchgefühl hat sich als richtig herausgestellt.

Das Innenministerium in Buenos Aires Foto: Dirk Rüger

> Das Innenministerium Foto: Dirk Rüger

Meine Frau und ich hatten uns vorher informiert über den Euro-Wechselkurs in Argentinien: Da es für Argentinier nahezu unmöglich ist, Pesos in Dollar (oder Euro) zu tauschen, und man dementsprechend nicht an die stabile ausländische Währung herankommt, hat sich ein »inoffizieller« (um nicht zu sagen: illegaler) Parallel-Umtausch-Markt entwickelt,  der sogennante »Blue Dollar« und sein kleiner Bruder, der »Blue Euro«. Die sind zwar, wie gesagt, offiziell verboten, aber selbst in den Tageszeitungen kann man sich über die beiden Tages-Kurse (Offizieller Umtausch vs. Blue Dollar) informieren. Entsprechend geben sich die blauen Wechsler in der Fußgängerzone »La Florida« im City-Center von Buenos Aires auch unverhohlen zu erkennen und sprechen alle, die so aussehen, als ob sie sich nur aus diesem einen bestimmten Grund in der Gegend aufhielten, darauf an: »¿Cambio?, ¿cambio?« (Wechseln? Wechseln?).

Die Fußgängerzone der Hauptstadt: Calle Florida

> Die Fußgängerzone: Calle Florida

> Ein Schuhputzer in der Calle Florida

> Arbeiten in der Florida: der Schuhputzer, ein südamerikanischer Beruf

Allerdings hatte ich auch gehört, dass es dort auf der Straße erstens oft nicht allzu wahrscheinlich ist, dass man den allerbesten inoffiziellen Kurs bekommt, und es zweitens natürlich so eine Sache ist, wenn man Leuten in eine Wechsel-»Höhle« (so der offizielle inoffizielle Name dieser Art Wechsel-Stube: »cueva«) folgt. Denn: Wenn jemand eh etwas Illegales am Laufen hat, was hindert ihn daran, weitere illegale Aktionen zu unternehmen, wie zum Beispiel dir das gerade getauschte Geld auf dem Rückweg wieder abzunehmen? Mit dem Vorteil, dass er sogar genau weiß, wie viel Bargeld du dabei hast und ob es sich entsprechend lohnt. Wen sollst du denn zu Hilfe rufen?

Frau Polizistin, dieser Señor hat mir gerade mein soeben unerlaubterweise getauschtes Geld wieder unerlaubterweise abgenommen!

Da aber das Ausgehen in Buenos Aires manchmal sogar teurer ist als in Berlin, hatten wir uns trotzdem entschieden, Bargeld mitzunehmen, um unser Reise-Budget etwas blau zu färben, will sagen, durch den Blue-Euro zu vergrößern.

Um auf Nummer Sicher zu gehen und uns nicht gleich am ersten Tag in die Wechsel-Höhle des Löwen begeben zu müssen, hatten wir eine, auch vom argentinischen Staat erlaubte Zwischen-Lösung gefunden: den Online-Geldtransfer »Azimo«. Auf diese Weise kann man an sich selbst Geld vom eigenen Konto überweisen, zu einem Kurs irgendwo zwischen »offiziell« und »blue«, und muss dann »nur noch« bei einem ausgewiesenen Büro (Info gibts auf der Website) unter Vorlage des Reisepasses und einer Referenznummer das argentinische Geld abholen.

»In Echt« war das dann aber etwas aufwendiger (weil bürokratischer) als gedacht. Ich hatte vergessen, dass die argentinische Bürokratie bisweilen der deutschen (also kafkaesken) nicht ganz unähnlich ist. Entsprechend reichte die in der Email angegebene Ausweisung mit Pass und Referenznummer dann doch nicht aus, sondern ich musste außerdem ein zweiseitiges Formular ausfüllen, schriftlich versichern, dass das auszuzahlende Geld von einem »Sparkonto« stammt und obendrein eine Kopie des Reisepasses, inklusive Einreisestempel mit Visum abgegen. Plus einer halben Stunde Wartezeit.

Für das Nötigste (die ersten Tage) war nun gesorgt. Da wir jedoch noch Bus-Tickets für die Weiterreise kaufen wollten, benötigten wir so bald wie möglich mehr argentinische Pesos, denn per Online-Buchung hätte man die Fahrkarten ja wieder nur zum offiziellen Kurs bekommen. Zum Glück hatte mir mein Internet-Bekannter CW vorher versichert, dass, wenn wir beim Geld-Tauschen Hilfe brauchten, er uns aus der blauen Patsche helfen könne. Er kenne da vielleicht jemanden, der vielleicht auch jemanden kennt, und diese Person kenne dann wiederum … Argentinien halt.

