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Der überfragte Pablo

von CHRISTOPH WESEMANN

Pablo ist mein Wirklichkeitserklärer. Wenn ich etwas über Argentinien oder Buenos Aires wissen will, gehe ich nicht mehr zu Google, sondern zu Pablo. Die Trefferquote ist in Ordnung. Manchmal fühle ich mich sogar wie ein Argentinier. Das politische Geschehen zum Beispiel kann mir Pablo exakt so erklären, dass ich es nicht verstehe. Klar, er hat auch Wissenslücken. Ich habe ihn mal nach Bettina Wulffs Vergangenheit gefragt, das war eher nicht so ergiebig. Und ja, manche Antwort scheint mir ein bisschen kurz geraten. Andererseits, Freunde, ich schreibe Kolumnen, in meinem Scherzzeugkasten ist kein Platz für Komplexität.

Neulich sollte mir Pablo sagen, warum sich der Verkehr in Buenos Aires an vielen Stellen staut. Ich weiß nicht, welche Antwort ich mir erhofft hatte – jedenfalls nicht die, die mir Pablo gab. Er sagte: »Viele Autos.« Danach habe ich erst mal mich selbst gefragt, ich wollte von mir wissen, ob ich vielleicht nerve. Meine Antwort an mich war: Nein.

Manchen Fragen kann ich nun einmal nicht ausweichen. Wenn ich in Buenos Aires unterwegs bin, sehe ich einen Supermarkt nach dem anderen, und alle sind in chinesischer Hand. Der Fleischverkäufer, die Kassiererin, der Mann an der Obstwaage – alle Chinesen. Und sie sprechen das Castellano, das südamerikanische Spanisch, besser als ich. Dazu gibt es noch viele chinesische Restaurants in Buenos Aires. Ich sehe überall Chinesen. Warum? So etwas beschäftigt mich.

Pablo sagte: »Viele Chinesen.«
»Hmmh.«
»Das ist die Antwort, Nachbar. Es gibt einfach viele Chinesen. Einskommairgendwas Milliarden.«

Strichmännchen

Eine andere Frage, die mich verfolgt, ist: Warum fahren Argentinier zwischen zwei Spuren und machen so das Überholen unmöglich? Ich muss zweimal pro Woche in die Avenida Rivadavia, die angeblich längste Straße der Welt. Meine Navigation prophezeit mir die Ankunft in 16 Minuten. Die erste Viertelstunde verbringe ich damit, mich über die Leute zu erregen, die hupen, obwohl das überhaupt nichts bringt. Danach beginnen die Kinder, mich unter Druck zu setzen. Wenn sich nichts bewegt, obwohl die Ampel grün ist, rufen sie: »Hup doch mal!«

Inzwischen gelingt es mir, diesen Satz fünfmal zu ignorieren.

In der rechten Spur schleichen die Taxifahrer auf der Suche nach Kunden, in der linken Spur wird zweitereihegeparkt, um schnell etwas einzukaufen, wobei auch das nicht schnell geht. Man biegt ab, ohne zu blinken, und schaltet das Warnblinklicht ein, bevor man hält. Ich könnte rückwärts laufen und wäre nicht langsamer. Nach 35, 40 Minuten brauche ich die Kinder nicht mehr als Anstifter. Ich lasse die Hupe kaum noch los. Und soll mir bloß keiner sagen, das bringe nichts. Es bringt was.

Dass Argentinier auf zwei Spuren fahren, würde mich wahrscheinlicher weniger beschäftigen, wenn’s nicht ansteckend wäre.

Ich habe zunächst Señor G. gefragt, einen Paraguayer, den ich zufällig getroffen hatte und der schon lange in Buenos Aires lebt. Er schien sich über meine Frage sehr zu freuen. Er hat jedenfalls weit ausgeholt und mir zwanzig Minuten lang erklärt, warum der Argentinier zu den eher unsympathischen Wesen auf dem Kontinent gehöre. Weitere zehn Minuten hat er sich abfällig über Porteños, die Hauptstädter, geäußert.

Um sowohl das Verhältnis Argentiniens zu mir als auch zu Paraguay nicht zu belasten, halte ich es für sinnvoll, den Monolog zu zensieren. Zitiert werden dürfen folgende zwei Sätze von Señor G.: »Argentinier wollen sich immer, in allen Lebenslagen, alle Optionen offenhalten. Sie sind Opportunisten.«

Mit diesem Recherchematerial habe ich mich zu Pablo begeben. Um den erhobenen Datensatz, also die Antworten, vergleichen zu können, achtete ich darauf, ihm die Frage genau so zu stellen, wie ich sie Señor G. gestellt hatte: gleiche Wörter, gleicher Tonfall.

»Du meinst diese Linien auf der Straße, diese weißen Striche, ja?«, fragte Pablo.
»Bitte beantworte nur meine Frage.«
»Das sind doch bloß Empfehlungen.«

Und so wie gefahren wird, wird auch gesprochen. Ich spreche ja nach wie vor ein sehr sauberes Oberschichtenspanisch. Ich habe zwar den Wortschatz eines Zweijährigen, halte mich aber an alle grammatischen Regeln. Über das Nichts kann ich druckreif reden.

In der Spanischschule habe ich gelernt, dass der Porteño das s vor Konsonanten und auch am Ende eines Wortes oft verschluckt, vernuschelt und verschweigt. Ich höre das auch die ganze Zeit. Ich gehe ins Café und bestelle drei Croissants. Ich sage: »Tres medialunas!«
Antwort des Kellners: »Bueno. Tre medialuna.«

Kein Porteño versteht, was ich mit dem fehlenden S von ihm will. Pablo sagt jedes Mal: »Weiß echt nicht, was du meinst, Krietoff.«

 

Kaufland

von CHRISTOPH WESEMANN

Eine Freude ist das Einkaufen in Buenos Aires nicht. Dabei sind die Supermärkte hübsch und modern und saubern, und wenn sie das nicht sind, gehören sie meistens den Chinesen und sind wenigstens klein. Ich habe bisher auch nicht gemerkt, dass mir etwas fehlt, das ich aus Deutschland kenne und schätze. Es gibt sogar deutsche Bratwürste, ich habe sie nicht gleich erkannt, aber wahrscheinlich geht es dem Argentinier genauso, wenn er irgendwo in der Mitte Berlins ein schweineteures Rindersteak aus der Pampa seiner Heimat bestellt und eine Münze Fleisch bekommt. Hier isst man ja nicht unter 450 Gramm.

Was nervt, ist allein, dass jeder Einkauf zu einer Art Tagesausflug gerät, was übrigens auch an den Kunden liegt. Die haben hier nämlich mindestens fünf Bank- und sonstige Plastikkarten dabei, von denen zwei grundsätzlich nicht funktionieren und zwei andere nur dazu dienen, Punkte oder irgendetwas anderes zu sammeln, das der Argentinische Supermarktgeheimdienst ASGD) gerne schnüffelt. Wenn man nicht aufpasst, schläft man vor Erschöpfung im Stehen ein, kippt nach vorne und weckt den Wartenden vor einem auf. Und zum Schluss wird noch eine Zeitung gedruckt, ach nein, das ist nur ein halber Meter Rabattmarken. Könnte ich auch mal verlosen.

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)