Heute vor elf Jahren: Der Präsident räumt in der Geschichte auf
von CHRISTOPH WESEMANN
Eines der berühmtesten Fotos des kirchneristischen Narrativs stammt vom 24. März 2004. Es zeigt Präsident Néstor Kirchner, wie er am Jahrestag des Staatsstreiches von 1976 in der Militärschule die Porträts der Ex-Diktatoren Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone von der Wand nehmen lässt. Kirchner, zehn Monate im Amt, verurteilt die Diktatur als Staatsterrorismus gegen das argentinische Volk. Vor allem aber gelingt ihm eine besonders symbolträchtige Geste, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben wird.
Denn erstens bekräftigt Kirchner, als er die Bilder abnehmen lässt, seinen Willen, die Täter juristisch nicht länger zu schonen. Das Bekenntnis zu den Menschenrechten gehört zu den unauslöschlichen Grundsätzen kirchneristischer Ideologie – nun wird es besiegelt. Im Alltag und im Wahlkampf spielt dieses Bekenntis zwar kaum eine Rolle. Nach innen, als Band innerhalb der Bewegung, hat es indes eine besondere Bedeutung. Zweitens geht der neue Präsident auf Abstand zum Staat, der nicht nur in der Diktatur versagt hatte, sondern als Folge des Zusammenbruchs von 2001 noch immer eine »massive Ablehnung des gesamten politischen Establishments«1 erlebt: Nur noch sieben Prozent der Argentinier geben in Umfragen an, der gesetzgebenden Gewalt (poder legislativo) zu vertrauen – 1984 waren es noch 73 Prozent gewesen. Drittens grenzt er sich von Carlos Menem ab, der als Präsident (1989 bis 1999) die Aufklärung der Diktatur aufgab und Videla und andere hochrangige Militärs begnadigte. Er war zudem mitverantwortlich für die Ende der neunziger Jahre aufziehende ökonomische und institutionelle Krise.
Kirchner, einst peronistischer Gouverneur der patagonischen Provinz Santa Cruz, wurde 2003 mit gerade einmal 22 Prozent der Stimmen Präsident. Ins Amt gelangte er als Kandidat des Anti-Menemismus, »als geringeres Übel«2 – einer Mehrheit war vor allem wichtig gewesen, nicht ein drittes Mal von Menem regiert zu werden. Der Ex-Präsident hatte den ersten Wahlgang knapp gewonnen, dann aber angesichts schlechter Umfragewerte auf die Stichwahl verzichtet und so den Weg für Kirchner freigemacht. Der Sieger propagierte weiter eine Politik der Entmenemisierung und begann auch entsprechende Reformen, hob die Amnestiegesetze auf und erneuerte die Führung von Justiz, Polizei und Militär. Das stabile Wirtschaftswachstum von mehr als acht Prozent jährlich ermöglichte eine expansive Ausgabenpolitik, die sich deutlich unterschied vom neoliberalen Modell. Seine persönlichen Zustimmungswerte erreichten zeitweise fast 80 Prozent; sie lagen damit weit über denen anderer Politiker und aller demokratischen Institutionen.3
Néstor Kirchner inszenierte sich als Regierungschef, der die Forderungen der Massenproteste von 2001 aufgreift und Argentinien nach links führt; ein Kurs, der den Tod des Anführers 2010 überlebt hat und heute von seiner Nachmieterin im Präsidentenpalast, Cristina Kirchner, vertreten wird, »auch wenn es sich teilweise um Rhetorik handelt«4. So entstand eine Bewegung, die wie keine andere seit dem Ur-Peronismus der vierziger und fünfziger Jahre Argentinien verändert hat, nach Hegemonie strebt und polarisiert.
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Der Kirchnerismus selbst versteht sich als Nachfolger der setentistas, des national-revolutionären Flügels des Peronismus der siebziger Jahre. In dieser Zeit hatten linke und rechte Peronisten um die Vorherrschaft gerungen, teilweise mit Waffengewalt. Die Montoneros, eine peronistische Guerillaorganisation, hatten damals eine nationale sozialistische Republik erkämpfen wollen. Als Juan Domingo Perón 1973 nach 18 Jahren aus dem Exil zurückkehrte, kam es am internationalen Flughafen von Buenos Aires zu einem Blutbad zwischen beiden Lagern. Perón selbst verweigerte sich dem Linksruck. Er war mit 62 Prozent zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt worden, besaß aber, bereits alt und gebrechlich, nicht mehr die einstige Autorität.
Nach seinem Tod gab die Regierung, nun angeführt von Peróns dritter Frau Isabel, der Armee den Auftrag, die Guerilleros zu bekämpfen. Am Ende stand die Militärdiktatur, von der sich viele eine neue Ordnung nach dem Chaos der Gewalt auf den Straßen versprachen. Die Montoneros gehörten zu den Verlierern und Opfern dieses schmutziges Krieges, den Argentinien von 1976 bis 1983 erlebte.