Facebook-Nachricht an CW.: »Hast du morgen (Samstag) Zeit, mich beim Geldwechseln zu begleiten?«

Antwort von CW: »Tut mir Leid, aber morgen geht leider nicht. Und Sonntag haben die Cuevas ja zu. Also Montag.«

WAS?! Die illegalen Geld-Höhlen haben sonntags geschlossen? Das kann ja wohl nicht …

Facebook-Nachricht an CW: »Wie viel Uhr denn? Geht bei Dir vormittags? Wir müssen ja noch die Bus-Tickets kaufen. Je früher also, desto besser.«

Antwort von CW: »Ich muss erst über einen Freund die Nummer von Mauro besorgen und den dann fragen, wann die aufmachen. Vormittag ist grundsätzlich ok.«

Kurz darauf, noch mal CW: »Ok, um 11 in der Calle Soundso, Hausnummer 1000irgendwas! Wir treffen uns vor dem Haus auf der Straße, ok? Du wirst mich leicht erkennen, ich bin der, der am argentinischsten von allen aussieht!«

Facebook-Nachricht an CW: »Super! Dann bis Montag!«

Erinnert ihr euch an das Gespräch vom Anfang dieses Artikels? Ich kannte CW wirklich nur aus dem Internet. Aber wir hatten schließlich auch mehrere gemeinsame Themen: das argentinische Exil (er jetzt, ich vor 17 Jahren), das Bloggen, den Journalismus. Und ich hatte ihn vorher um seine Einschätzung gebeten, was die Kriminalität und aktuelle soziale und politische Situation in Argentinien angeht, woraufhin er mir ausführlich geantwortet hatte. Kurzum: CW erschien mir überaus sympathisch und vertrauenswürdig. Was sollte also passieren?

Am Montagmorgen packe ich unser gesamtes Euro-Bargeld für zwei Wochen in das »geheime« Reißverschluss-Fach meines Ledergürtels und nehme den Linien-Bus Nummer 24 von Paternal in den Nachbarbezirk nach Caballito. Ich steige kurz hinter der Statue des »Cid Campeador« aus, laufe die Hauptstraße weiter und biege in die von CW benannte Seitenstraße ein. Ich bin wider Erwarten pünktlich und warte besser nicht direkt vor der richtigen Hausnummer, sondern zwei Häuser weiter.

Nur fünf Minuten später (also eigentlich noch hora alemana, deutsche Pünktlichkeit) spricht mich ein bärtiger Brillenträger aus einem Auto heraus an: »Dirk? Ich such nur kurz ‘nen Platz zum Parken, ok?« Den findet CW auch gleich gegenüber und erklärt mir, nach unserer ersten Begrüßung, wie das Ganze abzulaufen hat.

Wir klingeln, und sobald jemand über die Gegensprechanlage fragt, was wir wollen, sagen wir, dass Mauro uns erwartet. Bloß nicht sagen, warum wir eigentlich hier sind, ok?

Gesagt getan. Als daraufhin der Summer ertönt und uns die Tür öffnet, will ich sofort durchmarschieren. Aber CW hält mich erschrocken zurück: »Nein, Boludo1. Wir warten erst, bis jemand kommt, und dann klären wir, ob wir beide hoch dürfen oder du alleine gehst, ok?« Als aber nach fünf Minuten immer noch niemand gekommen ist, trauen wir uns schließlich doch, bis in den zweiten Stock zu gehen und an die Tür zu klopfen. Schließlich öffnet uns ein schnurrbärtiger älterer Herr, den zwar auch CW nicht kennt, der uns aber in einer Art Wartezimmer eintreten lässt, in dem schon andere Leute sitzen. Wir nehmen ebenfalls Platz, und CW erklärt mir die weiteren Schritte.

Alsbald kommt der Schnurrbärtige zurück und fragt mich nach Währung und Betrag, die ich tauschen will, teilt uns den Tageskurs mit, wartet auf unser Einverständnis und verschwindet wieder. Ein paar Minuten später taucht er wieder auf und drückt mir so etwas wie einen Kassenbon in die Hand, auf dem der Wechselkurs und die zu erwartende Summe in Pesos Argentinos stehen.

Etwas später geht die Tür zu einem anderen Büro auf, aus dem heraus mich jemand hereinwinkt. Dies stellt sich jedoch als Missverständnis heraus, und ich werde überaus unwirsch wieder in den Wartebereich dirigiert. Etwas erschrocken falle ich zurück auf meinen Stuhl.

