Aus dem Leben eines Chauffeurs
von CHRISTOPH WESEMANN
Die Frau ist wieder verdienstreist, also passiert heute etwas, weil ja immer etwas passiert, wenn die Frau verdienstreist ist. Sicherheitshalber und ausnahmsweise schaue ich mal ins Mitteilungsheft der Dreidreivierteljährigen. Sag ich doch: 9 Uhr, Elternversammlung im Kindergarten. Alles gut. ¡Tranquilo!1 Ja, der Tag wird hart, das schon, viele Fahrten quer durch die Stadt, ich rechne mit 40 Kilometern. Aber ich werde schweben, ich kann gar nicht anders, schließlich hat Argentinien am Abend das Halbfinale der Copa América mit 6:1 gegen Paraguay gewonnen. Außerdem verpasst die Frau ja oft auch dolle Dinger. Vor einer Woche zum Beispiel hat unser Sohn, wie das Brauch ist für Viertklässler hier zu Lande, in seiner Schule geschworen, »die argentinische Fahne zu achten, verteidigen und zu lieben«. Ich hatte Tränen in den Augen.
Die Südamerikameisterschaft ist gleich das Gesprächsthema all der Väter auf diesen winzigen Stühlen. Am Sonnabend kommt es zum Endspiel gegen Chile. Argentinier mögen Chilenen nicht, und Chilenen mögen Argentinier nicht. Diese zwei Nachbarn haben sich zu oft gestritten im 20. Jahrhundert, 1978 standen sie wegen irgendwelcher Inseln sogar kurz vor einem Krieg. Nun ja, ein Ausländer hält sich, wenn er klug ist, aus diesem quilombo2 komplett heraus. Unser aber sagt zweimal »Hurensöhne« und einmal »verdammte Scheißhurensöhne« – zum Glück klingt ja derlei auf Spanisch viel harmloser.
Der Blick der Erzieherin sieht das anders.
10.15 Uhr. Wieder zu Hause. Mate trinken. Zeitung lesen. Noch einmal die Tore vom 6:1 gucken. Und noch mal. Danach noch dreimal.
12 Uhr. Mittwochs endet der Unterricht nicht um 16 Uhr, sondern schon vier Stunden früher, und ich habe zugesagt, nicht nur meine Sechsjährige zur Geburtstagsfeier einer Mitschülerin zu fahren, sondern auch noch drei Freunde aus ihrer Klasse mitzunehmen. Ich stelle jetzt fest: Das war leichtsinnig. Aber es gibt kein Zurück mehr, zumal ich gestern vor den hübschen Müttern der drei Schreihälse auf Superheld gemacht habe: Ach was, gar kein Problem, das schaff ich locker.
Was Lautstärke und Selbstbewusstsein betrifft, entspricht ein argentinisches Kind übrigens zwölf bis 15 deutschen Kindern.
12.30 Uhr. Rrrrrrrrrrrrrraus mit euch!
Zurück zur Schule. Fünf Kilometer. Das müsste in einer halben Stunde zu schaffen sein – wenn ich zügig fahre.
13 Uhr. Das Fußballtraining des Neunjährigen ist gerade zu Ende gegangen, ich plaudere noch kurz mit Tomás, seinem Trainer. Wir sind uns nicht immer einig. Zum Beispiel sehe ich meinen Sohn eher zentral, in der Rolle des Spielgestalters, ausgestattet mit allen Freiheiten; sein Trainer findet, er sei für die Mannschaft als Beinesteller in der Abwehr wertvoller. Was allerdings die Chilenen angeht, sind wir hundertprozentig einer Meinung. Tomás urteilt nur nicht so sanft wie ich.
Hör mal, mein Sohn, wenn wir zu Hause sind, könnten wir vielleicht noch mal die Tore von gestern gucken. Was meinste? Und dann muss ich schon wieder los, um deine Schwester vom Kindergeburtstag abzu … warte mal, da winkt einer. Das ist doch der Dings, äh, der, wie?, ja, genau der, jetzt erkenn ich ihn auch: Ignacio, der chino. Der war heute in deiner Mannschaft, ne? Och, reg dich nicht gleich wieder auf, ich weiß, dass seine Eltern Taiwaner sind, nein, sie sind keine Taiwaner, sondern Argentinier, sie kommen nur aus Taiwan, Du hast Recht. Aber in Argentinien sind alle Asiaten Chinesen, weißt du doch.
Radio aus. Warnblinker an. Scheibe runter. Hola, ¿cómo andan? ¿Todo bien? Me alegro.3 Die beiden wollen bestimmt ein Stück mitgenommen werden. Oder? Nein, ja, vielleicht, im Prinzip schon, aber die Sache ist … Leute, ich stehe mitten auf der Straße, und das fühlt sich sehr chilenisch an. Der Typ im Rückspiegel ist schon rot angelaufen und steigt in spätestens 20 Sekunden aus. Immerhin wird er dann seine Hupe loslassen müssen. Was denn nun? Klartext, por favor. Und du pelotudo4 da, hör auf, mich zu beschimpfen, la puta que te parió5.
Bueno, die Mutter hat einen Arzttermin. Ignacio kann also gern mit zu uns kommen, für ein paar Stunden. Aber wenn es heute nicht passt, dann ein andermal, ich muss es nur sagen. Ach was, gar kein Problem. Ignacio sitzt ja ohnehin schon angeschnallt auf der Rückbank. Ich bin übrigens allein mit meinen drei Kindern!
15 Uhr. Die Route bislang: Wohnung → Kindergarten → Wohnung → Schule → Kindergeburtstag → Schule → Wohnung → Kindergeburtstag. Die harten Etappen sind damit überstanden. Jetzt rollen wir langsam aus: → Wohnung → Kindergarten → Wohnung. Zwischendurch wird hoffentlich der Chinese abgeholt, und wenn alle baden, bereite ich das Abendessen zu. Serviert wird die Spezialität des Hauses: Chicken Nuggets an Ketchup und Mayonnaise.
Hoppla, Facundo will mitfahren, er wird bei uns übernachten. Nein, das glaube ich nicht. Die Sechsjährige schwört aber, dass sie mir das gesagt habe. Wirklichwirklichwirklich.
Wann?
Vorhin.
Geht’s genauer, corazón6?
Im Auto.
Ach so, als die zwei Schulklassen aus Wuppertal auf meiner Rückbank saßen.
Wuppertal? Kennt sie nicht.
Ich meine: Als ihr so herrlich schräg gesungen habt, da irgendwann hast du‘s mir gesagt, ja?
Ja. Wirklich, Papi.
Mein Schatz, das war ein sehr günstiger Augenblick, um Papa eine solch wichtige Nachricht zu überbringen. Sind wir startklar? Auf geht’s! Nächster Halt: Wohnung.
Später am Abend, es ist schon tiefe Nacht in Buenos Aires: Vier Kinder sind eingeschlafen, man hört zwei von ihnen schnarchen. Ein gebückter Mann, schwer atmend, tritt vor den großen Spiegel im Bad, er macht sich unmerklich gerade und beginnt zu lächeln. So verharrt er minutenlang. Es sieht aus, als bewundere er sich selbst, aber nein, das bilden wir uns sicher nur ein.