Ich hätte nicht Urlaub in Deutschland machen sollen. Verwandte, Bekannte und sogenannte Freunde wollten mit mir, dem Mann aus Buenos Aires, dauernd über das WM-Finale reden, obwohl ich Schwächen habe, was die Analyse betrifft. Bis heute habe ich weder einen Spielbericht gelesen noch Ausschnitte angeschaut, ich verarbeite Argentiniens Niederlage anders und vielleicht auch gar nicht. Nachts träume ich jedenfalls gern, wie Nationaltrainer Alejandro Sabella mich statt Rodrigo Palacio einwechselt und Leo Messi mir in der 112. Minute den Ball zupasst. Beinschuss für Manuel Neuer, darunter mache ich es nie. Ein paar Minuten später sind wir zum dritten Mal nach 1978 und 1986 Weltmeister!

Im Hof

Eine Woche vor unserer Rückkehr nach Buenos Aires habe ich dann in unserem Berliner Mietshaus einen Mann getroffen. Er fragte, wohin er den Müll bringen könne, er sprach Englisch mit spanischem Akzent. An der Mülltonne machten wir uns miteinander bekannt. Er erzählte, dass er vor ein paar Monaten entschieden habe, mit seiner Familie von Madrid nach Berlin umzusiedeln, und zwar für immer. Ich fragte, wie gut sein Deutsch sei, und er sagte: »Danke. Bitte. Guten Tag. Santiago. Mein Name.«

Ein Deutscher, der beschließt, für immer nach Spanien auszuwandern, hätte unter Garantie vorab hundert Stunden Abendkurs an der Volkshochschule belegt. Santiago war mir sofort sympathisch.

Wir riefen die Familien hinunter zur Mülltonne, ich schenkte Santiago einen Schal seines Lieblingsklubs Atlético Madrid, den ich vor 15 Jahren gekauft hatte, und er übergab mir eine Flasche Rotwein, mitgebracht aus Spanien. »Unser Wein, der hier verkauft wird, schmeckt fürchterlich«, sagte er.

Sieben Kinder – vier von ihm, drei von mir – hatten inzwischen auf dem Hof eine Kette gebildet, um das Wasser aus der Regentonne in den ausgetrockneten Teich zu befördern. Unsere Frauen redeten über Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Es wurde schon dunkel, und die Gardinen der Nachbarn bewegten sich.

Santiago erzählte, dass er für einen großen deutschen Technologiekonzern arbeite, er reise viel umher, China, Dubai, Kolumbien, Singapur.
»Argentinien?«
»Nein. Aber ich habe ein paar Freunde in Argentinien.«
»Ein großartiges Volk, ein tolles Land, nicht wahr?«
Ich verstand nicht alles, was er dann sagte, aber seine Begeisterung erschien mir ausbaufähig.

Straßenszene aus Buenos Aires

Auch Santiagos Frau – »Ische. Eiße. Carla. Zahn. Arztin.« – hatte die Madrider Volkshochschule ausgelassen und brauchte jetzt eine Dolmetscherin. Unsere Frauen stellten sich in Berliner Kindergärten vor, buchten einen Sprach- und Integrationskurs, kauften Schulhefte, telefonierten mit Behörden und brachten Carlas Fahrrad, das ich zunächst – wohl weil Carla gut aussieht – selbst zu reparieren versucht hatte, in die Werkstatt.

Ich half Santiago beim Einräumen der Wohnung. Wir trugen Kleinkram aus seinem Auto, und einmal zeigte ich nach links und sagte, diese Eckkneipe dort sei eine typische Berliner Eckkneipe, woraufhin Santiago direkt abbog, und schwupp, hockten wir am Tresen. Es war kurz nach 15 Uhr, und ringsum saßen tatsächlich noch andere Männer. Wir verbuchten die vier Berliner Kindl, die jeder von uns trank, als Integration.

Am dritten Tag vergaß ich, Santiago mit He Schwachkopf! (¡Che boludo!) zu begrüßen, wie das in Argentinien üblich ist; ich nannte ihn nur noch selten Alter oder Dicker, und sein kleiner Sohn hieß nicht mehr Verrückter, komm mal her!, sondern hatte einen Namen (auf den er genauso schlecht hörte). Ich begann, das C zu lispeln. Ich sagte coche statt auto (Auto), mantequilla statt manteca (Butter) und statt vos (du). Mein Straßenargentinisch verwandelte sich in das Kolonialherrenspanisch, mit dem sich Marc Koch, der zu lange in Madrid gelebt hat, seit Jahren in Buenos Aires durchschlägt.

 

Am Abend vor unserem Rückflug luden uns die Spanier zu sich ein. Als wir um halb zehn hungrig eintrafen, schälte Santiago zur Musik des Venezulaners Edgard Serrano Kartoffeln für die Tortilla. Unsere Frauen redeten über Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Unsere Kinder – seine vier, meine drei – spielten Fangen und Verstecken. Serrano sang lauter und lauter. Um kurz nach halb elf klingelte die Nachbarin aus der Wohnung darunter und bat um Ruhe. Carla und Santiago konnten das kaum verstehen. Halb elf! Freitagabend! Kinder!

Die Argentinier, denen ich später davon erzählt habe, waren sogar richtig empört. Was für ein herzloses, ungeselliges Volk! Aber seit dem 13. Juli 2014 und der einhundertdreizehntesten Minute der WM-Geschichte machen die Deutschen ja sowieso alles falsch.