Pablo, der Russe und eine fernsehsüchtige Präsidentin
von CHRISTOPH WESEMANN
Neulich hat mein Nachbar Pablo geklingelt und mich um einen Kochtopf gebeten. Um genau zu sein, hat er gesagt: »Dodó, rück mal einen Kochtopf raus. Am besten einen großen. Ich will Spaghetti machen. Kriegst du vielleicht auch wieder.«
»Können Sie bitte …«, »Würdest du vielleicht …«, »Ich hätte gern …« – so reden nur Ausländer. Porteños sind Freunde klarer Befehle. Und den Spitznamen hat sich Pablo für mich ausgedacht, weil mein Spanisch angeblich klingt wie das von Dodó, dem Assistenten von »Inspektor Clouseau«. Wenn ihm mein Akzent zu französisch wird, also ungefähr nach jedem dritten Satz, den ich sage, zitiert Pablo den Zeichentrickdetektiv: »¡No digas si, Dodó, di oui!« – »Sag nicht si, Dodó, sag oui.« Er findet das wahnsinnig witzig.
Nur seinen Freunden stellt er mich nicht als Dodó vor. Da bin ich, seit ich ihm erzählt habe, dass ich eine Weile in der Ukraine gelebt hätte, »el ruso«. Klar ist das geografisch und historisch ein wenig ungenau. Aber Europa, und erst recht dessen Osten, liegt auch nicht gerade um die Ecke. Und wie viele Deutsche wiederum können Venezuela von Ecuador unterscheiden?
Vorgestellt werde ich übrigens so:
»Daniel, findest du nicht auch, dass der Russe wie ein Franzose Spanisch spricht?«
»Also wenn du mich fragst, Pablito, schlimmer als Dodó.«
»Das habt ihr doch geprobt, oder?«, frage ich.
Und dann rufen zwei Porteños gemeinsam: »¡No digas si, Dodó, di oui!«
Weil es mit meinem Spanisch nicht schnell genug vorangeht, bin ich dazu übergegangen, die Zeit, die ich schon in Buenos Aires lebe, zu verkürzen, und Wörter, die ich nicht kenne, zu umschreiben. Neulich wusste ich nicht, was »Zitronenpresse« heißt, wollte aber unbedingt eine kaufen.
»Ich brauche so ein Ding, um Saft aus einer Zitrone zu machen«, sagte ich zum Verkäufer und bewegte meinen Arm wie anno siebenundachtzig, als mir auf dem Rummel der Einarmige Bandit mein ganzes Taschengeld abgenommen hatte.
»Exprimidor?«, fragte der Verkäufer.
»Kann sein.«
»Exprimidor!«, sagte er und spielte für einen Augenblick auch an einem unsichtbaren Einarmigen Banditen.
»Ja!«, rief ich. »Verzeihung, ich lebe erst seit zwei Wochen hier und lerne die Sprache noch.«
»Erst zwei Wochen? Mann, dein Spanisch ist toll.«
»Danke.«
Wenn ich weiter so schleppend lerne und deshalb meine Ankunft in Buenos Aires noch mehr vorverlegen muss, kaufe ich bei dem Mann bald einen Mixer und bin eigentlich noch gar nicht da.
Auch für die Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat Pablo einen Spitznamen. Er nennt sie immer nur: la Señora Botox. Pablo mag nichts an ihr. Es stört ihn alles, und keineswegs bloß das, was inzwischen ziemlich vielen auf die Nerven zu gehen scheint: die aufgespritzten Lippen, die langen Reden, die schwarzen Kleider, die sie aus Trauer um ihren vor fast zwei Jahren verstorbenen Mann noch immer trägt, natürlich paillettenbesetzt, die Tränen, die sie seinetwegen weint. Pablo fühlt sich auch von ihrer Politik, den immer neuen Gesetzen, gegängelt und kontrolliert.
Angesichts einer Inflation von 20 bis 30 Prozent ist es zum Volkssport geworden, Peso in Dollar umzutauschen, wogegen Cristina, die oberste Argentinierin, aus fiskalpolitisch verständlichen Gründen etwas hat. Zum offiziell festgelegten Wechselkurs von viereinhalb Pesos für einen Dollar kriegt man ohnehin nichts mehr. Also tauscht man auf dem Schwarzmarkt an der Straßenecke für 6,35 Pesos »blue dollar« oder reist ins Ausland. Oder man bedrängt den Nachbarn, der Ausländer ist, doch endlich mal Dollar aus der Heimat zu besorgen. Mein Glück ist, dass mich bislang niemand aus Deutschland besucht hat, ich weiß aber nicht, wie lange ich Pablo noch hinhalten kann, zumal das mit dem Ausland gerade wieder schwieriger geworden ist: Wer nämlich dort mit seiner Kreditkarte bezahlt oder auch nur für die nächste USA-Reise im Internet einen Mietwagen bestellt und die Kosten von seinem Pesokonto abbuchen lässt, dem nehmen die Banken neuerdings zusätzlich 15 Prozent ab.
Es wäre wirklich hilfreich für mein Verhältnis zu Pablo, wenn endlich jemand zu Besuch käme.
Die Präsidentin hat in diesem Jahr bereits 17-mal, insgesamt 15 Stunden, elf Minuten und 38 Sekunden, im Fernsehen zu ihrem Volk geredet. Laut Verfassung soll die TV-Ansprache des Staatsoberhauptes eine Ausnahme sein, eine Sache für den Ernstfall. Und die staatlichen Sender müssen übertragen, obwohl Cristina eine Quotenkillerin ist. Als sie neulich zum »Tag der Industrie« um kurz vor halb elf – nachts, wohlgemerkt – zu reden begann, lief in jedem zweiten argentinischen Haushalt ein öffentlicher Kanal. Die Sender unterbrachen das Programm, um die Präsidentin zu zeigen, und eine Viertelstunde später schauten nur noch 36 Prozent zu. Frau Kirchner sprach eine Stunde und vier Minuten. Pressekonferenzen und Interviews gibt sie selten bis nie.
Ich hätte die Rede fast verschlafen, wenn mich nicht ein ungeheurer Lärm geweckt hätte. Er schien von draußen zu kommen. Ich taumelte aus dem Bett, um nachzuschauen, was los sei. Auf dem Weg zum Balkon wurde der Lärm klarer: Ich erlebte zum ersten Mal cacerolazo, den berühmten Protest der argentinischen Mittelschicht gegen die Politik, populär geworden in der großen, auch blutigen Staatskrise Ende 2001, als zwei Tage geplündert wurde und 28 Menschen starben.
Auf dem Balkon über meinem stand Pablo und schlug auf einen Kochtopf. Als er mich im Schlafanzug entdeckte, schrie er: »Hast du nicht mitbekommen, dass bei Facebook aufgerufen wurde, die Rede der La Señora Botox zu stören?«
»Pablo, ist das mein …«
»Ich verstehe dich nicht, ist so laut hier. Wir haben es satt …«
»… Kochtopf?«
» … sie ständig im Fernsehen zu sehen.«
»Wolltest du nicht Spaghetti kochen?«
»Die haben einfach meine Serie unterbrochen.«
»Paaaaaabloooooooooo, ist das mein Kochtopf?«
»Ja natürlich, denkst du denn, ich nehme für diese Frau meinen, Doooooooodóóóóóóóóóóóóóó?«