Cristina Kirchner hat wieder heftig getwittert. Sie begann beim Tourismus (»Immer mehr Argentinier können ins Ausland reisen«) und dem Zementverbrauch im Oktober (1 139 197 Tonnen, Jahresrekord), um dann beides zu vermischen: »Den Zement bezahle ich mit Pesos, aber wenn ich ins Ausland fahre, was glaubst Du denn? Dass ich mit frittierten Kochbananenscheiben bezahle?«; sie landete danach beim Staatskonzern YPF (»eines der 2000 größten Unternehmen der Welt«) und abermals beim Tourismus (»Verzeih, dass ich darauf bestehe«); am Ende schließlich erzählte sie von Arturo Jauretche (»Egal, wenn Du ihn nicht kennst«), Bersuit (»die kennst Du sicher«, »eine der Bands, die mir am meisten gefällt«) und ihrem Sohn Máximo (»eines meiner Lieblingslieder mag er auch«).

Dienstagabend. 25 Minuten. 40 Tweets. Argentiniens Präsidentin.

Wenn nichts Dramatisches mehr passiert, gewinnt Mauricio Macri am 22. November die Stichwahl um die Präsidentschaft. Gleich fünf Umfragen zeigen, dass der liberal-konservative Hauptstadtbürgermeister den Rückstand von zweieinhalb Punkten aus dem ersten Wahlgang in einen Vorsprung verwandelt hat. Mal liegt er  sechs Punkte vor dem Regierungsmann Daniel Scioli, mal acht, bisweilen sind es sogar mehr als zehn. »Wär’s Fußball, würde man von einem Schützenfest sprechen«, schreibt Clarín.

Nun ist Argentinien eine der weltweit führenden Bühnen für große Dramen, und Umfragen werden am Río de la Plata gern bestellt, um Stimmungen zu machen statt sie zu messen. Dennoch spricht viel dafür, dass es kommt wie prognostiziert. Die Angstkampagne, die der Kirchnerismus nach dem für das Regierungslager enttäuschenden Wahlergebnis vom 25. Oktober ausgebrütet hatte, ist gescheitert. Dass sie nicht gestoppt wird, zeigt, wie ratlos die amtierende Präsidentin und ihre Leute sind. Am Sonntag treffen sich beiden Kandidaten zwar zum TV-Duell, aber Wunder sind auch da nicht zu erwarten. Sciolis Stärke ist das Zuschütten von Gräben, nicht das Ausheben, und unter den Rhetorikern gehört er zur Gattung der Einschläferer. Er wiederholt sich gern, und das mit monotoner Stimme. Die schwierigere Rolle hat er auch: Um seine Unabhängigkeit zu beteuern, muss er die Präsidentin mit Dreck bewerfen. Zu viel darf sie jedoch nicht abbekommen, schließlich ist er ihr Kandidat.

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> Cristina Kirchner und Daniel Scioli Foto: Casa Rosada

Immerhin, schaden kann sie ihm wohl kaum noch. Ihre große, besonders bizarre Rede am vorigen Freitag, als sie im Hauptstadtviertel Palermo den zweiten Abschnitt eines Wissenschafts- und Technologiezentrums einweihte, soll die letzte bis zur Stichwahl gewesen, und wenn wir ganz leise sind, können wir Scioli noch immer aufatmen hören. Die Amtsinhaberin darf jedenfalls in den kommenden eineinhalb Wochen nicht mehr im Fernsehen sprechen, wobei man besser nur kleine Beträge darauf setzt, dass sie sich an das Schweigegebot auch hält.

Diesmal hatte Kirchner etwas weiter hinten im Geschichtsbuch geblättert, um ihre Landsleute vor Mauricio Macri zu warnen. Nicht von Carlos Menem, dem neoliberalen Staatschef der Neunziger, erzählte sie, sondern von dessen Nachfolger, dem  einstigen Hauptstadtbürgermeister Fernando de la Rúa, der am 20. Dezember 2001 um 19.52 Uhr mit dem Hubschrauber aus der Casa Rosada getürmt war. Ein ewiges Bild im kollektiven Gedächtnis.