Endlich taucht Señor Bigote2 abermals auf, und ich folge ihm in ein Zimmer, in dem er mir gegenüber hinter einem großen Tisch Platz nimmt. Vor ihm ein Packen argentinischer Geldscheine und ein Geld-Zähl-Automat. Ich schnalle etwas umständlich meinen Gürtel ab, um die Euro-Scheine aus dem Geheimfach zu befreien. Er zählt nach, bestätigt mir per Kopfnicken sein OK und legt das argentinische Equivalent in die Zähl-Maschine. Auf Knopfdruck raschelt das Geld hindurch, aber die im Display angezeigte Zahl entspricht nicht unser beider Erwartung. Sein Versuch, die Einstellung zu ändern, bringt keine Veränderung! Schließlich ruft er einen Kippa-tragenden Kollegen, mit mehr Ahnung, der es schafft, von Dollar auf Pesos umzustellen. Jetzt ist das Ergebnis ok.

Bigote nimmt das argentinische Geld aus dem Automaten und hält es mir hin. Ich gucke wohl etwas verzweifelt auf meinen Gürtel. Der größte existierende Peso-Schein ist die 100er-Note, was nur etwa zehn Euro entspricht, und das Bündel ist entsprechend voluminös. »Das kannst du gleich vergessen!«, lacht der Schnauzbart und gibt mir stattdessen das Gummiband, das schon am Anfang unseres Unterfangens die Scheine zusammengehalten hatte. Mit einem resignativen Seufzen stecke ich den Klumpen Guita (Slang für »Geld«) in die Tasche und habe ein etwas ungutes Gefühl bei der Vorstellung, im öffentlichen Bus und später zu Fuß durch die Seitenstraßen nach Hause zu müssen. Das Geld nachzuzählen traue ich mich natürlich auch nicht! Stattdessen bedanke und verabschiede ich mich und verlasse das Büro.

Als CW mich sieht, springt er sofort auf, und zusammen begeben wir uns Richtung Treppenhaus. Leider hat Bigote jedoch vergessen, den Tür-Öffner für die Haustür zu betätigen, so dass CW ein paar Fitnessübungen vor der Überwachungskamera machen muss (»Bloß nicht klopfen! Das gibt nur Stress!«), bis sich schließlich jemand erbarmt und uns in die Mittagssonne entlässt. Was für ein Abenteuer!

Ab nach Hause Foto: Dirk Rüger

> Ab nach Hause Foto: Dirk Rüger

Zum Glück bleibt mir die Heimfahrt mit den Öffis erspart, da CW mich netterweise zurück in den Stadtteil Paternal chauffiert. Als ich ihn aus Dankbarkeit in die Wohnung meiner Freundin EA hereinbitte, begrüßt uns diese zunächst wenig begeistert: »Woher kanntest du den Typen noch mal? Ist’n Freund von dir, oder?«

»Ja, genau! Aus dem Internet!«

PS: Meine anschließende Kontrolle des umgetauschten Betrages ergab übrigens eine 100%ige Übereinstimmung mit der auf dem Kassenbon von Señor Schnauzbart vermerkten Anzahl Pesos Argentinos.

  1. argentinisch für Depp oder Schwachkopf, eine liebgemeinte Anrede unter Freunden []
  2. Schnauzbart []

¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch

von DIRK RÜGER

 

Der Autor lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

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»¡Estás igual!«, kräht es jedes Mal aus dem Mund meiner Freundinnen und Freunde. »Du hast dich gar nicht verändert!« Einerseits sind das ja die Komplimente, die man gerne hört mit fast 44. Andererseits ist es immer so eine Sache mit dem »Sich-nicht-verändert-Haben« – selbst wenn das zunächst nur der erste Eindruck ist, vor allem rein äußerlich gemeint.

Eine Ewigkeit − 17 Jahre − ist es her, dass ich Argentinien und vor allem Buenos Aires verlassen habe, wo ich (lediglich) zwei Jahre gewohnt, gelebt, studiert habe. Vor der Wirtschaftskrise (welcher denn?) 2001. Mit meiner damals hochschwangeren argentinischen Exfrau flogen wir im Juni 1998 nach Berlin. Ich wollte nur mein Studium beenden und dann spätestens nach dem Examen wieder zurückkehren nach Argentinien. Dann machte uns die große Krise einen Strich durch die Rechnung. Die Straßen brannten, und das halbe Land versank in Armut.

Juristische Fakultät

> Eine breite Straße in den Norden von Buenos Aires: die Avenida Figueroa Alcorta mit der Juristischen Fakultät (r.)

