Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

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Tag 6. Pehuén-Co > Las Grutas. 600 Kilometer.

Mit drei Söhnen hätte ich die Nacht in Ushuaia verbracht, der südlichsten Stadt der Welt, wir würden jetzt die Antarktis durchqueren und kämen spätestens morgen Früh oben in Kanada raus. Aber der Siebenjährige hat zwei kleinere Schwestern, die uns aufhalten, besonders gern, nachdem ich drei Laster überholt habe.

»Piiiipiii, Papa.«

Mein Sohn pinkelt, wie jeder gesunde Mann, morgens und, wenn er’s nicht vergisst, noch mal abends vor dem Schlafgehen.

Bei seinen Schwestern: drei Topfen.

Drei Tropfen, drei Laster, wieder drei Tropfen.

Wir sind unterwegs auf der Ruta Nacional 3, Argentiniens berühmter Ostküstenstraße, die von Regisseuren gern für hiesige Roadmovies (Die Reise) besetzt wird. Sie führt von Buenos Aires nach Feuerland und ist 3060 Kilometer lang, wobei man hinter Río Gallegos, der Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, ein Stück durch Chile fährt. Der Reisende, dichtet der Lonely Planet, »durchquert weite, gähnend leere Landschaften, die am Horizont verschwimmen wie ein endloses unbeschriebenes Blatt Papier«. Wir wollen überübermorgen den Kilometer 1514 erreichen und dort ins Tierschutzreservat Punta Tombo abbiegen, um die Magellan-Pinguine zu besuchen. Ich hätte große Lust, weiterzufahren bis ans Ende der Straße. Aber: siehe oben.

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Mapa de la Ruta Nacional 3 en la Argentina., Creative Commons, Urheber: Dario Alpern

 

Hmmmh, sind das schon Altersflecken auf meinem Handrücken? Oder noch Sommersprossen? Und was singt da Andrés Calamaro? »Me parece que soy de la quinta que vio el Mundial 78, me toco crecer viendo a mi alrededor paranoia y dolor.1« Was meint er damit? Nichts gegen Andrés Calamaro: Wir hören sein 2005er Konzertalbum El Regreso, eingespielt in Buenos Aires, rauf und runter auf dieser Reise. Aber allmählich könnte mal wieder ein Auto von vorne kommen. Das Geradeausfahren in dieser Leere führt gedanklich ja doch zu nichts. Macht nur müde. Wenn mich nicht bald wenigstens eine Kurve aufmuntert, muss ich singen, um wach zu bleiben.

 

Wir sind bei Kilometer 970 und nun, am sechsten Urlaubstag, endlich in Patagonien, der Region südlich der Flüsse Colorado (Argentinien) und Bío Bío (Chile) und nördlich der Magellanstraße. »Das große, grandiose Nichts« nennen sie Patagonien bei Spiegel Online. Der argentinische Teil ist 765 000 Quadratkilometer groß – umgerechnet: zweimal Deutschland plus die Schweiz. Hach, sechs Wochen müsste man Zeit haben, nein, sechs Monate, und mit diesen Töchtern natürlich entsprechend mehr. Sechs Jahre, grob gerechnet.

Jedenfalls nicht nur: noch sechs Tage.

Auf dem Weg nach Las Grutas, der nächsten Station, können wir uns bloß ein paar Extravaganzen leisten. Die Nationalstraße haben wir eben hinter Carmen de Patagones verlassen. Die Stadt ist die südlichste der Provinz Buenos Aires und nennt sich selbst Eingangstor nach Patagonien. Auf dem Rückweg werden wir in Viedma übernachten, dem Nachbarort, Hauptstadt der Provinz Río Negro.

Ella no va a volver y la pena me empieza a crecer, adentro
La moneda cayó por el lado de la soledad y el dolor
La moneda cayó por el lado de la soledad otra vez
La moneda cayó por el lado de la soledad.