»Ich mache mir Sorgen, dass sich 2015 jemand, der genau die gleiche Vision hat und aus dem gleichen Amt kommt, auf den Präsidentenstuhl setzen könnte«, sagte Kirchner. Sie betätigte sich als Schwarzmalerin, es war der Versuch, in den Köpfen ein neues Schreckensgemälde erscheinen zu lassen: ein Land, das wieder brennt, ein Volk, das noch einmal seine Ersparnisse verliert, Proteste, Straßenschlachten, Plünderungen, Tote, und Macri macht den Abflug. Weil er einer von den anderen ist.

Tatsächlich hat seit der Gründung des Peronismus vor 70 Jahren kein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt einer anderen Partei seine Amtszeit zu Ende gebracht. Arturo Frondizi (1962) und Arturo Illia (1966) wurden aus dem Amt geputscht; Raúl Alfonsín stürzte 1989 über die Hyperinflation, de la Rúa über die aufziehende Staatspleite. Der letzte Nichtperonist, der durchgehalten hat, war Marcelo Torcuato de Alvear (1922 bis 1928), und auch er hinterließ eine Wirtschaftskrise, was zumindest von Traditionsbewusstsein zeugte.

Eine Schmutzkampagne allerdings bestritt Kirchner. Darunter »leidet diese Präsidentin tagtäglich«, sagte die Präsidentin und beklagte die vielen Berichte über ihre angebliche bipolare Störung. Sie dementierte sogleich, jedenfalls sollte es wohl ein Dementi sein: »Es heißt doch, Einstein war bipolar, nicht? Schau an. Wie schade, ich könnte Einstein ähneln, aber ich bin ja nicht bipolar.« Einmal zeigte sie gen Himmel, genau genommen hinauf zu den beiden argentinischen Satelliten, und verriet den aktuellen Aufenthaltsort ihres 2010 verstorbenen Mannes und Amtsvorgängers Néstor Kirchner. »Wisst ihr, wo er ist, wo er ist? Dort oben, bei Arsat-1 und Arsat-2, ist er«, rief sie, die Stimme auf Krächzen moduliert. »Er ist dort oben, wie ein kosmischer Glücksdrache.«

Und Scioli? Der hatte paar Tage lang vorgegeben, er werde sich von der Amtsinhaberin absetzen, um die antikirchneristischen Wähler zu verführen. »Más Scioli que nunca«, hieß die Parole. »Mehr Scioli als je zuvor.« Der einstige Motorbootrennfahrer redete über Tabuthemen (»Ich werde weder die Inflation noch die Armut abstreiten.«) und ging sogar so weit, den Kirchnerismus, der sich selbst für einzigartig hält, mit anderen auf eine Stufe zu stellen. »Ich glaube, wie bei jeder Regierung oder politischen Kraft gibt es Dinge, die er gut gemacht hat, und andere, bei denen er nicht die Erwartungen der Gesellschaft erfüllt hat«, sagte er. Eine Selbstbefreiung, endlich. Dann kam der Freitag, den Argentiniern erschien Cristina, und der Kandidat hatte es wieder nicht geschafft, den Termin mit ihr abzusagen.

Es war ein jämmerlicher Anblick: Scioli kaute an den Fingernägeln, er hielt den Kopf gesenkt und schien sich bisweilen in sich selbst verstecken zu wollen. Er sah aus wie ein ungezogener Schüler, der nachsitzen muss – und noch denkt: zu Recht. Offenbar kann oder darf oder will er sich nicht lösen. Man wüsste zu gern, was die Präsidentin gegen ihn in der Hand hat. Es muss allerhand sein.

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> Daniel Scioli                                           Foto: Scioli/Facebook

Die beiden verbindet ja ein schwer durchschaubares Verhältnis. Er ist Peronist wie sie und war von 2003 an vier Jahre lang Vizepräsident ihres Mannes. Danach gewann er zweimal die Gouverneurswahl in der Provinz Buenos Aires, und als Kirchner in die Casa Rosada einzog, begann sie mit ihm zu spielen. Warum? Weil sie es konnte. Wie viele andere Gouverneure brauchte er Geld aus ihrem Staatshaushalt; manchmal bekam er es, oft auch nicht, das hing von allerlei ab, meistens von der Laune der Präsidentin, auch da erging es ihm wie dem Rest der Provinzfürsten und Bürgermeister im Land.

