Nicht mal eine Woche für Chile. Nur drei Tage für Santiago. Immer an der Oberfläche treiben. Touristenschicksal. Unsere zwei Helden versuchen es jetzt doch mal: bisschen tiefer rein, unter die Oberfläche. Auf geht’s!

(Vorgeschichte und erster Teil)

  • Dienstag: Santiago

(cw) Herr T. sucht immer Anschluss. Im Hostel hängt er dauernd mit den deutschen Mädels herum. Ich meide ja solche Kontakte, weil ich mittlerweile so tief ins Latinospanisch eingetaucht bin, dass mir in meiner Muttersprache manchmal die Wörter nicht mehr einfallen. Vor unserer Abreise aus Buenos Aires hat Herr T. in diesem Internetforum namens Couchsurfing sogar der chilenischen Jugend mitgeteilt, dass wir bald in Santiago seien. Er wollte wohl eine kostenlose Stadtführung schnorren.

Jetzt hat er einen Chilenen aufgetrieben, den er über seine Arbeit kennt.

(Herr T.) Wir brechen auf zum Treffen mit René, einem freundlichen Chilenen, der uns einen Tag lang herumführen wird. In seinen Mails hat er uns einen Ort versprochen, den Touristen nur selten aufsuchen würden. Es stellt sich heraus, dass er den Hügel San Cristóbal meinte, den wir gestern bereits besucht haben. Also fahren wir erst einmal in sein Büro. René arbeitet für die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal).

(cw) Habe ich schon erwähnt, dass Herr T. versprochen hatte, alles perfekt zu organisieren?

(Herr T.) René ist ein Charmeur. Sämtliche Damen werden als »die wichtigste Frau in der Firma« bezeichnet und stets mit »¡Hola Linda!« (»Hallo, Hübsche!«) begrüßt. CW, der Latinospanischtiefentaucher, nimmt mich zur Seite: »Findest du das nicht seltsam, dass hier alle Weiber Linda heißen?«

Ich antworte nicht.

René und Herr T.

chile 2

(cw) Eine Runde Landeskunde: René erzählt, dass es in Chile keinen Rassismus gebe, sehrwohl aber einen Klassismus – die Ober- und Mittelschicht schaue herab auf die Unterschicht, Hautfarbe und Herkunft egal. In Südamerika sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich sehr groß, viel größer als in Europa. Doch nirgendwo auf dem Kontinent sind sie groß wie in Chile.

(Herr T.) René fährt mit uns in ein Armenviertel. Er will uns einen Kindergarten zeigen, der Anfang der neunziger Jahre als soziales Projekt entstanden ist. René hat ihn damals mit aufgebaut und schaut immer noch oft vorbei. Diesmal bringt er einen Computermonitor mit. Die ersten Kinder, die in dieser Einrichtung einen festen Tagesablauf, ordentliche Mahlzeiten und Bildung bekommen haben, sind heute erwachsen. Manche studieren. Und aus einigen Mädchen dieses Kindergartens sind Erzieherinnen dieses Kindergartens geworden.

René ist bekannt in diesem Viertel. Trotzdem befestigt er, bevor wir aussteigen, eine Kralle am Lenkrad seines Autos.

Armutsviertel

(cw) Schwarzhaarige Kinder begrüßen uns. Sie fremdeln ein wenig, aber das muss man verstehen: Da kommen zwei Männer mit sonnenverbrannten Fressen, und ein paar Süßigkeiten hätten sie wenigstens mitbringen können.

(Herr T.) Es ist sehr idyllisch. Ein kleiner Hof. Sehr gepflegte Gruppenräume. Kinderbilder an den Wänden. In einem Büro sitzt eine junge Frau. Sie verbringt ihr Freiwilliges Soziales Jahr hier und ist natürlich aus Deutschland.

(cw) Herr T. horcht sie gleich mal aus.  Sie schaut genauso verängstigt wie eben die Kinder.

Wenn René Männer anspricht, nennt er sie entweder amigo oder maestro – je nach Bekanntheitsgrad. Der Bürokollege ist amigo – der Parkhauswächter maestro; der Polizist und der Tankwart auch. Und alle Frauen heißen Linda.

Armutsviertel

(Herr T.) Als wir wieder im Auto sitzen, flüstert mir CW zu, dass wir noch die Menschenrechtssituation in Chile ansprechen müssten. Da lasse ich ihm gern den Vortritt.

(cw) Ich bin erleichtert: Wir besuchen das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte (Museo de Memoria y los Derechos Humanos). Es ist ein Wahnsinnsbau, riesengroß, lichtdurchflutet, museumspädagogisch vorbildlich mit vielen Originaldokumenten und Filmaufnahmen aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990). Und berührend ist dieser Ort auch. An einer Wand hängen Schwarzweißfotos der Ermordeten, manche nicht älter als 13 oder 14. Und da sind die Kinderbilder aus der Zeit, als in Chile der Staat gefoltert und verfolgt und getötet hat. Gefängnisse und Strichmännchen mit Pistolen sind zu sehen. »Tengo mieda a que se muera mi mama«, hat ein Mädchen über sein Bild geschrieben. »Ich habe Angst, dass meine Mama stirbt.«

Museum

Wir stehen vor einem Bild des Fotografen Lucho Navarro. Es zeigt eine Bergruine von Lonquén. Dort, am Geburtsort des chilenischen Volkssängers Víctor Jara, selbst ein Opfer der Diktatur, fand man 1978 die Überreste von 15 ermordeten Männern. Sie waren fünf Jahre zuvor verhaftet worden und danach verschwunden.