(Sie wird nicht zurückkehren und der Kummer beginnt in mir zu wachsen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit und des Schmerzes gefallen
Abermals ist die Medaille auf die Seite der Einsamkeit gefallen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit gefallen)

»Papa, du singst so schlecht!«

Zwischenstopp in El Cóndor, dem Seebad am Atlantik, Heimat der größten Papageienkolonie der Welt. Angeblich, natürlich. »Argentinier können über Argentinien eigentlich nur im Superlativ sprechen«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. Ein anderer Journalist, Jakob Strobel y Serra, meint:

Argentinien ist wie Maradona, und Maradona ist wie Argentinien. Niemals könnte er Brasilianer sein, genauso wenig wie Pelé jemals Argentinier sein könnte. In Diego Armando Maradona, dem argentinischen Archetypus par excellence, vereinen sich alle Widersprüche des zweitgrößten Landes Lateinamerikas: Triumph und Tragik, Genie und Wahnsinn, Demut und Divenhaftigkeit, Lebenshunger und Leidenslust, Großmannssucht und Schutzbedürfnis, Schaffenskraft und Selbstverstörungswahn.                          Argentinien: Ein Reiselesebuch, Hamburg 2010.

Apropos Selbstzerstörungswahn: In den Klippen unter dem ältesten Leuchtturm Patagoniens haben die Papageien ihre Nisthöhlen, mehr als 30 000 sollen es sein; und im Sand verstecken die Schildkröten ihre Eier. Trotzdem fahren Geländewagen und Pickups herum, es ist sogar erlaubt. Ach Argentinien, Du Klappstuhlnation. Man sonnt sich nicht auf Decken, sondern bringt seine Stühlchen mit zum Strand. Zur Grundausrüstung gehören außerdem gut gefüllte Kühlboxen, Sonnenschirme und mehrere Liter Warmwasser für den Mate. Und weil man nichts schleppen will, fährt man so weit wie möglich vor.

Hahaha, guckt mal, einer ist mit seinem Jeep im Sand stecken geblieben. Geschieht ihm recht! Der Fahrer buddelt und legt zwei Pappen an die Vorderräder, Mama, Oma und Tochter müssen gleich schieben. Was für eine idiotische Familie. Wir stellen uns auf und genießen.

Noch drei Stunden bis Las Grutas – mindestens. Denn wir haben beschlossen, die unbefestigte Route entlang der Küsten zu nehmen, die Provinzstraße 1. Asphalt, also die Nationalstraße 3, ist etwas für Anfänger.

»Was gibt’s eigentlich heut Abend zu essen?«

»Wie immer.«

»Lecker.«

Wie traumhaft schön diese endlosen, menschenleeren Strände doch sind! Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner. Irgendwo müssen ja keine Leute sein. Und hier sind sie nicht. In Patagonien teilen sich zwei Einwohner einen Quadratkilometer – in Deutschland sind es 226. Aber was dafür an Tieren herumrennt, auf und neben der Straße, schaut euch das an.

»Strauße! Wären mir fast vors Auto gelaufen, die Biester.«

»Das sind Nandus

»Da hinten: Lamas!«

»Guanakos

»Wer ist eigentlich klüger, Papa? Mama oder du?«

»Unentschieden.«

Hoppla, dort vorne liegt aber ordentlich Sand auf der Straße. Die Reifenspuren sind ziemlich tief, ich weiche mal nach rechts aus, wo der Untergrund fester ist.

Keine gute Idee.

In Island, im Sommerurlaub 2010, wollten wir einen Vulkan besichtigen oder einen Wasserfall, vielleicht auch Geysire, mehr gibt es ja in Island eigentlich nicht. Dann kam ein Flüsschen, das in keiner Karte verzeichnet war, aber nachweislich vor uns plätscherte – wohl, weil es in der Nacht geregnet hatte. Ich wollte hindurchfahren, als uns ein Franzose im Suzuki überholte – und gleich darauf, merci beaucoup, mit seinem Geländewägelchen im Schlamm einsank.

Wir stecken auch fest.

Wo, hijo de puta, ist in Patagonien der Franzose, wenn man ihn braucht?

Mittlerweile haben sich die Nachbarn versammelt, um die Köpfe zu schütteln. Fehlt nur noch die Spanner-Omi mit Kissen auf der Fensterbank. Während ich die Reifen freibuddele, fängt der Siebenjährige neben mir wieder mit seinen Amarok-Phantasien an. Ist das überhaupt heilbar? Der Franzose wurde damals übrigens von anderen Franzosen abgeschleppt, aber auf die Deutschen zähle ich hier, am Ende der Welt, eher nicht.