Ich war 1996 nicht unvorbereitet nach Argentinien gekommen. Ich hatte zuvor schon große Teile Südamerikas bereist, hatte in Perú ein Praktikum in einer Schule gemacht. Ich hatte durch mein Lateinamerikanistik-Studium und argentinische Freundinnen und Freunde Ahnung von Literatur (Sábato, Córtazar, Borges), Rockmusik (Sumo, Charly, Fito), Sozio-Kultur (Perón, Mate, Tango, Gauchos) und den Besonderheiten der Sprache (vos, che).

> Ezeiza, der internationale Flughafen von Buenos Aires

> Buenos Aires und sein berühmter Fluss, der Río de la Plata

Schon als ich das erste Mal in Buenos Aires ankam und mich mein Freund der Reisebürobesitzer (damals noch Student von irgendwas, jetzt in México lebend) in dem alten Fiat seiner Eltern vom Flughafen Ezeiza abholte, fühlte ich mich wie zu Hause. Obwohl ich bis dahin die Stadt nur aus Erzählungen von einem fünftägigen Besuch in Mendoza kannte: »Wenn du Argentinien richtig kennenlernen willst, musst du unbedingt nach Buenos Aires, das ist der Wahnsinn!«. Und das war auch 1996 schon mehr als zwei Jahre her.

Ich erlebte zunächst ein bonaerensisches Klischee: die italienische Einwandererfamilie des Reisebürobesitzers im »Vorort« Olivos, Boca-River-Fußballspiele im Fernsehen, sonntags selbstgemachte Lasagne, meine ersten Milanesas (argentinische Schnitzel, dem Wienerschnitzel nicht unähnlich, aber viel besser!), abends in Palermo Viejo im Auto vor irgendeinem Kiosk mit den Freunden Bier trinkend, die Wochenenden in Tigre mit Bootsfahrten, Asado und Mate.

Asado: Morcillas (Blutwürste), chorizo (Bratwurst) und Pollo (Huhn)

> Asado: morcillas (Blutwürste), chorizos (Bratwürste) und pollo (Huhn)

Danach tauchte ich ins Studentenleben ein, wohnte erst bei einer exaltierten Architektin in einer Designer-Wohnung im Bezirk Caballito, inklusive US-amerikanischen und brasilianischen Mitbewohnerinnen, und brachte argentinischen Yuppies Englisch in einer Sprachschule bei. Danach zog ich übergangsweise ins Barrio Once, in das Zimmer eines mir über zwei Ecken bekannten Dramaturgen (in dessen WG ich das Licht-Double von Brad Pitt in »Sieben Jahre in Tibet« kennenlernte, der damals in Mendoza gedreht wurde), und schließlich zu meiner Freundin der Theater-Lehrerin nach Chinatown. Das bestand damals nur aus drei Blocks der Straße Arribeños im Stadtteil Belgrano.

Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im Norden der Hauptstadt

> Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im im Stadtteil Belgrano

Ich las pro Woche zwei Romane in einem Seminar über argentinische zeitgenössische Literatur an der UBA, bestellte Heiligabend Eis per Liefer-Service, tanzte ein einziges Mal Tango, und zwar auf der Hochzeit meiner Freundin der Schauspielerin, besuchte Vorlesungen bei Beatríz Sarlo über Postmoderne in Argentinien, lernte von meinem Freund dem Dichter die Besonderheiten des Gangster-Slangs »Lunfardo« und ging abends auf Konzerte von Divididos, Illya Kuryaki and the Valderramas oder El Otro Yo und in Clubs wie das »Nave Jungla«, wo das Service-Personal aus Kleinwüchsigen bestand und man vor zwei Uhr morgens noch verbilligten Eintritt bezahlte.

Ich fühlte argentinisch, ich war porteño.

Und dann: 17 Jahre weg.

> Das Microcentro von Buenos Aires und ganz entfernt ein Wahrzeichen der Stadt: el Obelisco

Natürlich hat Argentinien auch danach eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ich war in Berlin weitere acht Jahre mit einer Argentinierin zusammen. Ich redete in dieser Zeit mehr spanisch als deutsch. Ich trank weiterhin Mate, Familie und Freundinnen berichteten uns über die aktuelle politische Lage, ich gab eine spanischsprachige Zeitung heraus.

Aber 17 Jahre keinen Fuß auf argentinischen Boden.

Ich war so aufgeregt wie nur was. Und hatte auch Angst.

Die Argentinier so:

17 Jahre? Das ist so, als wärst du noch nie da gewesen! Alles hat sich total verändert. Und die Kriminalität! Alles ist viel schlimmer! Du kannst keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne dass du Angst haben musst, überfallen zu werden. Und wenn du in Ezeiza ankommst: Pass bloß auf mit den Taxis. Nimm bloß kein Taxi, das nicht registriert ist! Es ist schon so viel passiert!