(Herr T.)

Diese Entdeckung schockierte die Öffentlichkeit damals und wurde zu einem Meilenstein in der Geschichte der Verfolgten und Verschwundenen von Chile. Es war eines der ersten Fotos, das die Militärdiktatur von General Augusto Pinochet entblößte.

(cw) Am Ende stehen wir vor einem Fernseher und schauen, wie das Volk im Nationalstadion die Rückkehr zur Demokratie feiert – in jenem Stadion, das in den ersten drei Monaten der Diktatur als Konzentrationslager für politische Gefangene genutzt wurde und Spielstätte des Vereins CF Universidad de Chile und der Fußballnationalmannschaft ist. »Typisch Chile«, sagt René.

Augusto Pinochet ist heute zwar nur noch etwas für Ewiggestrige, aber ein Besuchermagnet scheint das Museum trotzdem nicht zu sein. Ein paar Schulklassen sind unterwegs – und wir.

(Herr T.) Ewiggestrige, soso. Übrigens wird sich CW gleich morgen in Valparaíso eine Pinochet-Kaffeetasse kaufen. Und weil die von Pinochets demokratisch gewähltem Vorgänger Salvador Allende gleich daneben steht, kauft er die auch noch. CWs Humor.

(cw) Im Ausgang beginne ich einen Streit mit René. Er lädt uns zu allem ein, er hat das Mittagmenü samt Kaffee danach bezahlt und fährt uns jetzt seit fünf Stunden durch die Gegend. Ich wehre mich und bestehe darauf, dass das Abendessen auf unsere Rechnung geht. Herr T., german Geizhals, ist natürlich gerade jetzt sehr schweigsam.

(Herr T.) CW hat schon am Mittag bei René Chiles Nationalgericht Cazuela bestellt, eine kräftige Suppe mit Hühnchen und Maiskolben, und dann später noch mehrmals nachgefragt. CW denkt ja pausenlos ans Essen. Er scheint immer hungrig zu sein. Und wenn er gerade nicht hungrig ist, ist er durstig. Richtig übel wird‘s, wenn er hungrig und durstig ist.

(cw) Muss denn die Parkplatzsuche so lange dauern?

(Herr T.) Als René rechts ranfährt, stehen gleich zwei Polizisten an seinem Fenster. Er sagt: »Ich komme aus einem anderen Viertel. Darf ich hier parken? Ich habe zwei Deutsche im Auto.« Er darf.

(cw) Ich gebe zu: Es wäre für die Menschheit eine große Erleichterung, wenn ich tagsüber an einen Tropf angeschlossen wäre.

(Herr T.) Wir sind in einer Art Hinterhofbiergarten gelandet. In lauter und fröhlicher Atmosphäre werden uns Fleischgerichte serviert, deren Namen oder Zubereitung ich nicht annähernd verstehe. Am Nachbartisch feiert eine Chilenin ihren 23. Geburtstag. CW bekommt seine Cazuela und wirkt für einen Augenblick zufrieden mit sich, der Welt und mit mir.

(cw) Ein bisschen schmuddelig ist es hier schon, sagt mein Verstand. Mein Magen widerspricht ganz energisch. »Es horrible, pero es chileno«, sagt René. »Es ist schrecklich, aber chilenisch.« Dann fordert er das Geburtstagskind vom Nachbartisch zum Tanzen auf.

Terremoto

(Herr T.) Unser Gastgeber bestellt für uns das Getränk El Terremoto (Das Erdbeben), eine Mischung aus Fernet, Weißwein und Vanilleeis, das über einen Strohhalm zu sich genommen wird. CW flucht. Er könne das nicht trinken, sagt er, da er sonst einen wahnsinnigen Schädel kriegen würde.

(cw) Um diese Zeit, es ist kurz nach halb acht, hätte ich schon bei Vanilleeis mit Vanille Bedenken. Aber El Terremoto, das sieht aus und schmeckt nach schweren Verwüstungen und stundenlangen Aufräumarbeiten in meinem Körper.

(Herr T.) »Sei höflich und trink aus«, flüstere ich streng. Am Ende wird mir sogar noch ein zweiter Terremoto spendiert. Der Name erweist sich als sinnvoll. Leicht torkelnd verlasse ich das Restaurant und stelle mich an einen Buchstand.

Ich komme mit dem Händler ins Gespräch, der ein wenig Deutsch versteht. CW steht hinter mir, erneut genervt, auf seine nicht vorhandende Uhr schauend. Sein Mund formt still das Wort, das ihn immer zur Eile zwingt: »Toilette«. Ich verabschiede mich vom Buchhändler und erhalte sogar eine Visitenkarte.

(cw) Herr T. verehrt Johann Wolfgang von Goethe. Ganze Verse von Faust kann er herunterbeten. Bei mir ist aus Schulzeiten – warum eigentlich? – nur »der Geist, der stets verneint« hängen geblieben. Ich halte Goethe insgesamt für überschätzt.

Jetzt hat Herr T. endlich Fausto gekauft, den Faust auf Spanisch. Er ist schwer glücklich und leicht betrunken.

Ich bekomme Kopfweh.

Fortsetzung folgt.