Ein paar Minuten später sind wir umringt von Argentiniern, die mit ihren Pickups angehalten haben. Natürlich wird erst mal eine Runde geplaudert und sich kennen gelernt. Das gibt mir Gelegenheit, zu einer Verteidigungsrede anzusetzen. Für mich ist’s auch schon die sechste Stunde am Steuer. Und schaut euch mal das gelbe Lämpchen am Tacho an, das leuchtet schon seit Buenos Aires. Ist doch ein Wahnsinn, oder? Wird immer gelber. Wisst ihr, ich bin nicht der Typ, der sich größer macht, als er ist. Aber dass wir überhaupt so weit gekommen sind, liegt vor allem an meinen hervorragenden Fahrkünsten und meinen außerordentlich guten Nerven.

Meinetwegen kann ich mich die ganze Welt, eigene und angeheiratete Familie eingeschlossen, für einen Trottel halten. Aber dass mich Argentinien gut findet, ist mir wichtig.

Beim ersten Abschleppversuch reißt das Seil, weil ich falsch lenke. Einer der Argentinier löst mich ab, lässt sich rausziehen, setzt das Auto zurück und rast dann problemlos über die hundert Meter lange Sandfläche. Das Ganze dauert keine zwei Minuten. Der Sohn bekommt das zerrissene Seil geschenkt und fährt gemeinsam mit der Vierjährigen noch ein Stück auf der Ladefläche des weißen Ford Ranger mit.

»Einmal Sand kommt noch«, sagt der Fahrer, geht in die Knie und malt die Strecke inklusive aller Kurven mit dem Finger – Humor hat er ja – in den Sand. »Darfst keine Angst haben.«

»Angst? Ich?«

Sicherheitshalber fährt ein Pickup voraus und einer uns hinterher, bis wir nach 30 Kilometern wohlbehalten zurück auf der Nationalstraße sind.

Tag 7. Las Grutas.

Das schreibt der Reiseführer:

ein im Sommer völlig überlaufenes Seebad

Ich mag Las Grutas nicht. Zu viel Zivilisation. Ich mag das Hostel nicht. Zu viel Jugend. Ich mag die Jugend nicht. Zu viel Gekoche. Wir kommen nicht mal zum Essen. Bei uns wird grundsätzlich geschlungen, wissend um die Zuverlässigkeit von Zwischenfällen (überfüllte Blasen, umkippende Gläser, Gefechte mit Messerchen und Gäbelchen, allgemeiner Futterneid). Es scheint Familien zu geben, auch große wie unsere, die vernünftig essen. Vielleicht haben die Eltern liebere Kinder oder die Kinder strengere Eltern.

Bei uns wird es heute Abend schon wieder Empanadas de Carne geben.

Vorhin, nach dem Aufstehen, hat sich die Toilette über die Fliesen erbrochen. Das neue Zimmer ist noch kleiner als das alte. Im Garten sitzen sich zwei Amerikaner gegenüber, reden miteinander und rubbeln gleichzeitig auf ihren Smartphones rum. Facebook mag ich auch nicht.

Ich vermisse Buenos Aires.

Am Abend gucke ich beim Abwaschen so lange in die Pfanne von Juan aus Córdoba, dass er mich nötigt, mitzuessen. Er hat dünne Rindfleischscheiben mit allerlei Gemüse für sich und seine Freundin angebraten. Ich erkenne Paprika und rieche Knoblauch. Juans Herz gewinne ich, als mir einfällt, dass es für boludo (Schwachkopf, Depp) ein Extrawort in Córdoba gibt: culiado. Jetzt wird sich verbrüdert. Der Herbergsvater hat mitgehört, kommt an den Tisch und fragt, ob ich schon mal Fernet mit Cola probiert hätte, das argentinische Kultgetränk. Argentinier trinken es – etwa vorm Fußballstadion – gern kollektiv aus einer geköpften Plastikflasche.

Noch nie. Ich schwöre. Her mit der Brühe! Ist doch kostenlos, oder?

Noch ein Glas, bitte. Danke.

Und der argentinische Rotwein, den du da hast, Juan, mein lieber culiado, der ist mir auch total unbekannt.

Die Familie guckt besorgt und hat damit, wie ich am Morgen erfahre, absolut recht gehabt.

Fortsetzung folgt

  1. Übersetzung: »Ich glaube, ich gehöre zur Generation, die die WM 1978 gesehen hat. Um mich herum musste ich Paranoia und Schmerz sehen.« Calamaro spielt an auf die Weltmeisterschaft in Argentinien während der Militärdiktatur. []