Don Salvador, der Abrunder mit dem Bürostuhl am Bordstein
von CHRISTOPH WESEMANN
Salvador Marchese ist der einzige Mensch in Argentinien, den ich nicht duze. Natürlich nenne ich ihn auch »Don Salvador«, wie es all die Nachbarn tun. Sogar die Frau lässt nichts auf ihn kommen, obwohl sie auf die anderen alten Männer hier im Viertel, mit denen ich mich gut verstehe, alles kommen lässt. Meinen Zeitungsverkäufer Alfredo zum Beispiel mag sie nicht mehr, seit er ihr gesagt hat, sie solle zu Hause bei den Kindern bleiben und mir das Geldverdienen überlassen. Und zu Carlos, meinem Friseur, darf ich nur noch allein. Als nämlich mein Sohn das letzte Mal bei ihm war, musste der Schulfotograf zwei Tage später aus dem Vorjahresbild Haare herausschneiden, um die Löcher auf dem Kopf nachträglich zu verdecken.
Don Salvador aber verkauft Erdbeeren, die nach Erdbeeren schmecken. Sagt die Frau. Und wenn mal wieder das Wechselgeld fehlt – »du hast auch keine Münzen, chico?« –, rundet er den Preis großzügig ab.
Salvador Marchese ist der bekannteste Obst- und Gemüsehändler in Las Cañitas, unserem Viertel im Norden von Buenos Aires. Sein Laden heißt – wie könnte es anders sein – »Salvador«. Marchese hat ihn 1950 eröffnet, eine Querstraße weiter allerdings, auf dem Markt, den es damals noch gab. Ein Vierteljahrhundert später zog das Geschäft dorthin, wo es heute noch ist, Ecke Arévalo und Báez. Keiner arbeitet länger als er in Las Cañitas. Friseur Carlos kommt auf fast 41 Jahre und liegt damit ein paar Monate vor dem Zeitungsmann Alfredo.
Schon Salvadors Vater hatte Obst und Gemüse in Buenos Aires verkauft. Der Sohn begleitete ihn mit sechs Jahren nach Abasto, auf den legendären Großmarkt der Hauptstadt (1893 bis 1984). Abasto ist heute ein Shoppingcenter, aber Salvador Marchese sitzt immer noch an seinem Tisch vor dem Geschäft, direkt am Bordstein, lässt sich vom Kunden den Schnipsel reichen, auf den einer seiner Jungs den Preis gekritzelt hat, kassiert, sucht Wechselgeld und rundet ab.
Heute feiert er seinen 88. Geburtstag.
»Ach, ist nur ein weiterer Tag auf Erden, gracias a Dios«, hat er gestern gesagt.
¡Feliz cumple, don Salvador!