Ich habe meine argentinischen Freundinnen und Bekannten so gelöchert und genervt, dass ich gut verstanden hätte, wenn sie mich aus ihrem Facebook-Freundeskreis gestrichen und einfach nicht mehr geantwortet hätten.

Aber außerdem war ich auch aufgeregt, weil ich meiner deutschen Ehefrau, die noch nie in Argentinien gewesen war, den Ort zeigen wollte, den ich 17 Jahre nicht gesehen hatte. Ich hoffte natürlich, dass sie Buenos Aires genauso liebte wie ich.

Es hat sich nichts verändert. Als unsere Freundin die Schauspielerin uns in den Arm nimmt und »¡Pero estás igual, che!« zu mir sagt; als wir das erste Mal in einen »bondi«, den Stadt-Bus, steigen und ich sofort, ohne Stadtplan, wieder weiß, wie Buenos Aires funktioniert, wie die Stadt tickt, wie man in diesem Geschoss freihändig stehen muss, um bei dem rasenden Tempo durchs Verkehrs-Chaos nicht umzufallen, worauf man achten muss, um die Ziel-Haltestelle nicht zu verpassen: Da ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Freude darüber, dass Freundschaften, die quasi 17 Jahre auf Eis gelegen haben, sich nach nicht mal einer Minute wieder so anfühlen, als hätten wir erst gestern zusammen Mate getrunken − diese Freude lässt sich kaum beschreiben.

Und, na klar, es hat sich auch vieles verändert. Meine Freundinnen von damals sind keine Studenten, Biochemikerin, Bonaerenser, Argentinier mehr, sondern jetzt Reisebürobesitzer, Schauspielerin, Cordobesen, Mexikaner und Pariserin, alle sind älter und bis auf einen auch Eltern geworden. Aber die italienischen Reisebürobesitzer-Eltern wohnen immer noch in Olivos, und die Mutter hat extra für uns frische Pasta handgemacht. Das Barrio Chino, also Chinatown, ist nur ein paar Blocks gewachsen, und die alte Gänsehaut, die ich jedes Mal hatte, wenn ich am Río de la Plata stand und bis zum Horizont nur Süßwasser sah, stellt sich auch sofort wieder ein.

Río de la Plata

> Die direkteste Verbindung nach Uruguay: über den Río de la Plata

Aber auch: Meine Frau ist von dem 17-Millionen-Moloch anfangs ganz schön überfordert − und nicht erst, als wir direkt an einem Slum vorbei im Dunkeln zur zehn Minuten entfernten Bahnstation laufen müssen, um von dort zum Busbahnhof zu fahren, der neben einem anderen, noch viel größeren Slum liegt. Und das alles vor einer zwölf Stunden langen Busfahrt in Richtung Córdoba.

Argentinisch Reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

> Argentinisch reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

Und ja (ganz realistisch): Buenos Aires ist nicht mehr der verklärte Sehnsuchtsort, an den auszuwandern ich mir vorstellen kann, wenn wir alt sind. Es wird wohl doch eher Uruguay, in das wir uns verliebt haben, insbesondere Colonia del Sacramento. Von dort ist man mit der schnellen Fähre auch in einer Stunde drüben, nur für den Fall, dass sich meine Sehnsucht alle zwei Wochen bei mir meldet und um ein Wiedersehen mit Buenos Aires bittet. Meine Frau begleitet mich sicher auch gern, und sei es nur, um bei unserer Freundin der Schauspielerin auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen und ein helado von der Eisdiele um die Ecke zu essen. Am letzten Tag hat sie, die Quasi-Italienerin, übrigens zugeben müssen, dass dieses Eis (fast) besser schmeckt als das italienische.

Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

> Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

Und noch: Auf die Frage meiner Frau, was denn anders sei als auf der Nordhalbkugel, wusste ich, trotz jahrelangem Aufenthalt und wiederholten Reisen auf die Südhalbkugel, nur zu erwidern, dass ich gelesen hätte, der Strudel im Klo drehe sich in »die andere« Richtung. Außerdem wusste ich, dass man das »Kreuz des Südens« am Himmel sehen kann und die Jahreszeiten »umgekehrt« zum Norden stattfinden.

Meine kluge Frau hat schon am ersten Abend in Buenos Aires gemerkt, dass der Mond spiegelbildlich, in die jeweils andere Richtung hin, zu- und abnimmt und dann später auch, dass die Sonne mittags im Norden im Zenit steht und nicht wie bei uns zu Hause in Berlin im Süden.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)