20 Jahre später waren sie es, denen Néstor Kirchner das Gefühl gab, sie zählten zu den »Gewinnern der Geschichte«5. Kinder der Montoneros und der sogenannten desaparecidos (Verschwundenen) wurden Stützen der Regierung, gelangten über kirchneristische Nachwuchsorganisationen wie La Cámpora in Führungspositionen von Verwaltung, Staat und Staatsunternehmen oder wurden Parlamentsabgeordnete.6
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Im Innersten ist der Kirchnerismus eine verspätete Bewegung, die nachzuholen verspricht, was einst gescheitert ist. Sie verheißt Wiedergutmachung, auch materiell. Das macht sie so attraktiv für frühere Montoneros und deren Nachwuchs, für Menschenrechtsaktivisten und Anhänger der verblühten Piquetero-Bewegung7. Die Hoffnung auf Einfluss und Vorteile hält die Kirchneristen wesentlich zusammen. »Durch die Kirchners regiert in Argentinien heute der intellektuelle Linksperonismus der Siebzigerjahre.«
Dass die Kirchners tatsächlich aus Überzeugung links waren und sind, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Es könnte auch der pure Pragmatismus sein, eine Orientierung am politischen Zeitgeist, eine bloße Machtstrategie. Es wird gern daran erinnert, dass Néstor Kirchner vor seiner Präsidentschaft weder Interesse an den Menschenrechten noch an den Müttern der Plaza de Mayo gezeigt habe, jener Organisation, die zur Garantie seiner Legitimität wurde.
Im April 1977 hatten sich die Frauen mit den weißen Kopftüchern zum ersten Mal vor dem Präsidentenpalast versammelt, um schweigend an das Schicksal ihrer verschwundenen Söhne und Männer zu erinnern. Weltweit wurden sie für ihren Mut bewundert. In den vergangenen Jahren hat ihre Strahlkraft jedoch erheblich nachgelassen; man wirft ihnen vor, von der Treue zur Regierung auch finanziell erheblich zu profitieren. Umstritten ist vor allem die Anführerin Hebe de Bonafini, eine radikale Linke, die für die kubanische Revolution schwärmt, die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) bejubelte und über die Anschläge vom 11. September 2001 sagte, diese hätten ihr »überhaupt nicht wehgetan«. Zudem bereicherten sich – angeblich ohne Wissen Bonafinis – leitende Angestellte der Organisation beim sozialen Wohnungsbau in den Elendsvierteln, den die Regierung den Müttern überlassen hatte.
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Der Journalist James Neilson bezweifelt, dass es zwischen den vier großen Caudillos des Peronismus – Perón, Menem, Néstor und Cristina Kirchner – große Unterschiede gebe:
Alle sind Opportunisten gewesen. Ihre vermutlichen Überzeugungen hatten mehr mit den Umständen zu tun, die sie vorgefunden haben, als mit irgendwelchen unverzichtbaren Prinzipien, die zu haben sie schworen.8
Neilson spekuliert, dass Perón der Labour-Partei nachgeeifert hätte, wäre er erst 1950 und nicht schon 1946 Präsident geworden; Menem sei an die Macht gekommen, als in den neunziger Jahren der Neoliberalismus als »Zukunftswelle« gegolten habe.
Er hatte vor, auf ihr besser als irgendein anderer lateinamerikanischer Führer zu surfen. Die beiden Kirchners (…) hätten genauso gehandelt. Wenn Menem seine Präsidialkarriere 2003 begonnen hätte, würde er mit Krallen und Zähnen das heilige Modell der Inklusion verteidigen, zu dem sich Cristina weiter bekennt.9
Für einzigartig und innovativ hält den Kirchnerismus vor allem: der Kirchnerismus. Man sei mehr als eine Person, sagte Präsidentin Cristina Kirchner im Oktober 2013 in einem Fernsehinterview. »Das ist der Unterschied zu anderen politischen Richtungen, die der Peronismus angeführt hat und die auf einer Person beruhten, die später bedeutungslos wurde.«
- Wolff, Jonas: Vom »Argentinazo« zu Néstor Kirchner. Krisen und Überleben der argentinischen Demokratie (2001-2007), in: Birle, Peter/Carreras, Sandra (Hrsg.): Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität, Frankfurt am Main 2010, 55-72, S. 62. [↩]
- Ders., S. 63. [↩]
- Ders., S. 62-63. [↩]
- Werz, Nikolaus: Einleitung: Politische Gesichter Lateinamerikas, in: Ders. (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika. Frankfurt am Main 2010, 10-48, S. 90. [↩]
- Werz, Nikolaus: Argentinien, Schwalbach/Ts. 2012, S. 47. [↩]
- Di Marco, Laura: La Cámpora, Buenos Aires 2012. [↩]
- Piqueteros, abgeleitet von piquete (Streikposten) protestieren in Argentinien gegen Arbeitslosigkeit und schlechte Lebensverhältnisse, indem sie stunden-, manchmal tagelang wichtige Straßen blockieren und so den Verkehr aufhalten. [↩]
- Neilson, James: Perón y sus muchach@s, in: Noticia extra. 10 años de kircherismo, 2010, S. 32. [↩]
- Ders., S. 32 [↩]