Vor zweieinhalb Jahren stand Scioli kurz vor dem Gang in die Opposition. Er verhandelte mit dem peronistischen Rebellen Sergio Massa über eine Allianz für die Parlamentswahl. Man war sich schon einig, und dann sagte Scioli doch noch ab, was auch erklärt, warum er in diesen Tagen keine Unterstützung von Massa erhält, dem Drittplatzierten des ersten Wahlgangs. Kirchner hat diesen Verrat ohnehin nicht vergessen.

Wen die Präsidentin öffentlich zusammenfaltet, der gewinnt an Ansehen, so verrückt ist die argentinische Politik. Jahrelang hat sich Scioli von ihr schikanieren lassen − und davon profitiert, weil er als Kontrast wahrgenommen wurde. Doch seit sie ihm die Nachfolge angeboten hat, darf sie nicht mehr schlecht über ihn reden. Und da ihr Gutes nicht einfällt, das sie sagen könnte, ist jetzt Mauricio Macri ihr Opfer.

Auch dem bekommt das gut. Schon früh haben ihn seine Berater gedrängt, dem Duell mit der Präsidentin auszuweichen. Den Kirchnerismus darf er attackieren, dessen Chefin nicht. Angriffe hat er inzwischen fast eingestellt, er führt ja und kann sich aufs Verteidigen beschränken. Jetzt ist er der Kandidat, den man wählt, um Argentinien von Kirchner zu erlösen. Auch das erklärt die steigende Popularität des einstigen Präsidenten der Boca Juniors (1995 bis 2008).

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> Mauricio Macri                                        Foto: Macri/Facebook

Acht Jahre schon lauscht das Land dieser Präsidentin, und sie redet heute ja mehr denn je. Sie hört auch nicht auf zu drohen, sie genießt es, Furcht zu verbreiten. Giftig und verbissen, auch gehässig sind ihre Reden. Bisweilen dringt sie sogar − wie auf der Suche nach Néstor − in Sphären vor, die Zuhörern ohne Esoterik-Diplom verschlossen bleiben. Offen ist, ob solche Ausflüge geplant sind oder die Präsidentin improvisiert, weil sie gerade den Faden verloren hat (und schon vor langer Zeit die Kunst der kurzen Rede).

Macri spricht bekömmlicher. »No tengamos miedo«, ist einer seiner Standardsätze. »Lasst uns keine Angst haben.« Wo er auftritt, ist die Welt bunt und gut drauf, manchmal sieht man den Kandidaten vor lauter Luftballons nicht. Wahlkampf mit den Mitteln eines Kindergeburtstages. Gespart wird an den Inhalten. Zu den heiklen Themen schweigt Macri, »keine Wellen machen«, heißt die Strategie. Was mit den Renten passieren soll, dem Dollar, den vielen Staatshilfen, den teuren Fußball-Liveübertragungen − alles nach wie vor unklar. Macri verspricht vor allem, was populär ist: Investionen in Schulen, Polizei und Straßen, einen harten Kampf gegen Armut, Drogenhandel und Kriminalität, dazu mehr Flugrouten, damit das Staatsunternehmen Aerolíneas Argentinas weniger Verluste macht.

Aber er droht eben auch nicht, und das ist im Kirchnerland schon viel.

Sogar das, was Argentinier liderazgo nennen, die Tauglichkeit für Führungsaufgaben, bescheinigt ihm Kirchner, die Nummer eins im Land, neuerdings in fast jeder Ansprache. Wenn sie ihn fürchtet, muss er ja stark sein. Bei Daniel Scioli ist mittlerweile der Eindruck: Der braucht Hilfe. Und eine große Schwäche für schwache Politiker haben Argentinier nicht.

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